Eine Pionierin der abstrakten Kunst

Julia Voss erkundet Leben und Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor ihrem Tod im Jahr 1944 legte die 1862 auf Schloss Karlsberg in Schweden als Kind einer Familie von Marineoffizieren geborene Hilma af Klint testamentarisch fest, dass ihr hinterlassenes Werk erst 20 Jahre später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Ab den 1980er Jahren machte die internationale Museums- und Kunstwelt auf die Initiative ihres Landsmannes, des Kunsthistorikers Åke Fant, hin in mehreren aufsehenerregenden Ausstellungen mit ihrem Œuvre Bekanntschaft: 

Man entdeckte in ihr eine Pionierin der abstrakten Malerei, deren Werk durch okkulte und spiritistische Eingebungen angeregt wurde. Hiermit wurde gleichzeitig deutlich, dass Frauen von Anfang an Teil bzw. sogar Vorläuferinnen der künstlerischen Avantgarden gewesen waren, denn während Klint ihr erstes ungegenständliches Gemälde bereits 1906 geschaffen hatte, stammt das erste abstrakte Werk von Wassily Kandinsky dagegen erst von 1911. 

Nachdem 1986 die Ausstellung „The Spiritual in Art“ mit Stationen in Los Angeles, Chicago und Den Haag den Anfang gemacht hatte, folgte 1995 eine weitere Ausstellung unter dem Titel „Okkultismus und Avantgarde“ in Frankfurt am Main. 2013 ab es eine große Retrospektive von Klints Werk im Moderna Museet in Stockholm, die anschließend Stationen in mehreren europäischen Ländern durchlief. Eine Retrospektive, die vor zwei Jahren im Guggenheim Museum in New York stattfand, geriet zur besucherstärksten Ausstellung dieses Museums seit seiner Eröffnung. Im selben Jahr wurde ein Dokumentarfilm über das Leben Klints mit dem Titel „Jenseits des Sichtbaren“ unter der Regie von Halina Dryschka gedreht.

Die Autorin Julia Voss war zunächst als stellvertretende Leiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig und bekleidet seit 2015 eine Honorarprofessur an der Leuphana Universität in Lüneburg. Sie hat in enger Zusammenarbeit mit der von Klints Neffen Erik af Klint und den schwedischen Anthroposophen 1972 gegründeten „Stiftelsen Hilma af Klints Verk“ ihr umfangreiches künstlerisches Werk und ihre 26.000 Seiten umfassenden schriftlichen Aufzeichnungen ausgewertet und zu einer anschaulichen und gut lesbaren Romanbiografie mit zahlreichen qualitätsvollen Abbildungen ihrer Werke in Schwarz-Weiß und Farbe aufgearbeitet, welche dieses plausibel mit ihrem intellektuellen und historischen Umfeld erklärt. Lobend hervorzuheben ist dabei, dass die Autorin sich jeglicher Wertung und Interpretation enthält, was die Inspiration der Künstlerin durch höhere Mächte anbetrifft, sondern diese nüchtern und sachlich anhand von Klints Notizbüchern beschreibt.

Schon eingangs benennt sie die charakteristischen Schwierigkeiten, denen sich Klint als Abkömmling einer adeligen Familie und in ihrer Rolle als Frau bei der Verwirklichung ihrer Berufung als Malerin ausgesetzt sah: Diese war als Broterwerb einerseits nicht standesgemäß für eine Adelige und andererseits kein angemessenes Betätigungsfeld für eine Frau. Dennoch absolvierte sie als Teilnehmerin des zweiten Jahrganges von Frauen, die überhaupt hierzu zugelassen wurden, zwischen 1882 und 1887 erfolgreich ein Studium an der „Königlichen Akademie der freien Künste“ in Stockholm. Zuvor hatte sie zwischen 1880 und 1882 bei Kerstin Cardon an der Kunsthochschule Porträtmalerei studiert.

Nachdem sie mehrere Jahre mit Landschaftsdarstellungen und Porträts in konventioneller Manier sowie, gemeinsam mit ihrer Freundin Anna Cassel, als Illustratorin einer Schrift über die Behandlung von Pferdekrankheiten ihren Lebensunterhalt verdient hatte, gelang ihr ab 1906 der Durchbruch zur abstrakten Malerei. Regelmäßig hatte sie an spiritistischen Sitzungen von Frauen teilgenommen, in denen sie als Medium bei der Anrufung Verstorbener diente und entsprechende Botschaften empfing, die sie aufzeichnete. Mit diesen Kreisen war sie um die Jahrhundertwende durch ihre Mentorin Bertha Valerius und Huldine Beamish, die spätere Gründerin des „Edelweissförbundet“, in Kontakt gekommen. Die Beschäftigung mit der Theosophie war durch die Geheimlehren ihrer Gründerin Helena Petrovna Blavatsky um die Jahrhundertwende besonders unter Frauen sehr populär geworden. Später nahm Klint an den Séancen der nach der Zahl ihrer Teilnehmerinnen „Fünf“ und „Dreizehn“ benannten Zirkel teil, die sich wegen Eifersüchteleien unter den beteiligten Künstlerinnen auflösten. Die an sie gerichteten Nachrichten aus dem Jenseits wurden ihren Aufzeichnungen zufolge von mehreren einzelnen weiblichen und männlichen Wesen übermittelt und beinhalteten konkrete Arbeitsaufträge ebenso wie überraschende Voraussagen für die Zukunft. Klint blieb nach einer kurzen Liebesaffäre mit einem gewissen Dr. Helleborg unverheiratet und pflegte im Anschluss langjährige Beziehungen mit Frauen, unter anderem mit der Krankenschwester Thomasine Andersson.

Interesse verdient, wie die Autorin die Gemälde und Aquarelle Klints, zum überwiegenden Teil umfangreiche Serien mit verschiedenen nummerierten Untergruppen im großen und übergroßen Format, inhaltlich zu entschlüsseln vermag: Den Ausgangspunkt bildeten, namentlich in den Darstellungen der „Zehn Größten“ – organische, an Pflanzen erinnernde Formen in hellen Farbtönen als Symbole für die Lebensalter des Menschen. Diese Gemälde führt Voss überzeugend auf den Einfluss von Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur“ (1899–1904) als künstlerisches Vorbild zurück. Aber auch wissenschaftliche Entdeckungen wie die der unsichtbaren Röntgenstrahlen im Jahr 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen und die der Quantentheorie ab 1900 durch Max Planck werden als Triebkräfte für Klints Interesse an der uns nicht unmittelbar sinnlich zugänglichen Welt angeführt. Sicher galt für sie, was der ebenfalls der Theosophie und Anthroposophie nahestehende Paul Klee als sein künstlerisches Credo anführte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, Kunst macht sichtbar.“

Ab 1906 schuf Klint eine Serie von 193 großformatigen Gemälden, die für einen sich schneckenförmig emporwindenden Tempel mit einem Observatorium an der Spitze bestimmt waren. Dieser architektonische Entwurf wurde jedoch nie verwirklicht. Eine Begegung mit Rudolf Steiner fand 1908 in ihrem Atelier statt. Er war seinerzeit Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und auf Vortragsreise in Schweden. Bei der Betrachtung ihrer Werke hielt Steiner ein persönliches Urteil zurück, stellte aber fest, dass diese erst in 50 Jahren verstanden werden würden – eine Äußerung, die vermutlich ausschlaggebend für entsprechende Festlegungen in Klints Testament wurde.

Voss legt nahe, Steiner habe Klints Eingebungen aufgrund seines persönlichen Führungsanspruchs als Theosoph und Anthroposoph nicht akzeptieren können. Offenbar entmutigt legte Klint daraufhin eine Malpause von vier Jahren ein und änderte in der Folge ihren künstlerischen Ausdruck hin zu stärker geometrisierten Formen. Dennoch suchte sie Steiners Goetheanum in Dornach in der Schweiz in den 1920er und 1930er Jahren in Begleitung ihrer Freundin Anna Cassel mehrfach auf, in der vergeblichen Hoffnung die Bilder aus dem „Koffermuseum“, dass sie mit sich führte, bei ihm ausstellen zu dürfen, und wurde später auch Mitglied bei den schwedischen Theosophen und Anthroposophen. Klints Bildsprache deutet Voss überzeugend als eine symbolisch-abstrakte Darstellung der Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips auf geistiger Ebene, so wie Klint sich in ihren schriftlichen Aufzeichnungen auch selbst in beiderlei Gestalt imaginierte.

Die epochalen künstlerischen Innovationen ihrer Avantgarde-Kollegen, sei es die Farbsymbolik von Franz Marc, das einfarbige Quadrat vom Malewitsch oder die abgestuften geometrischen Farbfelder eines Paul Klees – um nur einige konkrete Beispiele herauszugreifen – hat Hilma af Klint auf beeindruckende Weise unabhängig von ihnen um Jahre vorweggenommen. Sie verfolgte ihre künstlerischen Ambitionen unbeirrt ein Leben lang, wusste sich und ihre Partnerschaften zu Frauen wie ihr ungewöhnliches Werk aber gleichzeitig auch zu verbergen und so vor eventuellen Verfolgungen zu schützen.

Julia Voss hat mit ihrer umfassenden Arbeit zu Klint unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie tiefgehend die Entwicklung der abstrakten Kunst der klassischen Moderne von den Strömungen des Okkultismus, Spiritismus und der daraus um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert hervorgegangenen Theosophie geprägt war. Diese wurden ihrerseits wesentlich von Frauen getragen.

Titelbild

Julia Voss: Hilma af Klint – »Die Menschheit in Erstaunen versetzen«. Biographie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
600 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973679

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch