Streifzüge durch die Stadt ohne Anfang und ohne Ende
In „Halbnah“ fordert Anna Maria Stadler auf seltsame Weise die Bedeutung von Beziehungen, Sprache und dem Material heraus
Von Lena Sophie Voß
In chronologischen Abschnitten werden in Halbnah die Streifzüge von Kata, Mira und Sarah durch eine gemeinsame Stadt innerhalb eines Tages begleitet. Die Beziehungen der drei Frauen untereinander werden durch das Erzählen von Erinnerungen und kurzes Aufeinandertreffen oder das Denken an die jeweils andere angedeutet.
Der Text ist in unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt, in jedem neuen Abschnitt steht die Perspektive einer der drei Frauen im Vordergrund. Die Nummerierung der Textabschnitte unterbricht immer wieder den Textverlauf, wodurch die Figuren sowie ihre Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und die erlebten Situationen nur fragmentarisch erfahrbar werden. Erst im Verlauf des Textes werden die Vergangenheiten der drei Frauen sowie das Beziehungsgeflecht aufgedeckt, was jedoch unvollständig bleibt.
1004. Sie haben einander länger nicht gesehen, das heißt, seltener in letzter Zeit. Obwohl Mira Sarah schon länger kennt als die meisten, hat sich zwischen ihnen niemals dieselbe Nähe wie mit anderen eingestellt, außer dann, wenn eine von ihnen oder sie beide betrunken waren. Obwohl Sarah und sie die gleichen Texte gelesen haben, die in ihnen ähnliche Vorstellungen von der Welt und dem Zusammenleben darin zurückließen, obwohl sie gemeinsame Bekannte haben und Erinnerungen teilen, obwohl sie gerne in dieselben Lokale gehen, an dieselben Orte reisen und sich ähnlich anziehen, liegt einiges zwischen ihnen.
Die Distanz in der Beziehung zwischen den Frauen bleibt auch für die Leser*innen bestehen, denen die Dinge im Verborgenen anhand von Andeutungen, Leerstellen und Brüche im Text vermittelt werden. Im Text kommen schnelle und langsame Wechsel der Figurenperspektiven vor. Beim Lesen entsteht eine anhaltende Unruhe, da unklar bleibt, welches Ziel die drei Frauen verfolgen und wie sich ihre Streifzüge fortsetzen. Jeder Abschnitt beginnt in media res.
1011. Von ihrer Mutter keine Antwort. Kata scrollt durch den Nachrichtenverlauf. Die letzte Nachricht vor vier Tagen.1012. Mira sieht an vielen Stellen nach Spuren des Sturmes von letzter Nacht. Blätter und Äste liegen verstreut, ein Verkehrsschild steht schief in der Fassung.
Trotz der zahlreichen Umbrüche im Text wird der Verlauf eines Tages erzählt, an dem sich die drei Fragen bedeutende Fragen stellen oder mit neuen Situationen konfrontiert sind. Kata beschäftigt sich mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter, wodurch sie sich Gedanken über die Vergangenheit ihrer Mutter als alleinerziehende Emigrantin ohne Einkommen und Wohnung macht. Mira stellt sich die Frage nach der Kunst und einer Funktion des Materials und Sarah zieht in ein neues Zimmer, plant ihren Partner zu verlassen und sucht nach einer wirklichen Verbindung. Die eigentlich großen Umbrüche in den Leben der Protagonistinnen werden durch die zahlreichen Brüche im Text sowie die lakonische Erzählweise zu alltäglichen Ereignissen, denen die Leser*innen unvermittelt ausgesetzt sind. Der Text hat keinen dezidierten Anfang und endet, als der Regen beginnt, der den Streifzug der drei Frauen durch die Stadt unterbricht. Die Spannung liegt daher nicht im handlungstreibenden Erzählstoff, sondern in der Sprache des Textes.
Besonders in der Sprache werden Erwartungen oder Zusammenhänge immer wieder unterlaufen. Die Vorstellungen von vermeintlich ‚normalen‘ Verhaltensweisen wird durchkreuzt, die Bedeutung der Sprache als willkürlich herausgestellt und die Funktion des Materials hinterfragt. In einer Erinnerung an ihre Kindheit und das Spielen mit Mira in einem Industriegebiet beschreibt Kata Folgendes:
Eine Lagerfläche, auf der sie abends manchmal spielten, wenn der Betrieb daneben schon geschlossen hatte. Sie überformten das Abgelagerte mit ihren Geschichten, indem es in ihrer Vorstellung zu Balkonen, Schiffen oder Behausungen wurde.
Die Entfremdung und Umdeutung des Materials erscheint wiederholt im Text und wird beispielsweise in einem Traum von Mira, indem sie einen Fleck auf einem Röntgenbild wegradieren kann, verarbeitet.
Zudem werden erwartbare Verhaltensweisen durchkreuzt und anders dargestellt.
Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, immer wieder eine gewisse Zeit im Wasser zu verbringen. Manchmal imitiert sie die anderen im Becken und schwimmt ein paar Längen, manchmal treibt sie bloß im Wasser. Sie löst sich dann so lange aus den Zusammenhängen.
Dinge können ihre Form und damit ihre Funktion verlieren und Verhaltensweisen werden immer wieder durch Abweichungen markiert oder bis ins Komische oder Absurde verkehrt.
Diese Prozesse spiegeln sich ebenso in der Stadt wider, durch die die drei Frauen streifen. In ihr werden Orte umfunktioniert: Im Kanal wird geschwommen, auf dem Friedhof wird spaziert und ein verlassenes Krankenhaus dient als Wohnraum. Die Ästhetik der Stadt, die die Frauen durchstreifen, ist ebenso von den Parks, dem Wasser sowie den Vögeln geprägt. Dabei finden seltsame Situationen in der vermeintlichen Idylle der Natur statt, wenn jemand eine Gans fängt und sie häutet, Schüsse erklingen, die sich erst danach als Feier entpuppen oder ein Vogel mit einem T-Shirt gefangen wird. „Die Stadt kann, weiß Mira, innerhalb weniger Minuten von Stille ins Spektakel kippen.“
Anna Maria Stadler stellt in ihrem Text die Frage, wie Nähe überhaupt entstehen kann und worin sie besteht. Dabei zeichnet sich ihr Text durch einen lakonischen Stil und das Durchkreuzen des Erwartbaren aus. Der Text selbst versucht sich seiner Erwartung durch die fehlende Struktur von Anfang und Ende zu widersetzen. Das durch Halbnah entstehende Gefühl der Entfremdung fordert einen anderen Blick auf bekannte Themen und Zusammenhänge heraus.
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