Die Anfänge der heutigen Mediengesellschaft im 19. Jahrhundert

Mit 100 Stories und vielen Abbildungen veranschaulicht Wolf-Rüdiger Wagner Mediengeschichte

Von Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die veränderte Ansicht von Welt beginnt, wie Wolf-Rüdiger Wagner die Mediengesellschaft einhundertfach en detail betrachtet, mit Mikroskop und Teleskop. Mit der erweiterten Wahrnehmung von Bildern der Realität von Mikro- und Makrowelten befassen sich seine nach je 10 Jahren des 19. Jahrhunderts vorsortierten Mediengeschichten unterschiedlichster Provenienz : mit Spektralanalysen, Sternenkarten, Zeitschriften, mit Messgeräten und mechanischer Musik, mit Tauben-Post gar, der Fotografie bis hin zum Kinetographen. 100 Medienstories vereinigen den Sammelbegriff „Medium“, mit denen die Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts ihren eigentlichen Anfang nehmen soll. Sie figuriert in Wahrheit aber vor allem als unterhaltsam zu lesende Wissenschafts-, Erfinder- und Technikgeschichte zur Produktion von Wissen – wie z.B. die sensationelle Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Fotografie. Erfindungen mutieren zu Medien. Techniken generieren, distribuieren und kommunizieren Erkenntnisse und Novitäten. In diesen Prozessen werden in der Perspektive des Verfassers, eines pädagogisch-technisch versierten Publizisten verschiedene Felder vernetzt.

Die Auswahl basiert auf üppig zitierten Berichten aus den Annalen der Physik, einem bekannten „Magazin aller Erfindungen…“, dem Polytechnischen Journal und anderen, auch populären Quellen. Die auf Deutschland und Österreich-Ungarn konzentrierten Erzählungen über Telefon, Zeitung, Buch, Schnellpresse oder Linotype-Setzmaschine reichen über eine rein national verstandene Mediengeschichte hinaus. Die zuweilen eher planlos scheinende, weil rein chronologisch erfolgte Reihung hat den Vorteil, dass sich aus dem wohl bewusst fast zufällig sortierten Steinbruch zeitgenössisch beobachtete und registrierte Entwicklungen ergeben: wie aus dem automatischen Webstuhl, aus dem Musikautomaten, aus der Hollerith’schen Zählmaschine eine ganze Industrie entsteht.

Die Entstehung der Mediengesellschaft soll über zeitgenössische Quellen rekonstruiert werden. Wenn Walter Benjamin mit seinem Fragment gebliebenen Passagen-Werk, einer immensen Materialsammlung, eine theoretische Kulturgeschichte der Moderne zu präsentieren gedachte, verband sich damit der Intention nach eine Analyse der Krisen des folgenden Jahrhunderts, allerdings mit einer systematisch-begrifflichen Konzentration auf einige in Teilen ähnliche Residuen moderner Innovationen. Doch folgt sein materialistisches „work in progress“ doch eher einem (geheimen) Auswahl- und Plankonzept, der Entstehung des Kapitalismus und seiner Wirkung auf Kunst, Kultur und Gesellschaft.

Bei Wagner steht hingegen die Kollektion von Wahrnehmungsmitteln und Wahrnehmungen von Welt im Mittelpunkt. Themen der hier versammelten Mediengeschichten sollen die Handlungen und Praktiken sein, in deren Kontext Medien zu jedoch kaum strukturierten „Werkzeugen der Weltaneignung“ werden. Einen naheliegenden Einwand formuliert Wagner selbst: In Zeitungen und Zeitschriften spiegeln sich weniger der „Zeitgeist“, sondern Stimmungslagen von Lesern, immerhin mentalitätsgeschichtlich relevante Momente einer sich entwickelnden Mediengesellschaft.

Die Sammlung bietet mit ihren Prismen ein interpretationsfähiges Kaleidoskop, aus dem sich weitere Thesen entwickeln lassen. Die zahlreichen Abbildungen dazu beginnen 1801 mit der Volta’schen Säule in Paris. Was immer Leser faszinieren, sie belehren, sie unterhalten sollte, es wird vorgeführt. In diesen interdisziplinären Entwicklungsphasen sind unzählige, längst vergessene, seltsame mediale Vorformen vom Diorama über den Morseschreiber bis zur Lochkarte, zum Grammophon oder zum Überseekabel und merkwürdige, ephemere oder denkwürdig nachwirkende Ereignisse der Technik-, Kultur- und Mediengeschichte neu zu entdecken – bis hin zum Borkumer Leuchtschiff mit drahtloser Telegraphie von 1901. Ein penibles Abbildungs-, Inhalts- und Literaturverzeichnis notiert vorbildlich sämtliche Fundstellen.

Titelbild

Wolf-Rüdiger Wagner: Die Entstehung der Mediengesellschaft. 100 Mediengeschichten aus dem 19. Jahrhundert.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
408 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783837660227

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