Das Abenteuer des Expressionismus
Unterwegssein mit und in Walter Hasenclevers Gedichten
Von Maria Behre
Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag bezieht sich auf die Ende Januar 2020 angekündigte Verleihung des Walter-Hasenclever-Literaturpreises der Stadt Aachen an die Schriftstellerin Marica Bodrožić. Die Mitarbeiterin von literaturkritik.de Maria Behre ist Mitglied der Jury und Lehrerin am Einhard Gymnasium, der ehemaligen Schule Hasenclevers in Aachen.
Walter Hasenclever
Tritt aus dem Tor, Erscheinung
Tritt aus dem Tor, Erscheinung, namenlose!
Kommt, ihr geheimnisvollen frühen Triebe!
Kehr wieder, Sonntag! Schlafe mit mir, Rose
Am weißen Kleide meiner ersten Liebe!
Und wenn ich von euch ritt auf einem Pferde
Schwarz in die Dunkelheit des Meers – was war ich!
Ein Strahl des Lichts, ein Stück von meiner Erde,
Ein Abenteuer, bunt, verbrannt und fahrig.
Mein altes Haus, wer deine Ruhe fände!
O sag mir nicht, daß auf den fremden Inseln
Jetzt Affen schrein und Papageien winseln –
Ich könnte wieder reisen ohne Ende!
Dieses Gedicht aus der „Menschheitsdämmerung“ stand zuerst in der Gedichtsammlung „Der Jüngling“ (Walter Hasenclever, Sämtliche Werke, Hg. Dieter Breuer u.a., Bd.1: Lyrik, Mainz 1994, S.103), die zwischen Frühjahr 1911 und Winter 1912/13 entstanden sein soll und in Leipzig 1913 veröffentlicht wurde (vgl. Bert Kasties, Walter Hasenclever. Eine Biographie der deutschen Moderne, Tübingen; Max Niemeyer 1994, S.101, im Folgenden Kasties). Hasenclever entwirft gegenüber seinem Freund und Verleger Kurt Wolff das Gedichtsammlungskonzept: ein „Gedicht ohne Anfang und Ende“, gesammelt unter der Idee „Roman in Versen“: „fahrend durch die Luft“ (vgl. Anhang in: W. Hasenclever, Lyrik, a.a.O., S.289). Dabei ist die Fahrt nicht nur inspiriert durch Hasenclevers Doppeldeckerflug über Leipzig im Auftrag einer Zeitung, sondern als Lebensbewegung durch die fünf dramatischen Stationen der Gedichtband-Kapitel von jeweils zehn Gedichten: „Anweisung zum Lieben“, „Der Abenteurer“, „Flucht und Erscheinung“, „Die Verheißung“ (daraus das hier behandelte Gedicht als drittes), „Das glückliche Ende“.
Dieses Gedicht veröffentlichte Kurt Pinthus in seiner Anthropologie „Menschheitsdämmerung“ (1920) unter dem Titel „Tritt aus dem Tor, Erscheinung“ in der ersten Rubrik der Anthologie oder im ersten Satz der „Symphonie jüngster Dichtung“ namens „Sturz und Schrei“. Hasenclever ist mit einer großen Anzahl von Gedichten vertreten, 19, wie auch Wilhelm Klemm, nur Albert Ehrenstein (20) und Franz Werfel (27) weisen mehr Gedichte auf. Pinthus beschreibt Hasenclever in einem Brief an Elazar Benyoëtz vom 28. September 1960 als seinen ‚besten und beinahe brüderlichen Freund‘.
Zum Angelpunkt der Auseinandersetzung junger Leserinnen und Lesern, die sich vom Schuljahr 2018/19 an in NRW mit der neuen Zentralabitur-Obligatorik im Deutschunterricht beschäftigen, Lyrik zum Thema „Unterwegssein“, wurde der achte der zwölf Verse:
„Ein Abenteuer, bunt, verbrannt und fahrig.“
Wie ist der Vers gemeint? In welchem Ton ist er gesprochen? In welchem Verhältnis stehen die drei Attribute des Abenteuers?
Hier sei zunächst ein biographischer Zugang versucht: Ist es eine Warnung des streng abweisenden Vaters oder eine Ermutigung bzw. Ermunterung der vertrauensvoll zugewandten Großmutter (um auf Walter Hasenclevers Familienkonstellation Bezug zu nehmen)? Hasenclevers Vater als ehrgeiziger Medizinalrat verbot jedes literarische Interesse des Sohnes, vom Theaterbesuch bis zur Studienwahl. Hasenclever konnte aber, nach dem endgültigen Auszug 1908 aus dem Elternhaus ohne lebenslange Wiederkehr, bei seiner Großmutter mütterlicherseits einen der 32 Räume ganz für sich nutzen. Dort durfte er dichten, dort stand seine Bibliothek, dort konnte er seine Freunde treffen, dort hatte er eine Adresse für Verlagskontakte. Der belastende Vater-Sohn-Konflikt wird in Hasenclevers Drama „Der Sohn“ verallgemeinert, die väterlichen vermeintlichen Tugenden: patriarchalisch, preußisch, kaisertreu, pflichtbewusst, streng, unduldsam provozieren freiheitsliebenden Widerstand. Interesse am Künstlerischen wurde als Gefährdung wahrgenommen und durch körperlich-seelische Bestrafung zu unterbinden versucht. Die Großmutter finanzierte Hasenclever bis zu ihrem Tode 1917, in ihrem großbürgerlichen Haus wurde Hasenclever sogar geboren, seine Mutter litt unter einer Schwangerschaftspsychose mit dauerhafter Entfremdung vom Kind. Hasenclevers Freund Kurt Pinthus „schreibt, daß er seinen Freund während ihrer 30-jährigen Freundschaft so gut wie nie über seine Mutter hat sprechen hören“ (ohne Quelle bei Kasties, S.32), es bestehe ein „Mangel jeglicher Liebe“. Auf den Familienphotos aus dem großelterlichen Gartenpark ist die Nähe zwischen Großmutter und Enkel auch an der gegenseitigen Zuordnung durch Blicke, Berührungen und Positionen im Raum sichtbar. Sprechend sind symbolischen Handlungen, wenn die Großmutter mit der Kelle aus einem Getränke-Krug schöpft und Hasenclever ein Glas erhoben zum Prosit hält.
Auch in Hasenclevers Bildungsgeschichte ist Abenteuerliches zu finden. In seinem Gymnasium kommt es zu Konfrontationen. Hasenclevers Mitschüler Karl Otten, eine Klasse unter ihm, berichtet, dass der Direktor Hasenclevers Nietzsche-Begeisterung öffentlich rügte (vgl. Kasties, S.41). Allerdings konnte Hasenclever seinem Deutschlehrer Dr. Löhe vier Erzählungen unter dem Titel „Selbstmörder“ zeigen, in denen der autobiographische Protagonist sich beschreibt „wie eine volle, rotglühende Rose, die ein früher Sturm entblättert“ habe (vgl. Kasties, S.34f.). Dennoch kann Hasenclever das Abitur, „mehr schlecht als recht“, bestehen. Für Hasenclever war der Studien-Aufenthalt in Oxford im Frühjahr und Sommer 1908 ein „erster Ausflug ins Unbekannte“ (vgl. Kasties, S.45). In der nächsten Lebens- und Studienstation in Leipzig 1909 – nach Aufenthalten in Lausanne und Fluchtbewegungen vor der Kontrolle des Vaters über Zürich, Innsbruck, Reichenberg in Böhmen – lernt Hasenclever Pinthus kennen, der sich erinnert an „die Zeit der Befreiung von Zwang und Einengung seiner Jugend, bewirkt durch das Austoben eines bisher zurückgedrängten und deshalb außerordentlich gesteigerten Erlebnistriebes und – vielleicht noch mehr – durch geistigen Austausch mit vielen ähnlich gearteten jungen Menschen seiner Generation“ (in: „Walter Hasenclever – Leben und Werk“, Vorwort im von Pinthus herausgegebenen „Sammelband zu diversen Dichtungen“ Hasenclevers, Reinbek: Rowohlt 1963, S.12, zit. n. Kasties, S.60). Das umfasst nach Pinthus auch das andere Geschlecht: „Er nahm diese Abenteuer meist so ernst, daß er sich als tragisch Liebender ebenso glücklich fühlte wie als glücklich Liebender“ (ebd., S.16, zit. n. Kasties, S.61). Die Gedichtsammlung „Städte, Nächte und Menschen“ (1910), entstanden in Oxford, Lausanne und Leipzig, trägt den Untertitel „Erlebnisse“, der Abteilung „Nächte“ gibt der Autor die Widmung „Meinem lieben Kurt Pinthus, dem Gefährten dieser Reime“, und der dritte Teil beginnt mit dem Gedicht „Die Auswanderer“, einem weit ausladenden Text mit 74 Versen in acht Strophen, mündend in die lebens- und existenzphilosophische „Erkenntnis“: „Kein Schicksal tragen, sich sein Schicksal schaffen“.
Wie wird Hasenclever von seinem Freund Pinthus in der Anthologie präsentiert? Im Vorwort „Nach 40 Jahren (New York, Sommer 1959)“ betont Pinthus, dass er Hasenclever wie weitere 14 Expressionisten (mit der einen Expressionistin Else Lasker-Schüler) „zum erstenmal“ (zitiert nach der revidierten Ausgabe, Hamburg: Rowohlt Februar 1990, S. 18) – vor allem auch nach der NS-Zeit – in Bio-Bibliographien vorstellt. Hasenclevers Schicksal beschreibt er darüber hinaus explizit: „Walter Hasenclever, nach vieljährigem Umherirren, tötete sich 1940 in einem französischen Lager beim Herannahen der deutschen Truppen mit Veronal, weil er wußte, was ihm bevorstand.“ (ebd., S.20) Damit repräsentiert er die „Generation von Umgetriebenen, Ausgetriebenen“ (ebd., S.19) in besonderer Weise. Im Vorwort „Zuvor (Berlin, Herbst 1919)“ war demgegenüber noch allgemeiner von der „Bewegung und Bewegtheit der Menschheit“ (ebd., S.22) die Rede.
In der Neuausgabe von Florian Illies wird nur dieses erste Vorwort wiederabgedruckt. Illies wählt in seinem Nachwort die Metapher „apokalyptische Reiter“ für die expressionistischen Dichter, an deren „Armen […] die Bänder der Liebsten im Wind [flattern]“. Passt dies zu Hasenclevers Gedicht? Ist nicht der bei Illies fehlende Begriff des Abenteuers das Entscheidende, um den „Befreiungsakt der Lyrik des Expressionismus“ zu verstehen? Gehört nicht zum Begriff des Abenteuers das Zeitbild der „Dämmerung“, der „Menschheitsdämmerung“ zwischen Abend und Morgen, das Pinthus eindrucksvoll ausführt, sowohl im „Zuvor“ als auch im „Nachklang (Berlin, April 1922)“? Ist die Zwischenzeit, das Zwielicht der „Dämmerung“ dann nicht das Phänomen, das der phänomenale erste Vers beschreibt: „Tritt aus dem Tor, Erscheinung, namenlose!“? Ist es nicht aus dem Geiste Arthur Schopenhauers, des Philosophen des Scheins, gesprochen, Zulassen der Erscheinungen, des Namenlosen, aber Geheimnisvollen, Zulassen der Triebe, die sich zur Liebe wandeln können? Schopenhauers Schriften konnte Hasenclever sogar in der Bibliothek seines Vaters finden. In einer autobiographischen Szene in seinem Roman „Irrtum und Leidenschaft“ (vollendet März 1939, von Pinthus 1969 veröffentlicht im Universitas-Verlag Berlin, S.148f., zit. n. Walter Hasenclever. 1890-1940, Ausstellungskatalog, Aachen: Alano 2. A. 1996, S.32) wird der scheinbar wahllose, aber wohl unbewusst intentionale Griff zu einem roten Schopenhauer-Band imaginiert: „Ich habe das Abitur bestanden und will mich in den Freudentaumel der Freiheit stürzen.“ Durch die Genitivmetapher wären die ersten drei Worte des Verses „Ein Abenteuer, bunt“ beschrieben; kann aus der Lektüre Schopenhauers die Ernüchterung der Buntheit des Abenteuers durch die folgenden Worte, „verbrannt und fahrig“, hergeleitet werden?
Wann kann – auf einer anderen Ebene als der philologisch-literaturgeschichtlichen Präsentation des Expressionismus heute nach 100 Jahren – das Lesen solcher Verse spannend werden? Das ist möglich,
– wenn jungen Menschen, denen alles (alle Möglichkeiten, aber auch alle Fragen) offensteht, erst einmal völlig unklar ist, was „ein Abenteuer“ als Anweisung fürs Leben für sie sein könnte,
– wenn endlich nicht mehr Schwarz-Weiß-Denken erwartet wird, sondern alles „bunt“ (verbunden in der Doppeldeutigkeit: mehrfarbig oder konfus) wird,
– wenn nach intensiven Diskussionen auch mal ein Thema nach Glühen, Funkensprühen, nach allen Mühen „verbrannt“ ist und etwas Anderes uns zum Brennen bringen sollte, unsere Energie entzündet,
– wenn ein Oberstufen-Leistungskurs – direkt vor dem Abitur – durch alle Gefahren miteinander gefahren ist, ein aufrechtes Häufchen von Gefährten, die nur selten ‚geführt‘ werden mussten,
– wenn sie „fahrig“ schienen, aber immer dann doch schnell fröhlich in Fahrt kommend auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft: Glück auf, gute Fahrt.
Was bedeutet es heute noch, „ein Abenteuer“ zu wagen? Zur Jahrestagung der DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers” an der LMU München am 24. und 25. Januar 2020 wurde der Begriff „Abenteuer“ erläutert. „Das Abenteuer ist eine Art Matrix für Phantasieprozesse. Wer aufbricht, um es zu suchen, der folgt nicht allein den Gesetzen der Realität, sondern er wird auch durch – unbewusste – Wunschenergien gesteuert, durch das Begehren nach Macht und Eroberung, nach Reichtum oder sexueller Befriedigung. Die Erwartung des Unerwartbaren, die Herausforderung durch das, was man nicht kennt, durch Zufall und Kontingenz, die Bewährung im Kampf mit der fremden Welt sind Teil dieser Ökonomie, die die ,Lust am Abenteuer‘ als Form des Erlebens ausmacht.“
Wie kann diese „Lust am Abenteuer“, die auf der Tagung nur auf die Prosa-Gattung bezogen wird, als expressionistische Energie in heutiger Literatur gefunden werden? Konkret heißt das für uns, aktuelle Autorinnen und Autoren zu finden, die im Geiste Walter Hasenclevers schreiben und damit als Walter-Hasenclever-Literaturpreisträgerinnen und -preisträger der Stadt Aachen alle zwei Jahre ausgezeichnet werden. Die Schule Walter Hasenclevers hat in der siebenköpfigen Jury eine Stimme und ist im Rahmen einer dreitägigen Preis-Feier nach sonnabendlicher Lesung und sonntäglicher Preisverleihung in Aachen am Montagmorgen Ort eines öffentlichen Gesprächs der Preisträgerin oder des Preisträgers mit Schülerinnen und Schülern.
Wir fanden eine würdige Preisträgerin für 2020, die eine große Nähe zu Walter Hasenclever aufweist. Bei der telephonischen Mitteilung der Wahlentscheidung dankte sie dafür, dass wir sie „auf ihrem geistigen Weg begleiten“. Marica Bodrožić übersetzt Hasenclevers Botschaft in die heutige Zeit. Sie ist in Kroatien geboren und kam mit 9 Jahren nach Deutschland, um dann in Deutsch, dieser ihrer zweiten Sprache, zu schreiben. In der Jurybegründung heißt es, dass sie wie er eine gattungsübergreifende Vielfalt der Ausdrucksformen, vor allem in Essays als Betrachtungen zur Zeit, beherrscht, der Expressivität der Sprache als philosophisch-politisch-psychologischem Medium des Pazifismus verpflichtet ist und mit ethischem Anspruch aus der Vergangenheit (Herkunft) über die „Ankunft in Wörtern“ – so der Untertitel ihrer Essays „Sterne erben, Sterne färben“ – für die Zukunft in Europa schreibt. In dieser Bewegung sehen wir das „Unterwegssein“ als Leitmotiv unserer Zeit, zwischen Herkunft, Ankunft und Zukunft als drei Zeitekstasen, als Weiterdenken eines Heimatbegriffs, der im Sinne Hannah Arendts das „Heimatgefühl“ in der Sprache, im Sprechhandeln des ständigen Unterwegsseins, bedeutet.
Ihr aktueller Roman „Das Wasser unserer Träume“ (2016) fragt in einer Grenzsituation, dem Leben und langsam sich steigernden Empfinden eines namenlosen Komapatienten, worauf es ankommt: die Frage nach der Würde des Menschen, die Entdeckung der Innenwelten, das Weiterdenken und Weitersprechen trotz von außen und innen angenommener Erstarrung in neu bewusster Sensibilität. Der Roman gibt Denkanstöße und Gesprächsanlass, z. B. mit den Sätzen, die dem Patienten vorgelesen werden und ihm Hoffnung geben auf seinem Weg des Wiedererwachens: „Lerne zu leben. Im Mosaik. Nimm ein den Platz. Frieren sollst du nicht im Stein erzählter Geschichten. Dein Platz ist die Bewegung, die dich sieht.“
Diese „Bewegung“ als Schreib- und Leseorientierung wird durch die Reflexion der Sprache, in der sie als Medium geschieht, zum Lebensorgan. Gleichwertig neben dem Schreiben in Sprache und Sprachen verläuft so die Äußerung über die Sprache. Bodrožić spricht von „Unterwegssein“, „Wandlung“, „Verwandlung“ in ihren Essays und dann fällt den Lesenden die Äußerung ins Auge: „ein Satz kann ein Tor sein“ (in dem Essay „Inneres Ausland“, Die Presse, 6. Dezember 2012).
Eine besondere Nähe zwischen Hasenclever und Bodrožić liegt in der Beschäftigung mit dem französischen Philosophen und nichtnationalistischen Reformsozialisten Jean Jaurès (1859-1914), dem Hasenclever zwei Gedichte widmet, die auch in der „Menschheitsdämmerung“ unter der Rubrik „Aufruf und Empörung“ erschienen sind: „Jaurès‘ Tod“ und „Jaurès‘ Auferstehung“ (2019, S.257f.), die Gedichte erschienen 1916 in Leipzig und wurden schon im Oktober 1917 in Genf in französischer Sprache veröffentlicht. Bodrožić wiederum lebte in Frankreich, wo Jaurès’ Name in vielen Städten in Straßen- und Schulnamen präsent ist. So ist ihr Prosa-Gedicht „HÖRT MIR ZU“ im Gedichtband „Lichtorgeln“ (Salzburg-Wien: Otto Müller 2008, S.103) bemerkenswert:
HÖRT MIR ZU, ich werde euch die Wahrheit sagen, schrie er, und die Wahrheit war, dass er dafür sein Leben lassen wollte. Er sagte: Hört mich, Ihr alle… Ich werde die Wahrheit sagen, auch, wenn sie mich das Leben kostet. Und sie kostete den Don Quichote der Linken, Jean Jaurès, nichts anderes als das Leben selbst. Wie lange/ wie viele Jahrhunderte kann er/ jetzt/ als Toter überleben?/ Aber/ Jahrhunderte/ gibt es nicht, nur Fotokammern/ unserer Träume. Und die Geschichtsschreiber/ die Redner sind nur erdacht: die Beweise sind alle/ nur/ in den Köpfen, und wir dürften uns einst abgesprochen haben/ die wahren Gesichter erst dann zu zeigen, wenn die Jahreszeiten aufgehört haben/ die Jahreszeiten/ die Kriege/ die rasselnden Kindheiten & pistolenbeschwerten/ die Finger/ von der Feindschaft ablassen.
Dieser Text könnte auch für den Expressionisten und Revolutionär Walter Hasenclever geschrieben sein, der für die Wahrheit sein Leben ließ, damit wir nicht ablassen von der Freundschaft, Gemeinschaft, Menschheit. Unter welchem Stern steht ein Leben, das sich dieser Wahrheit widmet? In ihrer sprachphilosophischen Biographie „Sterne erben, Sterne färben“ entfaltet Marica Bodrožić ein solches „Unterwegssein“, das für sie eine Bewegung zum literarischen Ausdruck in der deutschen Sprache bedeutet: „In keiner anderen Sprache kann ich mir vorstellen, daß selbst die Stimme nur ein Unterwegssein ist, in einem inneren Wandergebiet, dessen Grenzen ich mir selbst ausgedacht habe“. Dieser innere Bewegungsraum transzendiert den äußeren: „Jugoslawien war zusammengebrochen, noch bevor ich eine Frau geworden bin, mitten in meinem Unterwegssein als Mensch, und durch diese Veränderung verschob sich auch mein Heimatgefühl, das Zuhausesein in Menschen und Landschaften, immer mehr auf eine Luftperspektive.“ Wie verläuft ein Leben im „Unterwegssein“ in dieser Richtung? Das Unterwegssein umfasst die Erfahrung von „Anderssein“ und den Wunsch: „Ich wollte nur Teil eines unbekannten Abenteuers sein.“ (Marica Bodrožić, Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe, Berlin: Matthes & Seitz 2019, S. 50f.)