Politik als Kunst zu denken

Maike Weißpflug eröffnet neue Perspektiven auf Hannah Arendt

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre und Michael SzczekallaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Szczekalla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maike Weißpflug hat ein glänzend geschriebenes Werk zu Hannah Arendts Denken vorgelegt, das sich sowohl als Einführung wie auch als Kompendium zum derzeitigen Forschungsstand eignet. Obwohl sie auf eine rein akademische Auseinandersetzung verzichtet, vermag sie dennoch einen Einblick in die Problemstellungen der Arendt-Forschung zu vermitteln. Dabei scheut sich Weißpflug nicht, akademische Skepsis gegenüber Arendt offen aufzugreifen. Sie zitiert Tony Judt, der Arendt für eine schlecht erklärende Theoretikerin, aber gut urteilende Kritikerin hält. Von zentraler Bedeutung sei folglich die Haltung der politischen Intellektuellen, die nur eine Heimat in der Welt des 20. Jahrhunderts habe finden können, weil sie sich mit dem Totalitarismus auseinandergesetzt habe.

Sicher verstand sich Arendt als politische Denkerin, nicht als weltabgewandte Philosophin. Dieses Selbstverständnis macht Weißpflug zur Grundlage ihrer Explikation der Arendtschen Schriften. Was sie uns auf diese Weise über das politische Denken der von 1961 bis zu ihrem Tode an der New Yorker New School for Social Research lehrenden Autorin mitzuteilen hat, ist nicht nur überaus kenntnisreich, sondern wegen des konsequent durchgehaltenen Ansatzes auch von beeindruckender Konsistenz. Zudem beschränkt Weißpflug sich nicht auf die reine Explikation; sie unternimmt zugleich den Versuch, die Vorzüge von Arendts Denkhaltung mit Blick auf aktuelle politische Herausforderungen zu veranschaulichen.

Hannah Arendt ist eine politische Denkerin der Moderne, die sich bemüht, die richtigen Konsequenzen aus dem „Traditionsbruch“ des 20. Jahrhunderts, der seine äußerste Zuspitzung im „Zivilisationsbruch“ des Holocaust gefunden hat, und dem – so möchte es Weißpflug offenbar mit Arendt sehen – Fragwürdigwerden eines idealistischen Universalismus zu ziehen.

Arendt plädiert daher für ein „Denken ohne Geländer“, das keine Scheu vor eindeutigen Positionierungen in konkreten Auseinandersetzungen hat. Mit ihren Interventionen hat sie allerdings mitunter sogar politische Freunde irritiert. Das trifft sicher auf die hinlänglich bekannte Kontroverse zu, die ihr Eichmann-Buch auslöste, aber auch schon auf ihre Ende der 50er Jahre für die Zeitschrift Commentary verfasste Stellungnahme zu dem im Bundesstaat Arkansas unternommenen Versuch, die faktische Rassentrennung im Bildungswesen mit Zwangsmitteln der staatlichen Exekutive von oben her aufzuheben. Mit ihrer These, dass Gleichheit ein politisches, aber kein gesellschaftliches Recht sei, stieß sie damals in liberalen Kreisen auf wenig Verständnis. Weißpflug versucht Arendt auf eine sehr umsichtige Art zu verteidigen, indem sie die Vorzüge der Arendtschen Denkhaltung preist, die jedoch keineswegs immun gegen Irrtümer sei. So habe Arendt beispielsweise phänomenologisch präzise, aber vielleicht politisch falsch das ungeschützte Ausgeliefertsein afroamerikanischer Schülerinnen an die Medienöffentlichkeit kritisieren wollen.

Es ist indes der Totalitarismus gewesen, der Arendt zu der Überzeugung brachte, dass es unter keinen Umständen zum Sieg einer abgehobenen, die Praxis verachtenden Philosophie über die Politik kommen dürfe. Diese Überzeugung hat ihr „Denken ohne Geländer“ ebenso geprägt wie sie Arendt in ihren Forderungen nach einer Rehabilitation der „Sinnlichkeit“ wie nach einer Anerkennung der „Pluralität der Erfahrungen“ bestärkte. Es geht dabei um nichts Geringeres als um eine „Rückbindung des Denkens an die wirkliche Welt“. Dass Arendt mit ihrem Plädoyer für eine solche Denkhaltung auch jüdische Erfahrungen aufnimmt, wird offenbar, wenn sie etwa in ihrem Aufsatz Die verborgene Tradition aus dem Jahre 1948 von der Rolle des Parias spricht, die von jüdischen Autoren wie Heinrich Heine und Franz Kafka entwickelt worden sei, um sie von der des Parvenus abzugrenzen, der reüssiert, indem er sich anpasst.

Spätestens an dieser Stelle wird auch deutlich, dass niemand, der Arendt verstehen will, an einer Lektüre von Vita activa (Erstveröffentlichung 1958, deutsch 1960) vorbeikommt, genauer an der Trias von „Arbeiten, Herstellen und Handeln“, die sie dort entfaltet. Das Handeln ist für Arendt die eigentliche Domäne der Politik, womit wir bereits bei der antiken Polis wären.

Handeln ermöglicht die spontane Hervorbringung von Freiheit. Eine „Überschätzung der techné“ gibt es allerdings schon in der Antike – zumindest in Platons Staat. In der frühen Neuzeit finden wir sie dann bei Thomas Hobbes. Vor allem aber setzt der neuzeitliche Ökonomismus ganz auf das Arbeiten und Herstellen. Arendts Kritik wendet sich hier explizit auch gegen Karl Marx, denn Ökonomie ist selbstredend ein „Herstellungsbegriff“. Unter dasselbe Verdikt fällt allerdings auch jegliches ideologische Denken. So gehört die Polemik gegen den modernen homo faber und dessen Politikunfähigkeit zu den Konstanten im politischen Denken Arendts.

Weißpflug wehrt sich dagegen, Arendts Fixierung auf das perikleische Zeitalter als Problem anzusehen. Bekanntlich ist Arendt an politischer Partizipation jenseits oder vielleicht besser diesseits moderner Repräsentativverfassungen gelegen. In Vita activa bringt sie Hobbes, John Locke und Adam Smith und damit dem Liberalismus in all seinen Ausprägungen wenig Verständnis entgegen. In der historisch arbeitenden anglo-amerikanischen Politikwissenschaft ihrer Zeit hätte sie wohl niemals heimisch werden können.

Vielleicht ist aber der Hinweis auf eine alternative Tradition mehr als eine Fußnote zu ihrem Oeuvre wert, auch wenn diese erst nach ihrem Tod das Interesse ihrer Fachkollegen gefunden hat. 1975 erschien John Greville Agard Pococks bahnbrechende Studie The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, die es unternimmt, die außerordentliche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Niccolò Machiavellis Discorsi zu rekonstruieren, also eines Denkens in den Kategorien des antiken Republikanismus. Es geht um ein Ideal, freilich römischer Provenienz, von bürgerlicher Teilhabe am Gemeinwesen, um ein vivere civile also, wie es so unterschiedlichen Denkern wie James Harrington, Algernon Sidney oder Adam Ferguson vorschwebte. John Locke et praeterea nihil – das galt seit den Arbeiten von Pocock nun nicht mehr.

Die Teilhabe am Gemeinwesen vollzieht sich in dieser Tradition auch über den Wehrdienst. Arms, ballot, agrarian – heißt es bei Harrington, also der Dienst mit der Waffe, das Wahlrecht und eine Agrarordnung, die für eine gleichmäßige Landverteilung sorgt. (Letztes findet seine Inspiration in dem, was Titus Livius über die licinischen Ackergesetze schreibt.) Was das mit Arendt zu tun haben könnte, erhellt sich unmittelbar, wenn man liest, was sie (an verschiedenen Stellen) über die Résistance schreibt, deren Akteure „im Kampf um die Befreiung“ die „Freiheit des gemeinsamen Handelns“ erfuhren, aber nach der Befreiung des öffentlichen Raumes verlustig gingen. In den Worten Arendts fielen diese Kämpfer in die „schwerelose Irrelevanz ihrer persönlichen Angelegenheiten“ zurück. Arendt-Kritiker mögen an dieser Stelle einwenden, dass ein solches Bilanzieren doch nur das Fragwürdige eines im Grunde existentialistischen Politikbegriffs offenbart. Warum, so ließe sich mit Max Weber fragen, kann sich ein selbstbewusstes Bürgertum nicht über eine Repräsentativverfassung definieren? 

Für Arendt aber scheint zu gelten, dass Staatsrechtler oder Soziologen schweigen mögen, wenn die Aufgabe lautet, ein „Denken ohne Geländer“ zu explizieren. So ist der zweite Teil dieser Einführung mit „Literatur und Politik“ überschrieben. Die Hinweise auf die Homer-Bezüge bei Arendt, an verstreuten Stellen, können aber nur ein erster Ansatz sein, der entfaltet werden sollte als Proto-Erzählung der Demokratie, die Geburt des Gesprächs aus der Geselligkeit, wie Odysseus bei den Phäaken. In jedem Fall geht es in Arendts Bezugnahmen auf die Literatur um ein Storytelling unter den Gesichtspunkten von Perspektivwechsel, Dialogizität und Polyphonie. So kann Weißpflug unter anderem auch auf Arendts Kafka-Deutung zurückgreifen. Ihr Ansatz, Kafkas Texte als Vorausdeutung totalitärer Bürokratie zu lesen und sich nicht mit psychologischer Allegorese und damit Zeitflucht aufzuhalten, verdient unbedingt die Aufmerksamkeit der Kafka-Forschung. Denn Arendts diesbezügliche Ausführungen sind in der Sammlung Sechs Essays beziehungsweise Die verborgene Tradition bisher weitgehend untergegangen, obgleich Arendt Kafka durch die gemeinsam mit Max Brod besorgte Herausgabe der Tagebücher erschlossen hat (New York 1949).

Kafkas Lachen steht für Arendt im Vordergrund einer subversiven Verweigerung der Unterwürfigkeit unter ein System des Todernsten. Im Lachen liege ein Zeichen von Freiheit und Unbekümmertheit, Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, Unverbildetheit und Mut zur unmittelbaren Reaktion, ohne Rücksicht auf vorgegebene Erwartungen, Theorien und vorgefertigte Weltbilder. Damit ist Lachen sowohl Ausdruck der Pluralität als auch des Gemeinsamen im multiperspektivischen Reagieren. Weißpflug verweist an dieser Stelle auch auf Michail Bachtin und dessen Abwehr eines totalitären Pathos (in der Stalinzeit) sowie auf den amerikanischen Politologen John Lombardini, der „civic laughter“ und „the political virtue of humor“ in der Tradition sokratischer Ironie verortet.

Außerdem greift Weißpflug die bisher wenig beachtete Würdigung der Sechs Essays durch Ágnes Heller auf, die kürzlich verstorbene Nachfolgerin auf Arendts New Yorker Lehrstuhl, die Heller 1995 bei einem Symposion in der Alten Synagoge Essen gab. Heller beschreibt darin Arendts Konzept der Existenz in Form einer Selbstwahl in Momenten der Befreiung von vorgegebenen Rollen zugunsten der Agierens in der ‚weiten Welt‘ (amor mundi), wie Arendt es in ihren Porträts von Menschen in finsteren Zeiten analysiert.

In diesem Zusammenhang hätte Weißpflug sicher auch auf Arendts Darstellung French Existentialism von 1946, im November 2017 zuerst auf Deutsch erschienen, verweisen können, in der „l’ esprit sérieux‘ als bürgerliche Ernsthaftigkeit und Respektabilität, ein Funktionieren ohne Freiheit, als eine hohle Würde, wie Kafka sagen würde, abgelehnt wird. Ebenso ist Arendts Denkhaltung keine abgeschlossene Theorie nach den ehernen Gesetzen der Vernunft, sondern eine Praxis im Vollzug der ‚krummen Wirklichkeit‘, wie es bereits bei Gotthold Ephraim Lessing anzutreffen sei, der sich ebenfalls für die Dyade von Politik und Literatur interessiert habe.

Weißpflug macht darüber hinaus auch auf entlegenere wissenschaftliche Bezüge aufmerksam, zum Beispiel Arendts Kontakt zum Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré, dem Autor von From the Closed World to the Infinite Universe (1957), den sie in ihrer Pariser Zeit kennenlernte. In Koyrés Beschreibung der Moderne in der Physik erkennt Arendt eine Entfremdung von einem vorgegebenen archimedischen Punkt, die aber zur Übernahme einer Verantwortung für die Welt im Sinne eines Platzes zum Leben (amor mundi) und nicht eines Ortes der selbstvergessenen Zerstörung herausfordert. Hier nun schlägt Weißpflug abermals einen Bogen zu Arendts Marx-Interpretation. Arendt kritisiert, dass Marx nicht die Weltentfremdung, sondern nur die Selbstentfremdung, die aber die Folge der ersteren sei, beschrieben hat, obgleich dies in seinen frühen Schriften noch anders sei, so dass Marx‘ Idealgesellschaft noch deutlicher als die kapitalistische Gesellschaft das Subjekt an die von ihm produzierten Objekte ausgeliefert hätte. Arendts Warnung vor der Weltentfremdung und allgemeinen Weltlosigkeit in der Philosophie liefert dann auch Weißpflug einen Ausblick auf die Gegenwart, in der die Zerstörung des Lebensraumes Welt ‚grenzwertig‘ geworden ist und nach einer neuen Politik des Mitdenkens und der Mitsprache verlangt, die mit Arendt gewonnen werden könne und aktuell auch schon werde.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
318 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577214

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