Wenn der Dämon in uns aus seinem Schlaf erwacht
In ihrem neuen Roman „Les loyautés“ untersucht Delphine de Vigan das Phänomen der Treue — gegenüber unseren Mitmenschen, der Vergangenheit und uns selbst
Von Anna-Zoe Mauel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseThéo trinkt. Er trinkt so viel, dass Mathis, sein einziger Freund, befürchtet, er könnte sich zu Tode trinken. Das Verstörendste daran: Théo und Mathis sind gerade einmal 12 Jahre alt. Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan erzählt die traurige Geschichte einer, nein, gleich mehrerer zerstörter Kindheiten und untersucht die oftmals totgeschwiegenen Kehrseiten unserer Gesellschaft: Hélène ist Lehrerin an einer Pariser Schule und macht es sich zur Aufgabe, dieses Schweigen zu brechen, unter dem die kleineren und größeren Katastrophen des Alltags begraben werden. Zwar irrt sie sich in ihrem Schüler Théo – er wird nicht misshandelt, so wie es ihr in ihrer Kindheit geschehen ist; dennoch spielen sich in seinem Leben Dinge ab, die ähnlich traumatisierend sind wie die schrecklichen Kindheitserfahrungen Hélènes. Diese leben wieder in ihr auf, als sie sich mehr und mehr um ihren Schüler sorgt und versucht, hinter das Geheimnis seines zunehmenden körperlichen und psychischen Verfalls zu kommen. Denn Hélène hat nichts vergessen.
Die Autorin macht deutlich, um was es in ihrem Roman geht: Loyalitäten. Théos Eltern sind getrennt; er hat keinen Rückzugsort, gehört nirgendwo hin, weder in die Welt seines verwahrlosten, arbeitslosen Vaters, der sich selbst aufgegeben hat, noch zu seiner Mutter, die den Teil ihrer Vergangenheit, der mit ihrer gescheiterten Ehe zu tun hat, aus ihrer Existenz gelöscht hat. Er gehört nicht mehr zu den Kindern, aber auch noch lange nicht zu den Erwachsenen. Trotzdem steht er bedingungslos hinter seinen Eltern, denn er sieht den Schmerz seiner Mutter, sieht das vergebliche Bemühen seines Vaters, sein Leben noch irgendwie zusammenzuhalten. Natürlich ist Théo überfordert, und so sucht er Schutz und Erleichterung im Alkohol. Er kämpft an gegen die Angst und gegen das Kind in ihm, das in seinem Leben keinen Platz mehr hat.
Als Cécile, Tochter eines Alkoholikers und Mutter von Mathis, herausfindet, dass ihr Sohn gemeinsam mit Théo trinkt, gibt sie sich selbst die Schuld. Wie Hélène wird sie verfolgt von ihrer Vergangenheit. Ihr Mann kommt aus einem anderen Milieu, er ist der typische Bildungsbürger; dies führt dazu, dass sie sich stets die Schuld gibt, wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich in der Welt ihres Mannes vorstellt. Doch ihre Situation verändert sich, als sie erfährt, dass ihr Mann ein Doppelleben führt und seinen Hass auf die Welt im Internet auslebt. So wird ihre bedingungslose Loyalität in ihren Grundfesten erschüttert.
Ihr Leben lang hat Hélène über die Misshandlungen durch den gewalttätigen Vater geschwiegen. Nun hinterfragt sie ihre kindliche Loyalität ihrem Vater gegenüber. Warum hat sie geschwiegen? Hätte sie das Schweigen nicht schon längst brechen müssen?
Zu Beginn des Romans befürchtet man, auf den folgenden 200 Seiten mit Stereotypen überhäuft zu werden: das Scheidungskind, das seinen Platz in der Welt sucht; die in ihrer Kindheit misshandelte Lehrerin, die ihre Erfahrungen nie verarbeitet hat; die kaputte Ehe einer traumatisierten Frau. Doch der Roman bleibt nicht stehen bei einer Aufzählung von klischeehaften Fällen menschlichen Leidens. Delphine de Vigan zeigt sich als geschickte Erzählerin von Erfahrungen, die nur schwer in Worte zu fassen sind. Es handelt sich nicht um einen Gesellschaftsroman, sondern um eine extrem intime Reise in das Leben einer kleinen Gruppe von Menschen, die von ihrer Vergangenheit und ihren Schuldgefühlen verfolgt werden. Vigan erzählt, wie sich kaum merklich Entfremdung in die Beziehungen einschleicht, wie Menschen sich selbst und einander zerstören, ohne es bewusst zu wollen, sie erzählt von den Problemen des Erwachsenwerdens, von Einsamkeit und Verwundbarkeit, von Demütigungen und Verletzungen, von Hass.
Der Roman wertet nicht. Vielleicht ist gerade das seine Stärke. Hélène mischt sich in das Leben ihres Schülers ein, doch die Beurteilung ihres Verhaltens – ob sie gut daran tut oder nicht – bleibt dem Leser überlassen. Die Frage nach der Schuld muss ebenfalls vom Leser selbst beantwortet werden: Inwiefern ist man für das Leiden seiner Mitmenschen und für sein eigenes verantwortlich?
Das Einzige, an dem man sich wirklich stören kann, ist die Erzählweise. Die Kapitel über Cécile und Hélène sind aus der Ich-Perspektive geschrieben, die über die beiden Jungen nicht. Das ist ein wenig verwirrend, denn es gibt keinen erkennbaren Grund für die Anwendung dieses Verfahrens. Doch Vigan behandelt ihre Themen sachlich und konzis, wie man es auch schon aus ihren früheren Romanen kennt. Die Nüchternheit ihres Stils kontrastiert wirkungsvoll mit dem oftmals aufwühlenden Inhalt. Gerade die Themen, die entweder totgeschwiegen oder maßlos aufgebauscht werden, sind die ihren, beispielsweise psychische Störungen (Jours sans faim, 2001; Rien ne s’oppose à la nuit, 2011) oder soziale Ungerechtigkeit, zum Beispiel Arbeits- und Obdachlosigkeit (No et moi, 2007).
Der Roman ist kein angenehmes Buch, sondern ein ziemlich düsteres. Doch auch wenn es sich nicht um neue, bahnbrechende Themen handelt, ist das Lesen lohnenswert, gerade weil das Ende viel Raum zur Interpretation lässt. Dem Leser werden Fragen gestellt, die er sich nicht stellen will, aber stellen sollte: Wie weit geht meine Treue? Wo gilt es zu schweigen und wo zu reden? Verbirgt nicht jeder von uns in sich den Dämon der eigenen Vergangenheit? Der Leser muss nur bereit sein, sich auf diese Fragen einzulassen.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2018 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2018 erscheinen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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