Ein Riesenfundus an Zukunftsvisionen – sorgfältig gedeutet

Über Manfred Windfuhrs Analyse der deutschsprachigen utopischen Literatur von 1939 bis 1989

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manfred Windfuhrs 900 Seiten-Werk im Lexikonformat widmet sich der erzählenden utopischen Literatur, also den literarischen Zukunftsvisionen, und zwar den deutschsprachigen der Jahre 1939 bis 1989. Sind diese 50 Jahre tatsächlich so reich an derartigen Texten? In der Tat, behandelt Windfuhr doch ausführlich 80 Werke und stellt weitere 80 in Kurzanalysen vor. Die Kriegszeit von 1939 bis 1945 hat mehrere Zukunftsvisionen hervorgebracht, man denke nur an Hermann Hesses Glasperlenspiel, das nicht nur kriegs- und hitlerkritisch, sondern auch kulturkritisch ist. Fruchtbar waren dann das ‚neue Deutschland‘, das die frühe DDR sein wollte, mit seinen sozialistischen Entwürfen (die Aufbau-Utopien von Eduard Claudius und Erik Neutsch, die realistisch Arbeiterwelt und Produktionsverfahren beschreiben), die Epoche das Kalten Krieges zwischen Ost und West und das erstarkende ökologische Bewusstsein, woraus sich die gesellschaftskritischen Warnutopien entwickelten. Ernst Blochs Prinzip Hoffnung (1959) machte die Gebildeten für Utopien sensibel und beflügelte die Forschung. Wenn nach der Wende 1989 das „Ende der Utopien“ proklamiert wurde – ein Gedanke, den der Bücherfreund Windfuhr zwar zitiert, aber nicht bejaht –, so bezog sich diese Proklamation vor allem auf die wissenschaftlichen Utopien, etwa die Marx’sche. Gleichzeitig bezeugt das Diktum den Reichtum der damals vorliegenden utopischen respektive dystopischen Fantasien.

Die Systematik dieses Buches erfasst die Zukunftsvisionen in vier Kapiteln. Diese beschreiben die christlich orientierten, die sozialistischen und die grün-alternativen Utopien. Ein letztes Kapitel behandelt die Dystopien (dys-: griech. miss-, übel-) und ihre Katastrophenszenarien. Windfuhr wirft einen erhellenden Blick auf ältere utopische Texte – auf Dantes Göttliche Komödie, Thomas Morusʼ Utopia, Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, H.G. Wellsʼ The Time Machine und viele andere. Er belegt auch, dass die christlichen Utopien wesentliche Impulse vom jüdischen Begriff der Erlösung erhalten haben. Die grün-alternativen Entwürfe schließen sich an die antike Bukolik an, die sozialen Utopien an Platons Der Staat, die Katastrophen-Texte an das griechische Kassandra-Motiv.

Was das Kapitel über sozialistische Utopien betrifft, so stellt Windfuhr dar, wie die Autoren der DDR ab 1960 immer parteikritischer wurden: Mit der „Funktionärsschicht“ entstand die „Parteidiktatur“, das Individuum wurde „entmachtet“. Schriftsteller wie Erwin Strittmatter (sein Ole Bienkopp schildert eine Glücksvision, zu der Landschaft, Mensch und Tier gehören), Brigitte Reimann und Volker Braun wollten einen humanen Kommunismus. Windfuhr sieht hier ein Stück Weltliteratur, denn: „Auch in anderen Weltregionen erzeugen die moderne Landwirtschaft, der standardisierte Städtebau und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern ständig Konflikte“. Die DDR-Autorin Irmtraud Morgner attackiert die unterdrückte Stellung der Frau; ihr Montage-Roman Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) bietet eine ausgefeilte Utopie modernen Zusammenlebens, die den offiziellen Lebenszielen der DDR „geschickt und subversiv“ zuwiderläuft.

Im Kapitel über grün-alternative Utopien erscheinen die Apokalypsen des Technik-Wahns (bei Franz Fühmann, Wilhelm Lehmann, den Brüdern Jünger), das Nahen des Nuklearkrieges (bei Christa Wolf) und die Suche nach Sinnlichkeit (Günter Herburger, Marlen Haushofer). Windfuhr erörtert ebenso die zum Kultbuch gewordene Polemik Der Papalagi, die angebliche Rede eines Südsee-Häuptlings, verfasst und nicht nur herausgegeben von Erich Scheurmann, die erstmals 1920 gedruckt wurde, aber erfolgreich in hohen Auflagen erst ab 1977 reüssierte. Windfuhr betont die bekannte Tatsache, dass die Naturvölker keineswegs nur human und pazifistisch waren, aber er lobt doch die Naturverbundenheit und die Zivilisationskritik, die Der Papalagi vorträgt, und nennt Parallelen zu Peter Handkes Tadel der modernen Medien und unserer „Zivilisationsaugen“ in seinem Roman Bildverlust. Das Kapitel über christliche Utopien behandelt Werner Bergengruen, Carl Amery und sehr eingehend Die Sintflut (1960) von Stefan Andres, während im Dystopie-Kapitel am ausführlichsten Thomas Mann (Doktor Faustus), Friedrich Dürrenmatt, Arno Schmidt und Günter Grass (Die Rättin) thematisiert werden.

Windfuhrs Darstellung durchzieht eine Grundüberlegung: Ein utopisches Werk entsteht in einem bestimmten Zustand der Gesellschaft; aus ihm sprechen, so Windfuhrs glückliche Formulierung, „Erfahrung und Erfindung“. In seinen Exegesen der einzelnen Werke deckt er auch die sozialen Verhältnisse der jeweiligen Entstehungszeiten auf.

Von hier aus erkennt der Autor, dass die utopische Literatur unter zweifachem Vorzeichen steht. Zum einen sind es schöngeistige Werke, die keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, sie wollen „nicht generalisieren, sondern individualisieren, verkörpern, sinnliche Präsenz generieren“. Daher zeigt Windfuhr viele poetische Feinheiten, sagt etwa über Arno Schmidt, er arbeite „mit einer wachsenden Menge an Anspielungen, Concettis, Lautmalereien, Sprachspielen und Banalisierungen“. Über die Poesie in Hesses Glasperlenspiel stellt er fest: „Die Chronistenfikton gibt dem Ganzen einen distanzierten, oft heiteren, manchmal witzigen Charakter“, immer wieder mit „Beigaben von Selbstironie“. Damit werde dessen Utopie sogar zur Reflexion über dieselbe. Andererseits konstatiert Windfuhr, es gehe bei den Utopien nicht nur um ästhetische Dimensionen, vielmehr seien sie „ein Teilgebiet der engagierten Literatur“.

Gewiss hätte Windfuhr beim Stichwort „engagierte Literatur“ tiefer gehen und etwa die Frage aufwerfen können: Inwieweit bedarf überhaupt jede engagierte Literatur eines utopischen Ansatzes, einer utopischen Grundstimmung? Oder noch weiter: Das bekannte Diktum „Literatur ist Utopie“ von Gert Ueding hätte herangezogen werden können für eine Diskussion über die Sonderrolle oder die Nicht-Sonderrolle, die die Zukunftsfantasien in der Literatur haben. Solch eine Diskussion hätte gut in das Buch gepasst, denn es behandelt  ja auch solche Utopien, die von den Autoren für die nächste Zukunft herbeigewünscht werden.

Doch so Grundsätzliches spricht Windfuhr nicht an. Die Stärke seines Buches liegt in der Fülle des ausgebreiteten Materials. Zukunftsvisionen ist eine gewaltige Fleißarbeit – was keinesfalls abwertend gemeint ist – und beeindruckt noch mehr durch seinen riesigen Hintergrund an literarhistorischem Wissen, seine querverbindungsreichen Rundumsichten,  seine kluge Systematik und seinen leicht fasslichen und aussagekräftigen Stil.

Titelbild

Manfred Windfuhr: Zukunftsvisionen. Von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
883 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783849811334

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