Im Reißwolf zweier Diktaturen

In „Sie kam aus Mariupol“ widmet sich Natascha Wodin der Geschichte ihrer Familie und setzt dabei nicht nur ihrer Mutter ein berührendes literarisches Denkmal

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natascha Wodin wurde im Dezember 1945 als Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin in Fürth geboren. Als sie zehn Jahre alt war, nahm sich ihre Mutter das Leben. Fern der Heimat und sich nirgendwo zugehörig fühlend, hielt die 36 Jahre alte Frau ihre Situation nicht länger aus. Ihre letzte Lebenszeit verbrachte sie schweigend neben einem zu Alkohol und Gewalt neigenden Ehemann, der sich in seiner russischen Sprache und Vergangenheit vergrub, und zwei Töchtern, die nach ihrem Tod in einem katholischen Mädchenheim erzogen wurden. Aus Leipzig geflohen, da dort die Gefahr einer Rückführung der Eltern in die Sowjetunion Stalins, wo ihnen aufgrund der Tatsache, dass sie für den „Feind“ gearbeitet hatten, Verbannung und Tod drohten, groß war, hatte die Familie schließlich in der fränkischen Stadt Forchheim Unterschlupf gefunden.

Viel über die Herkunft ihrer „arme[n], kleine[n], verrückt gewordene[n] Mutter, die aus dem dichtesten Dunkel des blutrünstigen 20. Jahrhunderts kam“, hat Natascha Wodin nie erfahren, ja nicht einmal die Tatsache, dass ihre Eltern als Zwangsarbeiter im vorletzten Kriegsjahr nach Deutschland kamen, war ihr lange Zeit bewusst: „Jahrzehntelang wusste ich nichts von meinem eigenen Leben. Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war.“

Um sich des Spotts und der Gemeinheiten ihrer Forchheimer Mitschüler zu erwehren – die Lehrerin des Mädchens, eine „germanische Blondine mit stahlblauen Augen“, trug mit ihren Erzählungen „von den Gräueltaten der Russen, von ihrer Mordgier und Bestialität“, nicht unbedingt zur schnellen Integration des Mädchens bei –, flüchtet sie sich in Lügen und Erfindungen. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wird ihr klar, dass sie mit ihren aus der Not geborenen Flunkereien über eine reiche russische Fürstenfamilie, in der sie aufwuchs, ehe sie in den Wirren der Kriegszeit bei ihren jetzigen Eltern landete, nicht allzu weit weg von den Tatsachen ihrer großbürgerlichen Herkunft war.

57 Jahre nach dem tragischen Tod der Mutter öffnet sich für die Tochter ein erstes Fenster in die Vergangenheit. Sie, deren Schreiben schon immer eng an ihre Biografie gebunden war – man denke an Romane wie Die gläserne Stadt (1983), Nachtgeschwister (2009) oder Alter, fremdes Land (2014) – und der deshalb diese Mutterlücke besonders spürbar gewesen sein muss, findet bei einer eher zufälligen Recherche im russischen Internet eine erste Spur zu ihrer verschollenen Familie. Sie führt ins ukrainische Mariupol am Asowschen Meer und zu Menschen, die in den Wirren von Krieg, Revolution, Hungerjahren, Verbannung und Deportation ein Maß an Leiden auf sich zu nehmen hatten, wie es kaum vorstellbar ist. Von hier an betritt die Autorin, wie einem Ariadnefaden folgend, das Labyrinth der eigenen Vergangenheit. Und statt der geplanten kleinen Erzählung über die ihr immer rätselhaft gebliebene Mutter entsteht mit Sie kam aus Mariupol ein großer und wichtiger Text gegen das Vergessen.

Dabei bleibt die Hauptperson der sich schnell ausweitenden Recherche nach wie vor jene Figur, der am wenigsten lebendige Realität zugeordnet werden kann. Im dritten Teil des Buchs, der dem Zwangsarbeiterschicksal der Eltern nachforscht, müssen fehlende private Dokumente – Teil 1 zeichnet auf spannende Weise die Recherche Wodins nach, Teil 2 kommt als die literarische Bearbeitung eines Lebensberichts daher, den Lidia, die ältere Schwester der Mutter, im hohen Alter geschrieben hat –, ersetzt werden durch historiografische Quellen. Mutmaßungen und als Fragen formulierte Vermutungen dominieren da, wo der direkte Zugang aufgrund fehlender Informationen nicht mehr möglich ist. „Ich stelle mir vor …“, heißt es nun oder „Ich nehme an …“

Doch gerade diese Unklarheiten in Bezug auf die genauen Umstände des eigenen Herkommens lassen Natascha Wodins Buch zu mehr als einer singulären Suche nach Identität werden. Über die Dokumente, die der Autorin aus der Ukraine und aus Russland von dem bald zum Freund und E-Mail-Partner langer Nächte im Netz avancierenden Hobbygenealogen Konstantin zugänglich gemacht werden, sowie eigene Nachforschungen und literarische Fundstücke rückt die Tragik eines ganzen Jahrhunderts in den Blick. Einer Zeit, in der die einander ablösenden totalitären Ideologien sich um den Einzelnen nicht scherten. Einer Zeit aber auch, die sich über generalisierende Beschreibungen lange nicht so eindrücklich rekonstruieren lässt wie über berührende Einzelschicksale.

„Die Blackbox meines Lebens hatte sich in der Neige meiner Jahre geöffnet“, heißt es gleich zu Beginn von Natascha Wodins Text, der im Übrigen keine Genrebezeichnung trägt, sondern dokumentarische und fiktive Elemente mischt, erfindet, wo es an Belegen mangelt, und belegt, wo es die Fantasie nicht braucht. Und, einmal zugänglich gemacht, erhellen sich in der Folgezeit immer mehr dunkle Ecken einer Vergangenheit, die ihre Mutter ein Leben lang mit Schrecken erfüllte, Schrecken, die sie verstummen ließen und ihr allenfalls einen einzigen Satz entlockten, der der Tochter allerdings für immer im Gedächtnis blieb: „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe …“

Ganz wunderbar lesen sich im Übrigen auch die Naturbeschreibungen, die die Autorin in den ersten Teil ihrer Erkundungen einflicht. In einer kleinen Wohnung am mecklenburgischen Schaalsee, durch den zweieinhalb Jahrzehnte früher die deutsch-deutsche Grenze verlief, hat sie im Sommer 2013 ihr „Arbeitsquartier“ aufgeschlagen. Von ihrem „Logenplatz im Universum“ aus beobachtet sie nie zuvor gesehene Sonnenaufgänge, gibt sich „luziden, epischen Träume[n]“ hin und freut sich nach jeder Nacht auf das Wiedersehen mit dem „blaue[n] Leuchten“ des Sees vor ihrem Fenster, während ihr E-Mails aus dem fernen Russland Stück für Stück sowohl ihre eigene als auch die tragische Geschichte ihrer Familie erhellen.

Seinen Höhepunkt hat dieses hochspannende, glänzend geschriebene, den Rahmen einer Suche nach den eigenen Wurzeln weit überschreitende Buch allerdings in den Passagen, die das Leben der vierköpfigen Familie – die jüngste Tochter kommt Anfang der 1950er-Jahre zur Welt – in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende beschreiben. Nicht zurück zu können in die Heimat und in der Fremde nicht heimisch zu werden, dürfte das Schicksal vieler aus ihren Herkunftsländern verschleppter und als Arbeitssklaven missbrauchter Menschen gewesen sein. Unerwünscht bei und gemieden von den Deutschen, reagierten Natascha Wodins Eltern auf diese Zurücksetzung damit, dass sie an dem Stückchen Identität, dass ihnen noch verblieben war, besessen festhielten: ihrer Sprache.

Für die Tochter freilich ist dieser Trotz der falsche Weg. Ihr Sehnen auszubrechen, wegzukommen aus Verhältnissen, die ohne Zukunft sind, hat hier seinen Ursprung: „Ich wollte nur weg, nichts wie weg, alles für immer hinter mir lassen, mich endlich losreißen in mein eigenes und eigentliches Leben, das mich irgendwo draußen in der Welt erwartete.“ Dass es die deutsche Sprache ist, die sie ihrer Isolierung letztlich entkommen lässt, kann sie als Kind freilich nur erahnen: „Die deutsche Sprache wird zum starken Seil, das ich sofort ergreife, um mich daran hinüberzuschwingen auf die andere Seite, in die deutsche Welt. Sie ist zwar noch unerreichbar für mich, aber ich weiß, dass sie auf mich wartet, dass ich eines Tages ein Teil von ihr sein werde.“

Sie kam aus Mariupol ist Wodins Auseinandersetzung mit ihrem Lebensstoff. „[I]n einem vielleicht letzten Buch zu sagen, was ich in meinem ersten hätte sagen müssen“, begreift die Autorin als das Nachholen eines Versäumnisses. Zu „Geschichtsschreibung“ und „Phantasie“ – beide ihrem Stoff als Quellen nur unzureichend angemessen – sind endlich Informationen gekommen, die es ihr erlauben, nicht nur das Schicksal der Mutter rekonstruieren zu können, sondern über dieses hinaus Millionen von Zwangsarbeitern ein literarisches Denkmal zu setzen, die in der deutschen Kriegswirtschaft die Arbeit jener Männer taten, die zur gleichen Zeit ihre Herkunftsländer verwüsteten.

Titelbild

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
368 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073893

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