Kritische Rezeption

Benedikt Wolf über die Figur penetrierter Männlichkeit

Von Stefan BreitrückRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Breitrück

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benedikt Wolf legt mit Penetrierte Männlichkeit eine Monografie vor, die sich aus diskurshistorischer und -analytischer Perspektive der poetischen Darstellung penetrierter Männlichkeit in modernen Erzähltexten annimmt. Flankiert von Einleitung, Resümee und einem Theorie-/Methoden-Kapitel, gliedert sich der Band in fünf Kapitel, in denen je paarweise interpretiert werden: ausgewählte Belletristik bis zum Jahr 1933 sowie Felix Rexhausens Die Sache und Berührungen, Otto Julius Bierbaums Prinz Kuckuck und Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Hubert Fichtes Das Waisenhaus, Franz Kafkas Ein Landarzt und Hans Henny Jahnns Die Nacht aus Blei sowie Arnolt Bronnens Die Septembernovelle und Hans Henny Jahnns Jeden ereilt es.

Mit Nachdruck betont Wolf, dass sein Thema nicht männliche Homosexualität, sondern die titelgebende (Denk-)Figur des penetrierten Mannes ist, auch wenn diese in der heteronormativen Diskursgeschichte nicht von männlicher Homosexualität, genauer: vom typischerweise mit Ekel, Schmerz, Demütigung, Passivität und Weiblichkeit konnotierten Bild rezeptiver Analsexualität, zu trennen ist. Und tatsächlich besteht ein großes analytisches Verdienst der Arbeit darin, diese „diskursive Legierung“ aufzubrechen, die Verhältnisse zwischen männlicher Homosexualität und penetrierter Männlichkeit genau in den Blick zu bekommen und hieran anschließend innovative Konzeptarbeit zu leisten. So etwa, wenn Wolf neben sex, gender und desire den Parameter der „Penetrationsrolle“ im Begriffsapparat der queer-theoretischen Lektürehinsicht verankert: Ein Konzept, das die binäre Opposition von Penetration und Penetriert-werden sowie deren stereotype Verknüpfung mit Männlichkeit und Weiblichkeit, Aktivität und Passivität, Macht und Unterwerfung im Rahmen der heteronormativen „Logik der Differenz“ ansichtig macht.

Die Fragen, die Wolfs Studien anleiten, lauten: (1) Wie wird penetrierte Männlichkeit in der histoire erzählt? Wird sie, im voranstehend skizzierten Sinne, konventionell oder unkonventionell konnotiert? (2) Wie wird penetrierte Männlichkeit durch den discours adressiert? Welche konkreten poetischen Verfahren verbinden sich mit ihr? (3) Was leisten die penetrierte Männlichkeit erzählende histoire und der penetrierte Männlichkeit ausdrückende discours in heteronormativitätskritischer Hinsicht? Tragen sie zu einer Stabilisierung, Kritik oder gar zu einer Transformation der Heteronormativität bei?

Das primärliterarische Korpus, das Wolf in den Blick nimmt, umfasst einen Zeitraum von 1905 bis 1969, der seine Rahmung durch zwei zentrale Ereignisse für die Geschichtsschreibung männlicher Homosexualität erhält: Zu Beginn die Publikation von Sigmund Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, die für Wolfs Untersuchungsgegenstand insofern zentral sind, als dass sie ein männliches rezeptives Begehren unabhängig von Homosexualität denkbar werden ließen, und am Ende die Reform des § 175 StGB, welche homosexuelle Praktiken zwischen Männern weitgehend straffrei stellte.

Es ist ein ambitioniertes Programm, dem sich Wolf verschreibt, wenn er mit seinem Band sowohl eine Poetologie penetrierter Männlichkeit als auch eine Historiografie ebendieser Poetologie anbieten möchte. Die Skala, auf der sich die poetische Formgebung penetrierter Männlichkeit bewegt, ist diejenige zwischen den Polen rhetorisch verstellender Dethematisierung und relativer Explizität. Konkret in den Blick genommen werden dabei in je einem Kapitel die alludierende, ironische, metaphorische, metonymische sowie schließlich die unverstellte Darstellung penetrierter Männlichkeit. Dabei eröffnet jedes Kapitel mit einem konzeptgeschichtlichen Abriss zum jeweils fokussierten Tropus, um sodann jeweils einen Text aus dem Zeitraum bis 1933 mit einem topisch verwandten Roman aus dem Zeitraum nach 1945 zu konfrontieren, um eventuellen diachronen Entwicklungen in der Verwendung des zur Debatte stehenden Stilmittels nachzuspüren. Ein Vergleich, der allerdings weitgehend ergebnislos bleibt, wie der Autor freimütig bekennt. Die Zeit des nationalsozialistischen Regimes wird dabei aufgrund des praktisch nicht-existenten Primärmaterials ausgeklammert.

Es ist aufgrund des sehr hohen Niveaus ausnahmslos aller Studien in Wolfs Band schwierig, eine illustrierende Akzentuierung zu begründen. Exemplarisch sei die erste Studie des dritten Kapitels Metapher: Sexualität in Erziehungsinstitutionen herausgegriffen, die sich nach einer metapherntheoretischen Einführung (Aristoteles, Nietzsche, Freud, Lacan, Jakobson) Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß widmet. Der Ausgangspunkt ist hier eine Synthese der, in der Forschung zu oft sträflicherweise getrennt voneinander untersuchten, Topoi der (1) Sprachkritik im Törleß, des (2) transsexuellen Begehrens des Protagonisten und des (3) heteronormativ-homosozialen Beziehungsgefüges im Konvikt zu W. zwischen den Zöglingen Törleß, Beineberg, Reiting und dem als Dieb überführten Basini, der zur Strafe Opfer analer Vergewaltigung wird. Die Problematisierung sprachlicher Weltrepräsentation im Törleß sei gemäß Wolf unbedingt sexuell zu lesen; umgekehrt stelle sich Törleßʼ sexuelles Problem auch als ein sprachliches dar.

In seinem epistemologischen Begehren klopft Törleß unter anderem die weltreferentiellen Möglichkeiten des Metaphorischen ab, doch werde schnell klar, dass auch Metaphern das Signifikat nicht zu fassen bekommen, dass sie allenfalls zirkulär auf ihre eigene Metaphorizität und somit implizit nur wieder auf das Ausgangsproblem hinweisen können. Gleichwohl lernt er im Mathematik-Unterricht – und hier zeigt sich beispielhaft Wolfs minutiöses close reading – das Konzept imaginärer Zahlen kennen, die eine Denknotwendigkeit darstellen und mit denen sich problemlos operieren lässt, auch wenn ihnen kein reeller Wert entspricht. Eben dieser Stoff wird bei Wolf zur Blaupause für eine heteronormativitätskritische Lektüre des Törleß. Über eine Parallelisierung von mathematischen Gleichungen, die i-Terme aufweisen, mit der transsexuellen Begehrenskette des Törleß, der sich über seinen Status quo als Junge sowie über seinen Fluchtpunkt, ein Mädchen sein zu wollen, völlig im Klaren ist, ohne aber zu verstehen, was sich dazwischen abspielt – hier das i, wenn man so möchte –, kommt Wolf zur Kardinalmetapher seines Unterfangens, dem von ihm so benannten „analen Signifikanten B.“. An einer zentralen Stelle des Romans wird Törleß darüber informiert, dass man den Dieb im Konvikt gefasst habe; doch auf Nachfrage, wer es denn sei, antwortet man ihm nur mit genannter Chiffre, die sich ihrerseits wie eine mathematische Variable ausnimmt. Eine Variable, die im Törleß (vor-)eilig mit „Basini“ aufgelöst wird, an Ort und Stelle aber auch ohne Weiteres die Figuren Božena oder Beineberg meinen könnte. Namen, die im nächsten Textumfeld fast demonstrativ Nennung finden, so als wolle der Roman seine allzu zügige Namensaktualisierung ad absurdum führen.

„B.“ stelle auf der Ebene des discours, so Wolf, eine Chiffre der Indifferenz dar, die sprachlich-diakritische und diskursive Differenzierungen dispensiert und als Konstruktionen exponiert. Dem „despotischen Signifikant“ des Phallus, der die heteronormative „Logik der Differenz“ auch im Konvikt zu W. bestimmt, wird das anale und egalitäre „B.“ – der Buchstabe erinnert noch visuell an ein Gesäß – gegenübergestellt, das allen Menschen gemein ist. Auf der Ebene der histoire erkenne Törleß am kryptischem „B.“, das unmittelbar Basini und mittelbar die verbrecherische Penetration bezeichnet, die diesen ereilt, dass „nicht der mystische Gegenstand der Sprache vorgängig ist, sondern dass umgekehrt eine sozial erzeugte Sprachlosigkeit den Gegenstand erst als mystisch erzeugt.“ Durch das „B.“, durch die Figur penetrierter Männlichkeit, erkennt Törleß die performative Kraft der Sprache, hier in der Spielart der Verschleierung, die ihn auch zur Irreferentialität gegenüber der Welt und zur Blindheit angesichts der eigenen Transsexualität verdammt. Eine diskursive Hermetisierung, die aber grundsätzlich reflektier- und umkehrbar scheint, sodass dem Roman prinzipiell eine heteronormativitätskritische Tendenz eignet.

Diese etwas ausführlichere Präsentation einer der Studien Wolfs kann nur andeuten, auf welch fulminante Weise der Autor theoretische Gelehrtheit, konzeptionelle Innovativität und philologische Kreativität auf sich vereint. Die Lektüre von Wolfs Band ist zum einem dem monografischen Leser, der sich fundiert zur Figur penetrierter Männlichkeit einarbeiten möchte, als auch demjenigen Leser, der sich dezidiert nur zu einem der behandelten Erzähltexte neue Einsichten erhofft, unbedingt zu empfehlen. Zudem offeriert Wolf ganz beiläufig immer wieder theorie- und konzeptgeschichtliche Kapitel, etwa zur Diskursgeschichte männlicher Homosexualität oder zu den genannten rhetorischen Tropen, die den Vergleich mit der Fachliteratur nicht scheuen müssen. Es handelt sich bei Penetrierte Männlichkeit summa summarum um nicht weniger als um ein motivgeschichtliches Grundlagenwerk, dass sich zukünftig als Referenz erweisen wird.

Titelbild

Benedikt Wolf: Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905-1969).
Böhlau Verlag, Köln 2018.
449 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783412511036

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