Am Anfang war sie heilig

Naomi Wolf präsentiert in „Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit“ Geschlechtervorurteile im wissenschaftlichen Gewand

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der internationale Bestseller Der Mythos Schönheit (1991) brachte Schriftstellerin und Aktivistin Naomi Wolf den Ruf einer Leitfigur des Dritte-Welle-Feminismus ein. Ihre Ausführungen zu unrealistischen Schönheitsidealen als soziales Konstrukt patriarchalischer Strukturen polarisierten und wurden von der Presse zum größten Teil positiv aufgenommen. Feminismus-Ikonen wie Gloria Steinem und Germaine Greer loben das Buch als eines der wichtigsten für die Emanzipationsbewegung und legen es jeder Frau ans Herz. Wolfs Publikation Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit eint Kritiker*innen und Feminist*innen erneut – dieses Mal in völliger Ablehnung. Von Vorwürfen der Selbstinszenierung, medizinischen Halbwahrheiten bis hin zu Sexismus deckt die „Anti-Vagina“-Kampagne alles ab. Die wütenden Stimmen übertreiben nicht: Das Sachbuch bietet wenig Neues aus der Sexualforschung, dafür eine Reihe von unüberlegten, unsensiblen Aussagen.

Als Ausgangspunkt für den zweijährigen Schreibprozess benennt Wolf die – für sie revolutionäre – Erkenntnis, dass der weibliche Beckennerv im Vergleich zum männlichen deutlich komplexer ausfällt und damit auf besondere Weise mit dem Gehirn verbunden ist. Dabei gibt sie durchgehend längst bekannte Experimente wieder, dank derer Wissenschaftler*innen den Zusammenhang zwischen Nervengeflechten im weiblichen Beckenbereich und Intelligenz, Selbstvertrauen, Kreativität sowie Orgasmusqualität bewiesen. In der Wechselbeziehung von Gehirn und Sexualität sieht Wolf den unumstößlichen Beweis dafür, dass die Vagina selbst weibliches Bewusstsein darstellt, die Hauptessenz der weiblichen Seele, das „Zentrum des Universums“.

Ihre Behauptung, Frauen seien in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – durch ihre Vagina bestimmt, ruft zu Recht genderqueere Feminist*innen wie Laurie Penny auf den Plan. Die britische Stichwortgeberin des jungen Feminismus geht in einem Online-Artikel mit Wolf hart ins Gericht, denn das eigene Geschlechtsorgan zum alles definierenden Merkmal für Männlichkeit und Weiblichkeit zu erklären, klammert ethnische oder sozioökonomische Unterschiede aus. Anstatt wie in neueren Forschungsansätzen das „doing gender“ – das alltägliche Ausagieren von Geschlechterkonzepten – zu vertreten, scheint für Wolf die Vagina der einzige Referenzpunkt für Weiblichkeit zu sein. Wer eine besitzt, ist eine Frau.

Ihre These belegt sie mit Interviews mit Nervenspezialisten, Reiki-Therapeuten, Vaginamasseuren und Gynäkologen. Die Argumente sind mit historischen Analysen, anatomischen Abbildungen und persönlichen Erfahrungen gespickt; der Drang zur biologischen Begründung ist deutlich herauszulesen. Die Wissenschaftsautorin Cordula Fine nennt in ihrem Buch Die Geschlechterlüge (2012) diese Art der Argumentation „Neurosexismus“. Die Gründe für Geschlechterunterschiede im Hirn und nicht in der Gesellschaft zu suchen, bleibt nach wie vor ein Trend. Die oft unwissenschaftlichen Studien bestreiten, dass das Selbstbild von Männern und Frauen von sozialen Erwartungen an die Geschlechter geprägt wird – stattdessen fördern sie mit medizinischen Halbwahrheiten weiterhin Geschlechtervorurteile. Dieses verwissenschaftliche Diskriminieren muss auch Wolf zur Last gelegt werden. Ihre Verantwortung beziehungsweise die der Forscher*innen, wenn es um gesellschaftlich relevante Schlussfolgerungen geht, ist von besonderer Bedeutung. Doch zitiert sie Studien, um Behauptungen zu stützen, die nicht einmal in bester Absicht aus diesen abgeleitet werden können. Ein Beispiel wäre das Experiment mit jungfräulichen Rattenweibchen zur Erforschung des weiblichen Lustempfindens bei niederen Säugetieren. Die interessanten Ergebnisse (unter anderem, dass „weibliche Ratten eine Penetration – genauer gesagt: eine Penetration, die sie kontrollieren können – mit klitoraler, vaginaler und zervikaler Stimulation dem ,Pinsel‘, der nur die Klitoris stimuliert, vorziehen“), werden in Vagina jedoch zu bereitwillig auf die sexuellen Vorlieben von Frauen übertragen. Es ist also keine Vorsicht bei der Veröffentlichung solcher wissenschaftlichen Ergebnisse selbst geboten – bei ihrer Interpretation aber durchaus.

Ferner tut die Autorin Frauen keinen Gefallen, indem sie die Rückkehr zum „klassischen Geschlechtsverkehr“ fordert, um die weibliche, göttliche Energie wieder spüren zu können. Das bedeutet: Sex in einer angenehmen, vertrauten Umgebung (gerne mit Kerzen und Blumendekoration), der ohne Spielzeug und Pornos auskommt – das alles selbstverständlich mit einem Mann, mit dem man sich emotional verbunden fühlt. Betont Wolf kurz zuvor noch die auf den unterschiedlichen Beckennervenverzweigungen basierende Einzigartigkeit jeder Frau, spricht sie ihnen hier ihre unterschiedlichen sexuellen Wünsche ab. Weibliche Sexualität als prüde Sexualität? Einschränkung der sexuellen Freiheit von Frauen? Als Vertreterin des Dritte-Welle-Feminismus sollte die Autorin wissen, dass die Regulierung der weiblichen Sexualität keine Lösung bietet, denn Frauen sind in ihrem Begehren vielfältig und können auf ganz unterschiedliche Weise zu ihrer sexuellen Erfüllung kommen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, bietet sie Männern einen (natürlich neurologisch begründeten) Aufgabenkatalog, um ihren „Göttinnen“ einen besseren Geschlechtsverkehr zu bescheren. Man ahnt es bereits: „Schenken Sie ihr Blumen, dämpfen Sie das Licht, sorgen Sie für Entspannung“ werden als Wunderwaffen hoch gehandelt.

Ein paar wenige Lichtblicke sind in der Publikation dann aber doch zu sehen. Die Weltkulturgeschichte der Vagina legt Wolf gut recherchiert und mit einigen interessanten Anekdoten dar. Damit verknüpft sie die Bedeutungsgeschichte des weiblichen Geschlechtsorgans in Literatur und Kunst. Wie sich die kulturelle Wahrnehmung der Vagina durch die Jahrhunderte hinweg wandelte und welche Auswirkungen das hatte, nimmt daher einen großen Teil des Buches ein:

In der chinesischen Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) oder in Indien des 5. oder im Japan des 13. Jahrhunderts, als die Vagina als allerheiligster Ort im allerheiligsten Tempel eines heiligen Universums galt, fasste auch das weibliche Gehirn die Vagina als heilig auf. Als die Kultur des mittelalterlichen Europa die Vagina während der Hexenverfolgungen als Tummelplatz des Teufels und Tor zur Hölle brandmarkte, dürfte sich eine Frau in ihrem Kern beschämt gefühlt haben. Eine Frau im elisabethanischen England, wo die Vagina als „Loch“ beschrieben wurde, dürfte innerlich Leere und Wertlosigkeit empfunden haben; und nach Sigmund Freud, als die Kultur zumindest in Deutschland, England und Amerika die vaginale Erregbarkeit zum Test der Weiblichkeit erhebt, empfindet sich die Frau womöglich als unzureichend weiblich.

Es ist deutlich auszumachen, dass Begriffe für die Vagina immer mehr sind als bloße Worte. Erfreulicherweise sagt Wolf dem abwertenden Sprechen über weibliche Genitalien den Kampf an, denn wie sie treffend erklärt: „Etwas öffentlich zu benennen, ist etwas ganz anderes als privat zu agieren – es hat etwas ausgesprochen Politisches. Etwas auszusprechen heißt, Fakten zu schaffen.“ Sie geht unter anderem der Frage auf den Grund, warum sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oft gezielt auf die Vagina gerichtet ist, woher diese immer gleiche Taktik, über alle Gesellschaftsschichten und sonstige Grenzen hinweg, kommt.

Die begrüßenswerte Auflehnung gegen sexistische Sprache kann aber letztlich nicht von der verwissenschaftlichen Diskriminierung ablenken, die Vagina durchdringt. Damit reiht sich Wolfs Buch in eine Reihe von (populär-)wissenschaftlichen Veröffentlichungen ein, die gesellschaftlich konstruierte Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zur Natur erklären. Die Autorin hätte besser an einer kritischen Hinterfragung getan, was in der Tat biologisch angelegt und was bei genauer Betrachtung eben doch nur ein soziales Konstrukt ist. Denn Letzteres ist flexibel und damit formbar – wir können es verändern.

Titelbild

Naomi Wolf: Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
441 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783499626913

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