Wenn aus einem Spiel Ernst wird

Maren Wurster erzählt in „Eine beiläufige Entscheidung“ eine ungewöhnliche Mutter-Sohn-Geschichte

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das alltägliche Glück ist nicht die Sache der Literatur. Sie nimmt sich vielmehr der Extreme des menschlichen Lebens an, wobei auch hier das extreme Glück selten im Fokus steht. Das durch kleine Fehler ausgelöste Leid und die Unzulänglichkeit des Menschen sind es, die den Stoff für gute literarische Werke ausmachen. Als ein Moment des größten Glücks hingegen gilt nach wie vor die Geburt eines Kindes. Dass dieses gemeinhin ‚freudige Ereignis‘ auch zu einer traumatischen Erfahrung werden kann, erzählt Maren Wurster in ihrem neuen Roman Eine beiläufige Entscheidung

Der Text, der im Titel als Roman bezeichnet wird, ist aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Die eine gehört einer jungen Mutter, die zunehmend mit der Betreuung ihres Kindes überfordert ist. Die andere rückt eben dieses Kind in der Pubertät in den Fokus. Das Buch ist so gebunden, dass es zwei Vorderseiten und keine Rückseite hat. Titelei und Buchumschlag sind für beide Seiten identisch und bieten keine Orientierung. So beginnt man die Lektüre entweder zufällig mit einem der beiden Texte an oder liest beide einmal an, um zu entscheiden, von welcher Seite aus man in den Erzählkosmos eintauchen möchte. Auch wenn beide Erzählungen für sich stehen können, sind sie doch unwiderruflich aufeinander bezogen Der Erzählfluss ist in beiden drängend, ja beinahe atemlos, sodass man sich nur schwer dem Sog der Erzählung entziehen kann. Doch es ist nicht nur die nüchterne Erzählweise, die fesselt, sondern auch das feine Gespür der Autorin für die Facetten der menschlichen Psyche. Dabei ist es eine Stärke des Textes keine explizite moralische Wertung vorzunehmen, sondern die Leser*innen selbst die Schlüsse aus den Ereignissen ziehen zu lassen. Doch wovon handelt der Roman nun konkret? 

Aus der Innensicht der Mutter wird eine körperlich wie psychisch erschöpfte Frau entworfen: Lena hat sich in ein Ferienhaus zurückgezogen. Sie sitzt in einer Schrankwand, um die Welt völlig auszuschließen. Sie hat keine Energie sich zu bewegen, schafft es nicht einmal zur Toilette, ihre Brüste schmerzen und sind entzündet. Der Ruf eines jungen Schafes regt den Milchfluss an, doch mehr als resigniert den Schmerz zu registrieren, ist die Frau nicht in der Lage. Dieses Zurückgeworfensein auf den Körper, der ihr nicht mehr gehorcht, ist ein sinnfälliges Bild für die Verfassung der Frau. Die Schmerzen, die sie empfindet, korrespondieren mit der von langer Schlaflosigkeit zermürbten Psyche. In Rückblenden wird erzählt, wie es zu diesem Burnout kam: Lena war erfolgreich in der Modebranche als Marketingmanagerin tätig. Auf einer Fortbildung in den Alpen, die sowohl der Natur- als auch der Selbsterfahrung dienen soll, verliebt sie sich in Robert. Er ist als Berater für verschiedene internationale Firmen tätig. Auch nach der Rückkehr nach Berlin sehen sie sich regelmäßig. Sie verbringen die Wochenenden gemeinsam, gehen tanzen, experimentieren mit Drogen. Als Lena schwanger wird, ist sie auf ihren Körper zurückgeworfen, der ihr zunehmend fremd wird. Sie hat unruhige Beine, fühlt sich unwohl. Die Geburt ist traumatisch. Robert hat zwar immer gute Ratschläge für die junge Mutter, ist aber nicht bereit, seinen Alltag an die neue Lebenssituation anzupassen. Schließlich wollte er kein Kind. Lena sorgt nicht nur alleine für das Baby, sie hat auch keine Kraft mehr, um mehr zu sein als Mutter, denn der kleine Konrad gönnt ihr keine ruhige Minute: 

Wenn Konrad weinte, verschluckte das Babyphone immer den Anfang. Wie er zunächst Luft holte, dabei fiepte und dann zum Weinen ansetzte, diese Zeit brauchte das Gerät, um es als dauerhaftes Geräusch einzuordnen und zu übertragen. Lena stand unter der Dusche und hörte plötzlich, wie er bereits laut schrie. Sie spülte fluchend den Körper ab und rannte nackt und nass zu ihm. Streichelte sein Gesicht, trug ihn, stillte ihn. Versuchte, zwischendurch eine Unterhose und ein Oberteil anzuziehen, ohne ihn aus dem Arm zu nehmen. Er schrie lange und ohne sich zu beruhigen. Aus Lenas Haaren tropfte Wasser auf ihren Rücken und den Boden. 
Robert kam nach Hause und stellte den Koffer in den Flur. […]
„Er weint“, sagte Lena.
„Ich bin eben erst nach Hause gekommen“, sagte Robert. 
„Er weint seit zwei Stunden.“ Sie nahm Konrad auf die andere Schulter, er wand sich und schrie. 
„Babys weinen.“ 

Mutter und Kind sind völlig aufeinander bezogen. Alle Versuche Lenas, diese Beziehung aufzubrechen, scheitern – sei es am Desinteresse Roberts, am Unverständnis der Hebamme oder an der Überheblichkeit der Babysitterin. Aus diesem Teufelskreis gibt es für sie nur einen Ausweg. 

Die eindimensional dargestellte Lieblosigkeit Roberts ist auch ein zentrales Motiv in der zweiten Erzählung aus der Perspektive des heranwachsenden Konrad. Robert lebt mit wechselnden Partnerinnen – zur Zeit der Erzählung ist es Pauline – , die aber keine Mutterrolle für Konrad übernehmen. An die Stelle der Mutter ist für den Jungen die Medizinstudentin Una getreten, die ihn in den ersten Lebensjahren betreut, bevor er bereits in der Grundschule in ein Internat übersiedeln muss. Hier spielt auch ein Teil der Handlung, die charakteristische Merkmale der Internatserzählung trägt, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit den Lehrkräften und homoerotische Erfahrungen. Ein besonderer Fokus wird in der Schule mit dem romantischen Namen Quellspring auf die Arbeit mit Holz gelegt, die als eine Art Therapie für verhaltensauffällige Jugendliche gedacht ist. Konrad findet hier ein Ausdrucksmittel, das es ihm auch ermöglicht, seine Gefühle zu ordnen. Seine kleinen Skulpturen aus Holz – bezeichnend ist, dass er zuerst einen Käfig baut – können aber (noch) nicht sein Ideal erfüllen. Daher zertrümmert er die Gebilde wieder und verbrennt sie anschließend. In diesem Akt der Zerstörung empfindet er ein Moment der Ruhe und Zufriedenheit. Seine schwer zu kontrollierende Aggressivität, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt, richtet sich aber nicht nur gegen sich selbst und seine Arbeiten. Zum Eklat kommt es bei einem Elterntag im Internat, bei dem Konrad an einer kleinen Ausstellung teilnimmt. Er zeigt die Asche von Holzarbeiten, die er nach der Herstellung verbrannt hat:

Una bewegte sich vorsichtig durch die Räume. Ich blieb an ihrer Seite. Ruhig betrachtete sie die gefüllten Gläser. Robert und Pauline stellten sich dazu. 
„Sind das Urnen?“, fragte sie.
Ich nickte.
„Von was?“ 
„Sachen aus Holz, ein Schreikopf und so“, sagte ich.
„Möchtest du sie noch ausstreuen?“, fragte Una.
„Warum sind sie verbrannt?“, frage Pauline.
„Weil ich sie zerstören musste“, sagte ich. 
„Scheint in der Familie zu liegen“, sagte Robert. 
Ich sah, wie Pauline ihre Hand auf Roberts Arm legte. Una errötete. Für mich. Mittlerweile war sie Anästhesistin an einer Klinik in Frankfurt. Da trat sie bestimmt souverän auf. Und doch errötete sie immer noch für mich. Weil ich es nicht konnte. Ich dachte und nahm da alles innerhalb einers Bruchteils einer Sekunde wahr, noch schneller als sonst. Ich ergriff eines der Gläser und warf es auf Robert, direkt in sein Gesicht. Er duckte sich weg. Das Glas zersplitterte hinter ihm auf dem Boden, Asche verteilte sich wie eine Sternschnuppe mit ausladendem Schweif über die Fliesen, eine Scherbe landete auf dem Schuh einer alten Dame. Pauline schrie. Ich versuchte, ruhigen Schrittes davonzugehen. 

Die Sensibilität des Jungen für sein Umfeld zeigt sich in der präzisen Beschreibung seiner Wahrnehmung. Er kann hervorragend einschätzen, wie er auf andere wirkt. Dass die Autorin sich dabei nicht für die Verwendung von Jugendsprache entschieden hat – kein 15-Jähriger attestiert einem Erwachsenen Souveränität – macht die Figur nicht unglaubwürdig. Konrad ist sehr empfindlich, was seine eigene Person angeht. Seine Verletzlichkeit ist in der beschriebenen Szene zwar auf seine biographischen Erfahrungen zurückzuführen, Maren Wurster stellt aber immer wieder heraus, dass er ein einmaliges Gespür für Menschen und Räume hat. Hieraus ergibt sich ein eigener Strang der Erzählung, der dazu beiträgt, dass die Autorin nicht in die Falle läuft, den Jungen als Opfer der Umstände zu beschreiben. Vielmehr zeichnet sie die Figur als eigenständige Persönlichkeit, die ihren Weg trotz oder vielleicht auch gerade wegen der schwierigen Startbedingungen findet. 

Maren Wurster gibt mit Eine beiläufige Entscheidung auf sensible Weise Einblicke in die Psyche zweier Menschen an einem biographischen Scheideweg. Den Band als Roman zu beschreiben, scheint allerdings schon aufgrund des geringen Umfangs der beiden Teile, die zusammen 160 Seiten haben, etwas gewagt. Vielmehr handelt es sich hier um zwei präzise komponierte Novellen, die motivisch und thematisch eng verflochten sind. Unerhört ist dabei nicht nur, dass die Mutter ihren Sohn verlässt, sondern auch dass der Jugendliche unbeirrt seinen Weg verfolgt und dabei auch vor Selbstverstümmelungen nicht zurückschreckt. Der Titel Eine beiläufige Entscheidung bezieht sich auf keines dieser zentralen Momente. Die Entscheidung Lenas war zwar aus der Not geboren, aber doch wohlüberlegt. In der drängenden Schilderung von Maren Wurster ist sie letztendlich eine Form des Selbstschutzes der jungen Frau, die sich der Mutterschaft nicht gewachsen sieht. Auch die impulsiven Handlungen des Jugendlichen sind Ausdruck der Unmöglichkeit, sich anderen mittels Sprache verständlich zu machen. Er bringt sich damit in schwierige Situationen, ohne dabei allerdings eine Handlung zu begehen, die den Titel erklären würde. 

Beiläufig ist vielmehr die Entscheidung Lenas für ein Kind. Die beruflich erfolgreiche Frau, die sich in ihrer Freizeit gemeinsam mit ihrem Freund Robert treiben lässt, beschließt, die Pille nicht mehr regelmäßig zu nehmen. Wie in einem Spiel wählt sie immer wieder andere Muster, nach denen sie das Hormonpräparat einnimmt, bis sie es schließlich einmal völlig vergisst. So entscheidet sie sich weder bewusst für, noch gegen ein Kind. Erst als aus dem Spiel Ernst wird, beginnt Lena die Konsequenzen ihres Handelns zu verstehen. Insofern ist Maren Wursters schmaler Band eine exemplarische Erzählung, die vor Augen führt, wie die schlimmstmögliche Wendung einer unbedachten Handlung aussehen kann. 

Titelbild

Maren Wurster: Eine beiläufige Entscheidung. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
160 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783446273801

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