Wo der Wind Schatten wirft ins Labyrinth der Lichter

Carlos Ruiz Zafóns „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ sammelt Erzählungen aus einem magischen Barcelona

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carlos Ruiz Zafón, Schöpfer des literarischen Kosmos rund um den so genannten Friedhof der vergessenen Bücher, dem Dreh- und Angelpunkt seiner fantastischen Romane Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels, Der Gefangene des Himmels und Das Labyrinth der Lichter, ist 2020 im Alter von nur 55 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Aus Zafóns finalem Projekt, dieses magische Erzähluniversum noch weiter wachsen zu lassen, ist ein posthumer Erzählband entstanden, der seine Leserschaft noch einmal mitnimmt auf die verschlungenen poetischen Wege dieser seiner Tetralogie.

Elf Erzählungen sind es, die der schlanke Erzählband umfasst, und sie erlauben ein Wiedersehen mit vielen bekannten Zafónschen Charakteren, darunter David Martin, Alicia oder der diabolische Andreas Corelli, sowie einen spannenden, vertieften Einblick in den Bau der so geheimnisumwitterten Bibliothek tief unter Barcelona, alles in der für Zafón so typischen, oftmals melancholisch gefärbten Fabulierlust. Dabei bewegt sich der Autor sprachgewaltig wie stets durch seinen imaginären Kosmos, lässt einen wohl bekannten Reigen von verfluchten Autoren, falschen Identitäten und engelsgleichen Frauengestalten, von visionären Architekten und ihren atemberaubenden Werken am inneren Auge seiner LeserInnen vorbeiziehen, während er ebenso gekonnt von Genre zu Genre wandert. 

Mit leichter Hand flicht Zafon Elemente aus Schauer-, Bildungs- und Liebesliteratur ein, spielt mit Versatzstücken aus Thriller und historischem Roman und lässt, ähnlich wie in der Tetralogie, auch der Geschichte in der Geschichte ihren gebührenden Platz. Trotz der tiefen Verwurzelung aller Erzählungen im Kosmos der Vergessenen Bücher ist es keineswegs notwendig, tiefer mit diesem vertraut zu sein, da es Zafóns erzählerisches Geschick erlaubt, die kurzen Prosastücke auch völlig unabhängig davon zu genießen. In diesem Sinne ist Zafóns letztes Werk sowohl als ein Schlusspunkt zu verstehen, im Hinblick auf eine allzu früh beendete Schriftstellerkarriere, als auch als ein möglicher Neubeginn. Letzteres im Sinne eines gesetzten Anreizes, sich erstmalig oder erneut hinein zu wagen in eine vielschichtige und faszinierende literarische Welt, die Zafón so kunstvoll zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen gelungen ist.

Titelbild

Carlos Ruiz Zafón: Der Friedhof der vergessenen Bücher. Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970937

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