Über die schwarzen Löcher im Kosmos und im Menschenleben
„Der verschwundene Mond“ von Zoë Jenny als Familien- und Forschungsroman
Von Monika Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZu Beginn des Romans wird „Das Fenster (…) aus den Angeln gehoben”. Schon bald ist die „Zeit“ für den Protagonisten Marty „aus den Fugen“. Marty leitet das Astronomische Institut in Wien; mit einem Kolleg*innenteam erforscht er die Schwarzen Löcher im Universum. Seine Forschungen werden weltweit anerkannt, er avanciert zu einem gefragten Redner bei Kongressen. Sein Leben dreht sich um Fragen, die das Universum aufwirft. In der Gesellschaft seiner „Sammlung fossiler Schätze und Himmelskörper“ fühlt er sich gut, „er betrachtete sie eingehend mit heimlicher Freude, wenn er allein war und ihn niemand störte“. Dieses Alleinsein mit „dem Universum“ wird durch seine Frau Marlene und seine siebzehnjährige Tochter Stella immer wieder gestört.
Und wie er Mutter und Tochter so zusammen sah, eine Einheit, die sich umkreiste wie eine Art Doppelsternsystem, gebunden an Anziehungskräfte, von denen er ausgeschlossen war, kam es ihm vor, als ob sie ein Geheimnis teilten, von dem er nichts wissen wollte.
Marty weiß nicht viel vom Leben seiner Familie. In diesem Leben handelt es sich um einen strukturierten Ablauf von Routinen und Ritualen. Er bemerkt nicht, dass seine Frau von einem Leben auf Bali träumt und dass sich seine Tochter Stella in ihrem weiblichen Körper unwohl fühlt. Von Facebook erfährt er, dass Stella Stuart genannt werden will. „Der Esstisch [war] zur Kampfzone geworden.” Marlene plant einen Urlaub mit ihrer Freundin Claire auf Bali. Dies alles nimmt Marty widerspruchslos und untätig hin, macht keinerlei Vorschläge zur Verbesserung der Situation.
Je offener und klarer das Universum für ihn wird, desto enger und verdeckter wird seine Sicht auf die Realität seiner Familie und seines Selbst.
Auf einer Flugreise trifft Marty den Psychoanalytiker und „neugierigen Hobbyastronomen“ Dr. Steindorfer, der nachdrücklich darauf besteht, dass Marty das Manuskript seiner Abhandlung über das menschliche Gehirn und das menschliche Bewusstsein liest. Der Band verstört Marty, er verbringt seine Tage „strukturlos zwischen Schlaf und im Internet surfend.“ Sein Blick wird von dem ewigen Universum auf eine sich stets verändernde Realität gelenkt, wo „alles im Auflösen begriffen ist“, wo „nichts mehr festgelegt ist“.
Im Vergleich zu einem Delfin sind wir taub. Im Vergleich zu einem Chamäleon blind. Unsere Wahrnehmung ist ein begrenzter kleiner Ausschnitt, den die Sinne hergeben. Wir sind nicht einmal in der Lage, das gesamte Gesicht eines Gegenübers zu sehen,
schreibt Steindorfer in seinem Manuskript. Marty faszinieren die Einblicke in die menschliche Psyche, die als eigenmächtig dargestellt wird, die „Zerrbilder konstruiert, hinzufügt, selektiert und auslöscht“. Marty erschreckt die Vorstellung „er hätte nichts in der Hand“, vielleicht nur „ein paar Fotos“ als Beweise.
Nun beschließt er, zu Marlene und Stella nach Bali zu fliegen, „er wollte sie überraschen, nachdem er sie zunächst beobachtet hatte, aus sicherer Distanz, wie einen Himmelskörper.“ Im Traum erscheint ihm die Lösung für seine Probleme: „Kollidieren Sie und schauen Sie sich die Trümmer an!“ „Nur so können Sie herausfinden, wie die Dinge wirklich beschaffen sind“.
Im Vordergrund des Textes steht die Figur Martys, aus seiner Sicht wird das Geschehen geschildert, nur seine Gedanken werden wiedergegeben, nur seine Gefühle offenbart. Die beiden weiblichen Hauptfiguren treten dahinter zurück, werden mit nur wenigen persönlichen Zügen ausgestattet. Wie zwei Monde kreisen sie um den Planeten Marty, geraten aber aus der von ihm vorgeschriebenen Laufbahn, was ihn erst aufblicken lässt.
Der verschwundene Mond ähnelt seinen Vorgängern, dem Debütroman Das Blütenstaubzimmer (1997) und dem Erzählband Spätestens morgen (2013) in seiner poetischen und knappen Sprache, in der dichten Beschreibung des Geschehens, in dem bloßen Anreißen gesellschaftlich relevanter Themen und einer ungewöhnlichen Kürze des Textes: 127 Seiten.
Mit Der verschwundene Mond schrieb Zoë Jenny einen Roman über die schwierige Vereinbarkeit des Lebens eines angesehenen Forschers, Ehemanns und Vaters. Über diese Notlage wird in der Gesellschaft in Bezug auf Frauen viel diskutiert. Zoë Jenny schildert eine männliche Figur, die vor einem ähnlichen Problem steht. Der Roman ist ein wichtiger Beitrag in der Debatte über die Gendergerechtigkeit.
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