Zwischen Nobelpreis und Bingo-Spiel

Die Rezeption von Murakamis „Die Ermordung des Commendatore“ im Social Reading

Von Vera KostialRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vera Kostial

Der Streit um Haruki Murakamis Gefährliche Geliebte, der die Originalbesetzung des Literarischen Quartetts auseinanderbrechen ließ, liegt bald zwei Jahrzehnte zurück. Harte, sexualisierte Sprache war es, die Sigrid Löffler zu heftiger Kritik an dem Roman veranlasste, was wiederum Marcel Reich-Ranicki dazu brachte, Löfflers literaturkritische Fähigkeiten abzuqualifizieren. Die indirekte Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche hat, so kann man im Tagesspiegel oder im Deutschlandfunk nachlesen, einiges zu dem beigetragen, was Löffler an der Sprache des Romans angeprangert hatte. Doch unabhängig von der konkreten Übersetzungsfrage sind „pragmatisch“ beschriebene Sexszenen, so Murakamis eigene Formulierung in einem Interview mit der ZEIT 2014, mittlerweile gewohnter Bestandteil seiner Romane und können niemanden mehr ernsthaft in Empörung versetzen. Der Aufreger von damals ist also Vergangenheit, ebenso wie die Leidenschaft und Schärfe des Literarischen Quartetts. Was bleibt und zunimmt, ist Murakamis Popularität, und diese ist als Phänomen für die Literaturwissenschaftlerin wie den Kritiker höchst interessant: Murakami schreibt Bestseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt werden – für die deutschen Übertragungen zeichnet mittlerweile Ursula Gräfe verantwortlich, die auch die Gefährliche Geliebte neu übersetzt hat – und ist auf dem deutschen Buchmarkt zweifelsohne seit Jahren der Repräsentant japanischer Literatur. Gleichzeitig wird er schon lange als ernstzunehmender Kandidat für den Nobelpreis gehandelt und wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. Dass ein Autor Bestseller produziert und gleichzeitig, um mit Bourdieu zu sprechen, so viel symbolisches Kapital seitens traditioneller Konsekrationsinstanzen zuerkannt bekommt, ist außergewöhnlich. Murakami besetzt somit eine hochspannende Schnittstelle, an der die Wertung und Kritik einer breiten Leser_innenschaft sich mit der der professionellen Literaturkritik zu überschneiden scheint. Ein erforschenswertes Phänomen, wenn man Prozesse der Literaturbewertung genauer verstehen möchte. 

Die Literaturwissenschaft kann hier etwas leisten, das erst seit Kurzem in ihr Interesse rückt: sie kann die Rezeption eines Autors, der sowohl Bestseller schreibt als auch Nobelpreiskandidat ist, in der literarischen Öffentlichkeit, mehr noch, in der internationalen literarischen Öffentlichkeit erforschen. Eine Hinwendung zur ‚lesenden Gesellschaft‘ war lange überfällig, markiert sie doch den ersten Schritt zu einer Brücke zwischen Literaturwissenschaft und dem/der interessierten Laienleser_in. Und hier kommen die digitalen Medien ins Spiel, genauer, das Social Reading. Unter diesem Begriff sind zahlreiche soziale Netzwerke wie goodreads und lovelybooks versammelt, die verkürzt gesagt eine Plattform für den Austausch über Literatur schaffen – und das abseits von traditionellen Konsekrationsinstanzen wie Print-Feuilletons und Literatursendungen; hier kann jede_r Leser_in sich ein Profil inklusive einem virtuellen Bücherregal anlegen und auf verschiedenste Art über Literatur diskutieren:  in virtuellen Lesegruppen und Diskussionsrunden, durch das Anlegen verschiedener Favoriten-Listen und über die klassische Form der Rezension.

Es sei also ein Blick auf die Rezeption des neuen Murakami im weltweit größten Social Reading-Portal goodreads geworfen. Sogleich fällt auf: der neue Murakami – für die deutsche Leser_innenschaft selbstverständlich der im April erschienene zweite Band Eine Metapher wandelt sich – hat für die internationalen Leser_innen verschiedene Bedeutungen. So erschienen die zwei Bände des japanischen Originals am selben Tag, die beiden deutschsprachigen Bände im Abstand von etwa drei Monaten, und die englische Ausgabe wird erst im Herbst in einem Band veröffentlicht. Die synchrone internationale Rezeption der Ermordung des Commendatore verläuft also vor diachronen Buchmärkten. Der Vorteil am Social Reading: Dies wird offensichtlich, und die synchrone Rezeption kann systematisch beobachtet werden. Wenn man als deutschsprachige_r Leser_in Band 1 der deutschen Ausgabe aufruft, werden automatisch Rezensionen auch zu anderen Ausgaben angezeigt. Auch englische Rezensionen liegen bereits vor, obwohl der Roman in dieser Sprache noch nicht erschienen ist – eine interessante Beobachtung am Rande, dass Leser_innen ein Buch in einer Sprache lesen und sich in einer anderen darüber äußern.

Äußerungen zu Murakamis Roman fallen im Durchschnitt positiv aus: Insgesamt wird Band 1 der Ermordung des Commendatore mit durchschnittlich ca. 4,1 von 5 Sternen bewertet. Neben deutschen und englischen findet sich eine Vielzahl niederländischer Rezensionen, da der Roman in dieser Übersetzung ebenfalls bereits erschienen ist. Sprachbedingt begrenzt auf die deutschen und englischen Rezensionen, ergibt ein erster Überblick Folgendes: Der augenscheinlich meistgenannte Aspekt in den Rezensionen ist der, dass es sich bei dem Roman um einen ‚typischen Murakami‘ handelt – diese Feststellung ist überwiegend konsensfähig; die Bewertung davon fällt jedoch unterschiedlich aus: „Everything is present for a great Murakami ride!“, konstatiert der Rezensent Tjibbe Wubbels, während Christian das Murakami-Typische entgegengesetzt bewertet: „Maybe it’s just that I’m getting used to his tricks, but the characters seem a bit… recycled.“ Die Feststellung des Autorcharakteristischen in Kombination mit einer Bewertung dessen lässt sich in einer Vielzahl der betrachteten Rezensionen finden. Murakamis Romane würden „längst ein eigenes Genre bilden“, so Rezensent Buchdoktor. Die eigenen Erwartungen an die und Erfahrungen mit der Lektüre stehen im Fokus, oft in Kombination mit der Wertung Murakamis als Lieblingsautor. Urteile über das Vermögen des Romans, zu ‚entführen‘ oder zu ‚fesseln‘, liegen da nahe. Band 2 wird mit durchschnittlich knapp vier Sternen etwas schlechter bewertet als der erste Teil. Auch hier finden sich in den Rezensionen unterschiedlich bewertete Feststellungen des ‚Murakami-Typischen‘, und Rezensent Buchdoktor kritisiert die Aufteilung in zwei Bände – ein insgesamt kürzeres Werk in einem Band wäre seines Erachtens die bessere Wahl gewesen; ähnlich argumentiert auch Rezensent Martin (in Bezug auf Band 1), dessen Beurteilung dadurch heraussticht, dass er trotz seines persönlichen Empfindens von Langeweile dem Charakter des Protagonisten Relevanz zuspricht, da er seines Erachtens die japanische Gesellschaft widerspiegele.

Und dann gibt es noch das Murakami-Bingo: eine 2012 von dem Künstler Grant Snider entworfene und daraufhin in der New York Times veröffentlichte Grafik, die in fünf mal fünf Kästchen wiederkehrende Motive aus Murakamis Texten zu einem Bingo-Spiel anordnet. Rezensent Christian postet dieses Bild in seiner Rezension zu Band 1 der Ermordung des Commendatore und fügt grüne Haken auf den entsprechenden Bingo-Feldern hinzu. Eine mysteriöse Frau und ein ausgetrockneter Brunnen kamen bereits vor, ebenso ein ungewöhnlicher Name: der von Wataru Menshiki, der schon in der Überschrift des entsprechenden Kapitels als „Ein leicht zu merkender Name“ – eben aufgrund seiner Seltenheit – angekündigt wird. Das Bingo-Feld „Cooking“ kann ebenfalls abgehakt werden, beschreibt der Protagonist doch ausführlich beispielsweise die Herstellung einer Tomatensoße. Das Feld „Weird sex“ ist – wie könnte es anders sein – ebenfalls mit einem Haken versehen. Eine Frau, die sich offenbar verfolgt fühlt – auch diese Gefühlsbeschreibung findet sich auf einem Bingo-Feld – spricht den Protagonisten in einem Bistro an und lässt sich von ihm in ein Hotel fahren, wo sie ihn mit auf ihr Zimmer nimmt, was dem Protagonisten selbst am nächsten Morgen höchst befremdlich vorkommt.

„No bingo yet!“, erklärt Christian, da bisher nur vier Haken in einer Reihe gesetzt werden konnten. „No cats though? :((“, wird daraufhin kommentiert, woraufhin Olivia Newton einwirft, in einer bestimmten Szene komme ihrer Erinnerung nach eine verschwindende Katze vor. Das Feld in der rechten unteren Ecke könnte somit ebenfalls abgehakt werden, und eine Reihe des Murakami-Bingos wäre komplett. Was die Literaturwissenschaft als autorspezifische, wiederkehrende Motive oder Motivketten bezeichnet, wird im Social Reading lässig auf ein Bingo-Spiel reduziert – und das ist eine in beide Richtungen wertfreie Feststellung. Sicherlich soll die Literaturwissenschaft keine Bingo-Kästchen malen, genauso wenig wie die Kritik im Social Reading mit wissenschaftlichen Fachtermini operiert. Aber eines wird doch offensichtlich: Ein Blick über ihre eigenen Grenzen lohnt sich für die Literaturwissenschaft, denn die Diskussion und Kritik von Literatur im Social Reading ist spannend, und sie ist vor allem aufschlussreich, um Rezeptions- und Wertungsprozesse nachzuvollziehen. Und wenn die Beschäftigung mit einem Autor wie Murakami, der Bestseller schreibt und gleichzeitig durch die professionelle Kritik auf dem besten Weg zum kanonischen Status ist, dazu beitragen kann, die Lücke zwischen Literaturwissenschaft, professioneller Kritik und literarischer Öffentlichkeit etwas kleiner zu machen – dann ist das doch für alle Beteiligten ein großer Gewinn.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen