Zwischen Ost und West

Die Ukraine: „Raum der Engel“ oder „Dämonen der Peripherie“?

Von Hans-Christian TrepteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Christian Trepte

Engel und Dämonen der Peripherie überschrieb der wahrscheinlich renommierteste Vertreter der ukrainischen Literatur, Juri Andruchowytsch, seine 2007 nach der orangenen Revolution in der Ukraine verfassten Selbstbetrachtungen. Mit dem Essayband setzt der Schriftsteller seine geopoetische Erkundungen des „letzten Territoriums“ fort. Dabei stellt er auch die Frage nach dem Platz der Ukraine „zwischen Europa und irgendetwas anderem im Schatten Russlands“ in einer „Grauzone“, die immer wieder von den Dämonen der Vergangenheit eingeholt wird. Es ist im Übrigen eine Frage, die ähnlich auch im polnischen Kontext gestellt wurde: Polen, das heißt nirgendwo, eine auf Alfred Jarrys groteskes Theaterstück König Ubu zurückgehende konzeptuelle Metapher.

Die russische Invasion in der Ukraine scheint den durch das „blaue Band des Dnipro“ in zwei Halbkugeln geteilten „Globus Ukraine“ im heldenhaften, patriotischen Widerstands- und Verteidigungskampf zu einer neuen ukrainischen Einheit zusammenzuschweißen, auch durch das gemeinsame Leiden, den gemeinsamen Kampf in einer „Zone von Tod und Grausamkeit, entsetzlicher und bitterer Prüfungen“ (Andruchowytsch). Das Bewusstsein eines gefährlichen Spagats, eines unguten Gefühls des Dazwischenseins verändert sich zusehends zugunsten eines neuen kulturellen Selbstbewusstseins, einer verbindenden ukrainischen Identität im Prozess der Nationswerdung. Der aus Charkiw stammende ukrainische Poet und Sänger Serhij Zsadan charakterisierte diesen Prozess wie folgt:

Das Land wird nicht nur durch den Krieg auf eine Bewährungsprobe gestellt, das Land erlebt darüber hinaus auch eine Prüfung in Mitgefühl, in der Fähigkeit, gemeinsam innerhalb derselben Grenzen zu leben und Toleranz zu üben, sich gegenseitig verstehen zu müssen.

Dabei ist auch das Gefühl der Zwischenstellung zugunsten eines neuen, innigen Zugehörigkeitsgefühls zum Westen gewichen. „Wir gehören zum Westen. Die Rolle einer Brücke ist uns endgültig verleidet“, meint der aus Lviv (Lemberg) stammende Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jurko Prochasko. Es gibt in der Ukraine wahrscheinlich kaum einen Schriftsteller, eine Schriftstellerin, die nicht auch literarisch Stellung beziehen und mit ihren Texten überzeugend beweisen, dass sie sich schon lange in die mitteleuropäische Literatur eingeschrieben haben. Auch in dieser Hinsicht hat Putin nicht nur die Ukraine, sondern fast ganz Europa geeint. Das betrifft auch die kulturellen, kulturgeschichtlichen wie mentalen Unterschiede, die es nicht nur in der Ukraine, sondern in vielen Ländern Europa, so auch in Deutschland, gibt. Wenn der Euro-Maidan, die „orangene Revolution“, die „Revolution der Würde“, der Krieg im Donbass und die Annexion der Krim in der europäischen Architektonik einen gewissen Erdrutsch auszulösen vermochte, folgte mit dem kriegerischen Überfall Putins auf die Ukraine eine gewaltige Eruption ungeahnten Ausmaßes, die ganz Europa erschüttert. Dieses mächtige Beben löst sehr unterschiedliche Gedankengänge und Assoziationen bei vielen Menschen aus. So denke ich z.B. zunächst an das Jahr 1989, an den „Völkerfrühling“ im östlichen Europa zurück. Die postulierte „Rückkehr nach Europa“ in den Schoß der Gemeinschaft westlicher Demokratien betraf übrigens alle Völker und Kulturen Ostmitteleuropas. Und was war mit der Ukraine? Haben wir damals, während der „friedlichen Revolution“, nicht nur an unsere Nachbarn Polen und die Tschechoslowakei, sondern auch an die baltischen Staaten und an die Ukraine gedacht? Waren sie ein Teil unseres Aufbruchs, unserer Gedanken, unseres Mitgefühls, unserer Euphorie? Oder befand sich die Ukraine weiterhin am Rande (u-kraina), an der Peripherie unserer Wahrnehmungen, irgendwo zwischen dem westlich-abendländisch und dem östlich-byzantinisch geprägten Europa? Dachten wir seinerzeit daran, dass die Ukraine, ähnlich wie auch das Baltikum, Georgien oder Moldawien (Moldau) ebenso wie wir hilflos den Dämonen der Geschichte und damit Stalins Stiefel ausgesetzt waren? Stalins Stiefel, wie sie mahnend auf dem Sockel des einst so gewaltigen Stalin-Denkmals in Budapest verblieben sind? Oder wie sie auf der ersten Seite des in der DDR verbotenen Sputnik-Hefts, Stalin und der Krieg, Oktober 1988, zu sehen waren? Glich die Ukraine nicht, ähnlich wie das östliche Europa überhaupt, einem unbekannten Land, einer „terra incognita“? Befand sie sich außerhalb der ‚zivilisierten‘ römischen Welt und gehörte einer „Peripherie in der Mitte Europas“ an, wo Löwen zu Hause sind: „Terra Ubi Leones“?

Die Invasion Russlands in der Ukraine lässt mich aber auch an die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern über die von Panzern überrollten Volksaufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn denken; sie gehen des Weiteren zurück zum Schicksalsjahr 1968, das in Ostmitteleuropa mit anderen prägenden politischen Ereignissen und Erlebnissen verbunden ist. 1968 war ich als Schüler Zeuge der Studentenunruhen und antikommunistischen Widerstandsbewegung in Polen, im Sommer des gleichen Jahres sah ich mit eigenen Augen die mich bis heute zutiefst erschütternde Invasion der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsstaaten in der Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Reformbewegung, verbunden mit Aleksander Dubček und dem frei gewählten Staatspräsidenten Ludvík Svoboda, dessen Name (svoboda = Freiheit!) symbolisch für den demokratischen Aufbruch stand, gab mir Hoffnung und Zuversicht. Umso tragischer empfand ich die gewaltsame militärische Zerschlagung des Prager Frühlings und damit eines hoffnungsvollen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Es begann die endlos erscheinende, deprimierende bleierne Zeit einer „sozialistischen Normalisierung“. Ihr folgte mit dem antikommunistischen Widerstand in Polen, im Zusammenhang mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ und dem nach dem „Kriegsrecht“ folgenden Verhandlungen am „runden Tisch“ erneut Hoffnung auf tiefgreifende Veränderungen und Reformen auch in der DDR. Dabei gilt es, auch die Politik Gorbatschows mit „Glasnost“ (Offenheit, Transparenz) und „Perestrojka“ (Umgestaltung) zu erwähnen, die in der DDR große Zustimmung fand.

Für viele Menschen schien die „spezielle militärische Aktion“ in der Ukraine scheinbar unvorhersehbar zu sein; es folgte ein böses Erwachen, ein Schock. Lange, zu lange dachten wir, übrigens nicht nur im Osten Deutschlands, dass Russland, dass Putin keinen Krieg will. Ich dachte dabei unwillkürlich an das auf Verse von Jewgeni Jewtuschenko aufbauende Lied Chotjat li russkije vojny? „Meinst du die Russen wollen Krieg?“ Plötzlich bekamen die Verse „Nicht nur fürs eig‘ne Vaterland fiel der Soldat im Weltenbrand…“ eine ungeahnte, neue, erschreckende Bedeutung… Zweifelsohne hatte es zuvor genügend Anhaltspunkte und Beweise für die imperiale, mit militärischen Mitteln zu erreichende aggressive Politik Russlands gegeben. Denken wir nur an den Transnistrien-Konflikt, an Tschetschenien, Georgien, Syrien, an die Okkupation der Krim, an die vom Erdboden getilgten Städte Grosny oder Aleppo. Hatte sich das böse Erwachen aus einer kollektiven Unfähigkeit, Realitäten zu erkennen ergeben, aus einer Selbsttäuschung, ja Umnachtung in Anspielung auf Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler? Dabei stellte sich Trauer über den Verlust des Glaubens an die Unvermeidlichkeit einer historischen Entwicklung ein, hatte sich doch jetzt endgültig das als Normalfall der Entwicklung prognostizierte westliche Modell als ein Trugschluss erwiesen. Der Westen hatte nicht nur die Ukraine „verkannt“, sondern auch „Russland mit seinem Putinismus völlig falsch eingeschätzt.“ (Jurko Prochasko) Durch den Krieg und die größte Flüchtlingswelle nach dem Zweiten Weltkrieg  rückt die Ukraine aus ihrer peripheren Randstellung in die Mitte Europas zurück, sie erlebt Beistand, Hilfe, tatkräftige Unterstützung, erfährt auch eine besondere Liebeserklärung: „Ukraine, mon amour“ (Irina Lytiak; Lucas Vogelsang).

Die Bilder der zerstörten Städte und Dörfer in der Ukraine brachten mir weitgehend verdrängte Erinnerungen zurück. An der Hand meiner Mutter lief ich als kleiner Junge durch die düstere Ruinenlandschaft des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dresdens, freilich in einem sehr anderem historischen Kontext. Plötzlich bekamen auch ukrainische Namen und Orte eine andere, neue, schreckliche Bedeutung. So war mir Mariupol am Asowschen Meer eigentlich durch Natascha Wodins Roman Sie kam aus Mariupol wie auch durch einen an einen gleichsam ans Wodins Mutter erinnernden Text mit dem Titel Mein Mariupol bekannt. Eine beeindruckende, traurige, überaus nachdenklich stimmende Lektüre, zu der sich plötzlich mit dem zerstörten Dresden vergleichbare Bilder hinzufügten.

Möglicherweise ist es tatsächlich so, wie es z.B. der polnische, aus Schlesien stammende Schriftsteller Szczepan Twardoch formulierte, dass wir es mit einem doch unterschiedlichen Herangehen und Verständnis der Vorgänge in der Ukraine im einst „entführten“, „verführten“, „gekidnappten“ Mitteleuropa im Unterschied zum saturierten „Westen“ zu tun haben? Oder sollten wir vielleicht seiner Auffassung widersprechen, dass „niemand im Westen verstehen kann, was es heißt, im russischen Machtbereich leben zu müssen?“ In diesem Zusammenhang stellt Twardoch vorwurfsvoll fest: „Russland hat euch nie berührt […]. Und da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach einmal die Klappe haltet. Punkt.“

Treffen nicht diese unterschiedlichen Sichtweisen und Auffassungen auch auf die deutsche Befindlichkeit, die Zweisamkeit in der Einheit zu? Das Zugleich von Furcht vor den Russen und Hoffnung auf sie, „Gorbi, Gorbi!“, hörte bis zum Ende der DDR nicht auf, sie führte zum „Seelenmord“ (Gunnar Decker) wie auch zur Einsicht, sich doch endlich näher mit den östlichen Ländern zu beschäftigen, denn „der Osten, der weiß meistens mehr über den Westen als umgekehrt.“ (Ingo Schulze) So zeigte sich der in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze schockiert über Putins brutalen Angriffskrieg, „beklommen ist gar kein Ausdruck!“. „Putins Dreistigkeit beleidigt meinen Verstand“, stellt Herta Müller fest und fährt fort:

Die Menschen in Osteuropa (und damit auch in der DDR!), die jahrzehntelang die sowjetische Besatzung erlebt haben, wissen, dass Diktatoren vom Schlag Putins nur auf Stärke reagieren. […] Putin bestraft die Ukrainer für all das, was sich in den osteuropäischen Ländern nach 1989 abgespielt hat.

Dabei hatten wir Ostdeutsche, im Rückblick, unwahrscheinlich großes Glück. Und trotz alledem scheint im kollektiven Unterbewusstsein die autoritäre DDR noch immer fortzuwirken. Ost-Trotz?

Ohne Zweifel eint uns im östlichen Teil Europas die gemeinsame Erfahrung des Totalitarismus, des real existierenden Sozialismus ebenso wie persönliche und gesellschaftliche Erfahrungen mit Russland bzw. der Sowjetunion. Es war die berüchtigte Breschnew-Doktrin über die begrenzte Souveränität sozialistischer Länder, die die sowjetische Außenpolitik bestimmte und damit auch das Recht auf militärisches Eingreifen beinhaltete, wenn sie in einem Land in ihrem Machtbereich den Sozialismus gefährdet sah. Die Parallelen zur heutigen imperialen Politik Russlands sind unverkennbar. Der Ukraine wie auch anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wird ihre Eigenständigkeit verwehrt, der Ukraine wird darüber hinaus zugleich auch noch eine eigene Kultur und Sprache abgesprochen.

Die betroffenen literarischen Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine sind vielstimmig, nicht selten auch polarisierend. Infolge der abgesagten Leipziger Buchmesse kam es zu spontanen, improvisierten Lesungen und Autorentreffen auf der Pop-up-Buchmesse „Leipzig liest trotzdem“ (18. bis 20. März 2022) wie auch zu einem deutlichen „Nein zu Putins Krieg“. Dabei war die Ukraine allseitig präsent. Gestritten wurde auf den Treffen und Lesungen über die Möglichkeiten, die der Einzelne hat, über die Rolle, die Aufgabe und den Einfluss von Literatur. Es scheint eine Frage zu sein, die fast immer nach gewalttätigen Zäsuren, nach Kriegen und menschlichen Katastrophen gestellt wird. „Die Literatur hat versagt. Die Literatur versagt immer, wenn ein Krieg beginnt“, meint z.B. der russische Autor Michail Schischkin. „Die deutsche Literatur konnte Auschwitz nicht stoppen […]“, „doch Hass und Schmerz kann man nur mit der Kultur überwinden.“ Die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko glaubt erst dann wieder schreiben zu können, wenn „wir Russland und Weißrussland von diesen Diktatoren befreit haben.“ Maxim Biller will in Folge des Krieges in der Ukraine gar ganz mit dem Schreiben aufhören, und Natascha Wodin fragt: „Wie schreibe ich über das, wofür ich keine Worte finde? Wie schreibe ich über den Krieg, den Russland gegen meine Mutter, meinen Bruder, meine Freunde und Bekannte sowie Millionen von friedlichen Menschen in der Ukraine führt?“ Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz, der an die Aufgabe eines Dichters erinnert, die darin bestehen sollte, als „moralischer Wächter“ immer wieder an das Unrecht zu erinnern, das dem einfachen Menschen angetan wird: „Wähne dich nicht in Sicherheit. Ein Dichter erinnert sich. Wenn du ihn tötest – wird er neu geboren. Das Tun und das Sprechen wird alles notiert“ (Verführtes Denken). So steht es auch auf dem Danziger Solidarność-Denkmal.

Es gilt eine Idealisierung im „Raum der Engel“ ebenso wie eine pauschale „Dämonisierung“ zu vermeiden und auch an eine Frage russischer Intellektueller zu erinnern: „Wer ist schuld?“ Es ist nicht nachvollziehbar, dass die klassische russische Literatur und Kultur in Folge des Krieges von Putin in der Ukraine zensiert und gecancelt wird. „Wir dürfen unseren Hass auf Putin nicht auf unsere Mitstreiter projizieren. Es geht hier nicht um Politik, sondern ums Menschsein“, meint die bereits erwähnte Schriftstellerin Marjana Gaponenko. Diese Meinung teilt auch Natascha Wodin, die darauf verweist, dass die „russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht zu Rassismus, blanken Hass und pauschalen Verurteilungen führen dürfen.“ Darf unsere allseitige Solidarität mit der Ukraine dazu führen, dass „unschuldige Russen auf der Straße angepöbelt“, „russische Bücher aus Bibliotheken entfernt, russische Komponisten aus Konzertprogrammen gestrichen, russischen Künstlern Auftrittsverbote erteilt werden?“, führt Natascha Wodin weiter fort. Sei es denn so, dann werden wir selbst die Werte, die wir vertreten, nämlich „Demokratie und Freiheit“, verspielen.

Der Krieg in der Ukraine ist ein „Testfall“ für Europa, er erschüttert die Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung zutiefst. Dabei müssen wir verstehen, dass es im Widerstandskampf der Ukraine gegen eine aggressive imperiale Macht letztendlich auch um unsere Freiheit, um die Demokratie in Europa geht.