Ein unaufdringlicher Aufklärer

Zum hundertsten Geburtstag von Peter Weiss

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Eine Zeitlang schien es, als stünde Peter Weiss und sein Werk in der Gefahr, allmählich vergessen zu werden, oder genauer gesagt: als sei er, längst als Klassiker der Nachkriegsliteratur kanonisiert, zu der durchschlagenden Wirkungslosigkeit verurteilt, die Max Frisch einmal allen Klassikern bescheinigte. Man kennt sie, aber man liest sie nicht, wie Lessing über den seinerzeit schon kanonisierten Klassiker Klopstock schrieb.

1991 noch war es für den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg selbstverständlich Ehrensache, eine wissenschaftliche Tagung zum Werk von Peter Weiss anlässlich seines 75. Geburtstages mit einem Grußwort zu eröffnen. Dann aber sackte das Interesse – in Deutschland jedenfalls – ab. Der Name Peter Weiss lockte nur noch wenig Leserinnen und Leser, und auch als Hochschullehrer konnte man sicher sein, dass ein Weiss-Seminar eine überschaubare Sache blieb.

Das hatte natürlich mit dem Zeitgeist zu tun. 1990 war für allzu viele Deutschland wieder ‚normal‘ geworden. Das meinungsmachende Feuilleton bemühte sich, die ‚engagierte‘ Nachkriegsliteratur auf eine literarische Abraumhalde zu schaffen oder sie wenigstens zu historisieren. Und Peter Weiss galt vor allem als engagierter Autor, der bei aller Kritik am real existierenden Sozialismus es doch mit einem sozialistischen Ideal zu halten gesonnen war. Wozu jetzt noch Weiss, schien die Frage?

Mochte Weiss auch ein großer Teil des allgemeinen Lesepublikums abhanden gekommen sein, die Autorinnen und Autoren lasen ihn weiter. Es ist erstaunlich, wie viele Gegenwartsautorinnen und -autoren sich auf Weiss berufen! Und auch wieder nicht erstaunlich: Denn Weiss war einer, dessen wichtigstes Anliegen war, sich und die Welt in Sprache zu verwandeln.

Und auch diejenigen Leserinnen und Leser, die sich von der kompromisslosen Wahrheitssuche, die das Werk von Weiss auszeichnet, angesprochen fühlen, ließen nicht von ihm ab. Inzwischen ist auch klar, dass mit dem Zusammenbruch des Ostblocks keineswegs das Ende der Geschichte gekommen war, sondern dass viele Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch im 21. ein schreckliches Revival haben könnten und wahrscheinlich noch haben werden.

Insbesondere an Phänomene wie Verfolgung und Vertreibung ist hier zu denken, an Migration und Exil. Vielleicht ist in dieser Hinsicht das Werk von Peter Weiss heutzutage sogar von besonderer Brisanz, weil er die Erfahrung von Verfolgung und Exil in einer allgemeinen, nicht auf spezielle Opfergruppen bezogenen Perspektive dargestellt hat.

2016 ist ein erstaunliches Jahr, was die Weiss-Rezeption angeht. Die Internationale Peter-Weiss-Gesellschaft hatte mit drei oder vier Kooperationspartnern im Vorfeld des 100. Geburtstags gesprochen und Kooperationen vereinbart, doch plötzlich kam sie beinah gar nicht mehr hinterher, all die Veranstaltungen auch nur anzuzeigen, die pilzartig aus der mitteleuropäischen Kulturlandschaft sprossen (die Website http://www.peterweiss.org/aktuelles quillt über).

Peter Weiss ist brandaktuell, wie es scheint – und nicht nur bei älteren Semestern und Linken, sondern gerade auch bei ganz jungen Leserinnen und Lesern, die oft einen erfrischend unverbrauchten Blick auf das Werk des vor gut 34 Jahren Jahren verstorbenen Schriftstellers werfen, wie bei verschiedenen Tagungen zu hören war.

Sein Leben

Peter Weiss wurde am 8. November 1916 in Nowawes (bei Potsdam) als dritter Sohn bzw. als erster Sohn der zweiten Ehe einer ehemaligen Theaterschauspielerin geboren, die seit 1915 mit einem Textilkaufmann österreich-ungarischer bzw. dann tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft verheiratet war. 1919-29 lebte die schließlich achtköpfige Familie in Bremen und 1930-34 in Berlin, wo Weiss seine Schulbildung erhielt. Da der Vater ein getaufter Jude war, emigrierte die Familie nach Regierungsantritt der NSDAP; sie lebte bei London in England (1935-36), dann im böhmischen Warnsdorf (1937-38) und zuletzt im schwedischen Alingsås (ab 1939).

Seit 1932 war Weiss davon überzeugt, Künstler werden zu müssen, und besuchte Zeichen-, Mal- und Fotografiekurse. Durch Vermittlung von Hermann Hesse und Max Barth erhielt er 1937 einen Studienplatz an der Kunstakademie in Prag; die Ausbildung wurde jedoch durch die deutsche Annexion des Sudetenlandes und die erneute Emigration der Eltern abgebrochen.

Seit 1940 lebte Weiss überwiegend in Stockholm, zunächst unter anderen Emigranten, zunehmend aber integriert in die schwedische Avantgardekunst-Szene. Schon in Prag hatte Weiss für zwei Ölgemälde einen Preis der Akademie erhalten; in Schweden machte er sich in den 1940er Jahren als Maler überregional einen Namen.

In den 1950er Jahren erlahmte sein Interesse für malerische Ausdrucksformen. An deren Stelle traten literarische Versuche im Stil der schwedischen „Fyrtiotalisten“, filmische Studien und Collagen. 1949-58 unterrichtete Weiss an der Stockholmer Högskola Kunst, Kunstgeschichte sowie Theorie und Praxis des Films. Zwischen 1952 und 1960 entstanden 14 abgeschlossene Filme, die teilweise zu den interessantesten schwedischen Experimental- und Dokumentarfilmen der 1950er Jahre gehören. Außer in Avantgardezirkeln wurden diese Arbeiten jedoch kaum wahrgenommen. Insofern besiegelte es die Hinwendung zur Literatur, dass der 1960 im Suhrkamp-Verlag erschienene, acht Jahre zuvor geschriebene „Mikro-Roman“ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ in Deutschland einen beachtlichen Erfolg hatte, den Weiss mit den rasch folgenden Erzählbänden „Abschied von den Eltern“ (1961), „Fluchtpunkt“ (1962) und „Gespräch der drei Gehenden“ (1963) ausbauen konnte.

Während Weiss in den 1940er und 1950er Jahren abwechselnd auf Schwedisch und Deutsch schrieb, bewog ihn die in Schweden ausgebliebene Resonanz auf seine Bücher, künstlerisch zur Sprache seiner Kindheit zurückzukehren. International berühmt wurde Weiss durch sein 1964 uraufgeführtes Marat-Drama. Seither lebte er als freier Schriftsteller in Stockholm.

In seinen verbleibenden knapp zwei Lebensjahrzehnten entstand ein außerordentlich vielseitiges Werk, das Weiss als sensiblen Formkünstler wie als politisch engagierten Zeitgenossen zu einem Klassiker der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur werden ließ. Weiss starb am 10. Mai 1982 in Stockholm.

Sein Werk

Weiss hat von Anfang an gemalt und geschrieben, allerdings dominierte die Malerei bis Ende der 1940er Jahre das künstlerische Schaffen. Nach tastenden Anfängen in der Malerei (bis 1934) folgten eine düstere und altmeisterlich geprägte Phase (1934-41), danach der Versuch, den Anschluss an die künstlerische Moderne (wieder) zu finden (1941-46), und zuletzt eine Phase der Reduktion des malerischen Ausdrucks (nach 1947). Vorherrschende Themen der frühen Malerei sind Isolation, Verfolgung und Ausgeliefertsein, Einsamkeit und Tod. Zwar gibt es auch positiv konnotierte Szenen (Liebe, Geburt, Tanz, Jahrmarkt, Selbstvergessenheit), doch dominieren eindeutig Not und Schrecken. Die Bilder sind Ausdruck eines von Weiss existenziell empfundenen Außenseitertums, das auch seine literarischen Arbeiten bis Ende der 1950er Jahre prägte. Der altmeisterlichen Malerei entsprach in den 1930er Jahren ein bei Hermann Hesse abgelauschter, romantisierender Ton in den literarischen Versuchen. Sie lassen sich paradigmatisch für die Aktualität und das Scheitern neoromantischer Kunstkonzepte in den 1930er Jahren analysieren. Viele Themen der späteren Bücher klingen in diesen Jugendarbeiten (Erzählungen, Tagebücher, Gedichte, lyrische Prosa) schon an.

In den 1940er Jahren machte sich literarisch, auch unter dem Eindruck der schwedischen Avantgardekünstler (der „Fyrtiotalisten“), das Vorbild Kafkas geltend. Hinzu kamen die Einflüsse der Surrealisten und Existenzialisten, besonders in den 1950er Jahren. In der Malerei experimentierte Weiss zu dieser Zeit mit Ausdrucksmitteln der klassischen Moderne (anschließend an van Gogh, Gaugin, Picasso und de Chirico) und bewegte sich in Richtung einer konstruktivistischen Metamalerei. In den späten 1950er Jahren kulminierte diese Entwicklung in einem bedeutenden Collagen-Werk. Als Weiss das Medium selbst zum Problem wurde und er die Schwelle zu einer materialästhetisch fundierten Bildkunst erreicht hatte, gab er sie als primäres Ausdrucksmittel allerdings auf.

In den 1950er Jahren stand das Medium Film im Mittelpunkt seines Interesses. Eine filmgeschichtliche Pioniertat war Weiss‘ subjektive Geschichte des nonkonformistischen Films von den Anfängen bis in seine Zeit, die 1956 unter dem Titel „Avantgardefilm“ erschien. Zugleich drehte Weiss zwischen 1952 und 1960 selbst Filme, anfänglich experimentelle Studien, später auch dokumentarische Auftragsarbeiten. Der selbstproduzierte Spielfilm „Hägringen“ (1959) nach der eigenen Erzählung „Dokument I“ (1949) ist das kinematografische Hauptwerk und eine Synthese nicht nur seines Filmschaffens. Alle Motive seines Bildwerks sind hier versammelt: Jahrmarkt und große Stadt, Einsamkeit und Ausbruchsversuche, alles einschließende Mauern und die offene Helle des Strands, scheiternde Liebe und erdrückende Verfolgung. Kritiker verglichen Weiss damals mit Ingmar Bergman oder Jean Cocteau. Weiss selbst orientierte sich an Pionieren des Avantgardefilms wie Jean Vigo, Luis Buñuel oder Maya Deren. Unübersehbar ist der Einfluss der Psychoanalyse.

Dies gilt auch für die literarischen Arbeiten der Zeit, angefangen mit „Rotundan“ (1948/50), über „Duellen“ (1951/53), bis zu „Abschied von den Eltern“ (1961). Zugleich experimentierte Weiss mit grotesken Stilformen („Der Schatten des Körpers des Kutschers“, 1952/60; „Die Versicherung“, 1952/66; „Nacht mit Gästen“, 1963; „Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wurde“, 1963/68) sowie mit realistischen Erzählkonzepten („Situationen“, 1956; „Fluchtpunkt“, 1962). Alles zusammen vermochte Weiss in dem Theaterstück „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ (1963/65) fruchtbar zu machen. Das Stück wurde ein sensationeller Erfolg auf den Bühnen der ganzen Welt (1966 von Peter Brook verfilmt).

Das Marat-Stück verdankt seine Überzeugungskraft der komplexen Struktur, in der nicht nur ein geschichtliches Ereignis, sondern die subjektive Inszenierung dieses Ereignisses und damit dessen mehrfache Virulenz vorgeführt wird. Weiss verhandelte in dem Stück die Grundfrage nach dem persönlichen Selbstverständnis und der politischen Aufgabe eines Künstlers in der gegenwärtigen Zeit mit der doppelten Stoßrichtung gegen die Gefängnisse des eigenen Innern wie gegen die gesellschaftlichen Ordnungshüter. Er präformierte damit Diskussionen der so genannten Neuen Linken nach 1968. Weiss führte diese Debatten in seinen Schriftstellerstücken „Trotzki im Exil“ (1969) und „Hölderlin“ (1971/73) fort, stets in der Überzeugung: „Zwei Wege sind gangbar / zur Vorbereitung / grundlegender Veränderungen / Der eine Weg ist / die Analyse der konkreten / historischen Situation / Der andre Weg ist / die visionäre Formung / tiefster persönlicher Erfahrung“.

Mitte der 1960er Jahre hatte Weiss auf der Folie einer aktualisierenden Relektüre von Dante Alighieris „Divina Commedia“ die damaligen politischen Konflikte auf die Bühne gebracht: Zunächst mit der dokumentarischen Dramatisierung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses unter dem Titel „Die Ermittlung“ (1965), ein „Oratorium“, in dem es um die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Holocausts sowie die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seiner nachträglichen Aufarbeitung geht, und das bis heute die anspruchsvollste künstlerische Bearbeitung des Themas in der deutschsprachigen Literatur blieb. Vorbereitet wurde das Stück durch das 1964 geschriebene, aber erst 2003 veröffentlichte Stück „Inferno“, das die eigenen Erfahrungen mit einer verdrängungswütigen und dadurch unheilvolle Kontinuitäten wahrenden Nachkriegsgesellschaft verarbeitete. Umstritten bis heute blieb Weiss‘ Ansicht, dass der Holocaust kein singuläres Ereignis sei, sondern vergleichbar mit anderen Formen des Völkermords und der Unterdrückung.

Die Diagnose, dass der Holocaust eine extreme Form der profitorientierten Ausbeutung von Menschen durch Menschen war, lenkte die Aufmerksamkeit auf die seinerzeit aktuellen Erscheinungen dieses Konflikts: die Befreiungskämpfe in der sogenannten Dritten Welt, aufgerollt in den Stücken „Gesang vom Lusitanischen Popanz“ (1965/67), der Mechanismen des Kolonialismus am Beispiel der damals portugiesischen Kolonie Angola untersuchte, und „Viet Nam Diskurs“ (1968), der die zweitausendjährige Geschichte der Unterdrückung Indochinas zum Thema hat und den imperialistischen Charakter des von den USA gegen Vietnam geführten Kriegs aufdeckte. Das Interesse an den viel diskutierten Stücken scheint mit der Aktualität ihrer Themen erloschen; doch sind sie darüber hinaus in formaler Hinsicht eine noch kaum wahrgenommene Herausforderung.

Spätestens seit 1965 war Weiss ein in Deutschland vor allem als politischer Autor rubrizierter Schriftsteller. Weiss mischte sich in die politischen Debatten der Zeit mit zahlreichen Stellungnahmen ein (vgl. „Rapporte 2“, 1971), das Engagement für Vietnam bildete dabei einen Schwerpunkt – Weiss nahm unter anderem am Russell-Tribunal Teil –, wobei er anders als viele Mitläufer der Antivietnamkriegsbewegung auch nach Ende des Kriegs dem Land solidarisch verbunden blieb.

Weiss bekannte sich zu „den Richtlinien des Sozialismus“, trat jedoch stets für die im Ostblock verfolgten Dissidenten ein. Sein „Trotzki im Exil“ (1969) war auch als Beitrag zu einer Selbstverständigung innerhalb der sozialistischen Bewegungen gedacht, der helfen sollte, Denkverbote zu durchbrechen. Mit diesem häufig unterschätzten Stück setzte er sich zwischen alle Stühle und wurde zu einer persona non grata, im Osten als verblendeter Revisionist, im Westen als verblendeter Dogmatiker gescholten.

Die massive Ablehnung, auf die Weiss 1969/70 stieß, erlebte er als „Niederlage“, die bis zu einem Herzinfarkt führte. In der Zeit danach  wandte sich Weiss wieder verstärkt den zuvor „als romantisch, utopisch, subjektivistisch“ diffamierten „Regionen der Zwecklosigkeit“ zu, als deren Ausdruck der „Traum“ firmierte, dessen ganz eigene Realität ihn schon vor 1965 stark beschäftigt hatte.

Hauptprojekt der 1970er Jahre war der dreibändige Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, der auf fast tausend Seiten die Geschichte und Niederlage des sozialistischen Widerstands gegen den internationalen Faschismus erzählt. Ineinander verschränkt thematisiert der Roman die Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen 1918 und 1945 und des Widerstands der Unterdrückten von jeher, sowie die Bedingungen und Wirkungsmöglichkeiten von Kunst. Im Wesentlichen besteht der Roman aus Gesprächen, die der Ich-Erzähler mit Freunden, Genossen und Bekannten über politische und kunsttheoretische Fragen führt, die in der Linken seit den 1920er Jahren verhandelt wurden. Ein Hauptthema sind die Spaltungen der sozialistischen Bewegung (Sozialdemokratie, Kommunismus, Anarchismus), die Flügelkämpfe und politischen Säuberungen innerhalb der Parteien, die prekäre internationale Solidarität im spanischen Bürgerkrieg, die versäumte Einheit der antifaschistischen Kräfte sowie die daraus folgende Niederlage des Widerstands gegen den Faschismus. Ein anderes wichtiges Thema ist die Rolle der Kunst und Literatur innerhalb des Jahrhunderte langen Kampfs gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Kunstwerke der Vergangenheit werden daraufhin befragt, wie sie an dem Kampf teilnahmen bzw. -nehmen und wie sie ihn schildern. Die Verschränkung ästhetischer und politischer Erfahrung ist Bedingung des verhaltenen Optimismus, der trotz der vernichtenden Niederlage der europäischen Arbeiterbewegung in der Epoche des Faschismus diesem Erinnerungsopus eignet. Mit der „Ästhetik des Widerstands“ (die drei Bände erschienen zuerst 1975, 1978 und 1981) versuchte Weiss, die Geschichte des antifaschistischen Widerstands aus dem „dichten Gewebe lügenhafter Geschichtsschreibung“ westlicher wie östlicher Provenienz zu befreien, und zugleich die subjektive Wahrheit, die vergeblichen Hoffnungen und die Leiden der beteiligten Frauen und Männer zu bewahren. Gegen eine einseitig historische und politische Lesart, die um 1980 die Rezeption des Romans beherrschte, empfahl Weiss noch kurz vor seinem Tod, auch die psychologischen Entwicklungslinien ernst zu nehmen und den Roman nicht zuletzt vom „Element des Traums“ her zu lesen.

Psychologische Wahrhaftigkeit, Kunst und Politik mittels einer Poetik des Traums zusammenzubringen, versuchte Weiss auch in seinen letzten Theaterstücken: in „Der Prozeß“ (1975), eine Dramatisierung von Kafkas Roman, und in dem daran thematisch anknüpfenden Stück „Der neue Prozeß“ (1982). Letzteres ist eine Bestandsaufnahme des kapitalistischen Gesellschaftssystems am Ende des 20. Jahrhunderts und der Möglichkeit von Künstlern, darin noch verändernd wirken zu können. Die Wahrhaftigkeit einer Kunst, die „dem Leiden, das dich zerreißen will, ein Zeichen setzt“, der spontane Protest von Bürgerinitiativen und das Engagement von starken Frauen sind in diesem Stück, das ansonsten von einem totalen Politikverdacht geprägt wirkt, die verbliebenen Anknüpfungspunkte der Utopie.

Das literarische Werk von Peter Weiss ist insgesamt von einer zunehmenden Integration objektiver und subjektiver Schreib-Intentionen geprägt. Kennzeichnend für Weiss ist dabei die stets wache Verantwortung gegenüber dem künstlerischen Bewusstsein wie gegenüber der historischen Wirklichkeit. „Ohne daß wir propagandistisch zu sein brauchen, müssen wir im Auge behalten, daß unsre Arbeit zur Klärung und nicht zur Verdunklung der Verhältnisse beizutragen hat“, schrieb Weiss 1973. Dies gelang ihm auf eine meistens unaufdringliche Weise, wie sonst kaum einem anderen engagierten Schriftsteller.

Literaturhinweise

Neue Biographien:

• Birgit Lahann: Peter Weiss. Der heimatlose Weltbürger. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2016.

• Werner Schmidt: Peter Weiss. Biografie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.

Zum Gesamtwerk:

• Arnd Beise: Peter Weiss. [Zweite, korrigierte und bibliographisch aktualisierte Ausgabe.] Philipp Reclam jun., Stuttgart 2015 (E-Book).