Abschiedsbilder

Ulrike Edschmids Roman über die Erinnerung an ein früheres Leben

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem öffentlichen Sterben, mit dem der Roman beginnt, folgt die Rekonstruktion eines Rückzugs. Ein junger Schweizer, Sohn aus gutem Hause, kommt 1967 nach Berlin, um Film zu studieren, bricht mit Familie und Vergangenheit, politisiert und radikalisiert sich, um 1975 mit 28 Jahren bei einem versuchten Autodiebstahl auf einem Kölner Parkplatz erschossen zu werden.

Ulrike Edschmid erzählt in nüchterner Sprache und starken Bildern die Lebensgeschichte von Philip S., dessen reales Vorbild Werner Sauber, Mitglied der Bewegung 2. Juni und vorübergehend ihr Lebensgefährte war. Ausgehend von den politischen Ereignissen der Jahre 1967/68 beschreibt sie die Stationen eines Umbruchs, der sich auf alle Lebensbereiche ausdehnte. Wohnen, arbeiten, Kindererziehung, das Bewusstsein für politische Themen und deren Deutung – das alles sollte sehr schnell ganz anders werden. Doch wie die einen die letzte Konsequenz scheuten und sich Rückwege ins „normale“, bürgerliche Leben offenhielten, brachen andere radikal mit allem.

So wie Philip S. – anfangs ist er noch der dandyeske Künstler, dessen erster, an Alain Resnais’ und Carl Theodor Dreyers Ästhetik geschulter Film „Der einsame Wanderer“ von den Kommilitonen als reaktionär verworfen wird. Dieser Film bleibt sein einziger, denn bald darauf sind seine Interessen andere geworden. Zwar lässt sich der „Wanderer“ noch zur Kritik an konventionellen Sehgewohnheiten und des Umgangs mit vorgefundenen Drehorten umdeuten, aber als geeignetes Mittel um den sozialen Umbruch herbeizuführen, sieht er den Film nicht mehr. Der künstlerische Anspruch weicht dem heroischen Auftrag und an die Stelle des Films tritt der bewaffnete Kampf. Im Austausch mit italienischen Anarchisten, die Betriebssabotage begehen, versucht S. auch in deutsche Fabriken den revolutionären Geist zu bringen, um die Grundlage für entsprechende Aktionen zu schaffen.

Aber das meiste davon liegt außerhalb des Fokus’ der Erzählung. Sie hält sich an die Erinnerung gemeinsam verbrachter Jahre, die bereits von Überwachung, Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen überschattet waren. Gegenüber den festgehaltenen glücklichen Momenten steht das sukzessive Verschwinden. Die selbstvertilgende Loslösung aus allen offiziellen und privaten Bezügen, der Versuch die eigene Geschichte auszulöschen, wird erst spät als ein langsames, indirektes Abschiednehmen erkennbar; eigentlich erst als der geplante Abstieg in den Untergrund feststeht und die konsequente Umsetzung von Theorie in Praxis beginnt.

Obwohl S. alle Fotos von sich zu vernichten versuchte, sind deren Abbilder durch das gemeinsame Erleben erhalten; nicht zuletzt durch die erzählte Erinnerung bleiben sie und zeigen einen, der sich zuletzt nicht mehr zeigen wollte. Jedes Kapitel des Romans eine Szene, ein Bild. Außenaufnahmen, die aber nie erkennen lassen, wie es dahinter aussieht. Kaum vermittelte Wandlungen und Abschiede eines einsamen Wanderers, dessen Wege so dunkel sind wie das zufällige Scheitern am Ende. Trotz perfekter Tarnungen und Scheinidentitäten sind alle Bemühungen vergebens. Ein verlorenes „Spiel nicht eingelöster Erwartungen“ holt ihn zurück in die Sichtbarkeit. Die nekrophilen Nahaufnahmen des fotografierten Toten aber zeigen nicht mehr als die letzte Spur einer „undeutlichen Existenz“, dessen Tod der Erzählerin ebenso wie der Abschied unbegreiflich bleibt.

Titelbild

Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
157 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423493

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