Ein allzu schwaches Debüt

Andrea Sawatzkis Roman „Ein allzu braves Mädchen“ enttäuscht

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrea Sawatzkis erster Roman „Ein allzu braves Mädchen“ ist ein schwaches Debüt. Schon nach neun Seiten, die in sagenhafte fünf Kapitel gegliedert sind, ist die gesamte Handlung des Romans vorhersehbar – vorausgesetzt, man hat schon einmal einen „Tatort“-Krimi gesehen: Eine Frau mit schwerer Kindheit, die als Prostituierte einen Peiniger erschlägt, ist das Grundthema unzähliger mittelmäßiger Kriminalromane und unbedeutender Filme.

Die Autorin hielt der offensichtlich flache und altbekannte Spannungsbogen nicht davon ab, ihn für den Roman zu verwenden. Manuela Scriba, das dem Titel nach brave Mädchen, wird zu Beginn im Wald gefunden, bekleidet mit einem Pailettenkleid und Lederstiefeln hockt sie knurrend und kichernd auf dem Boden. In die Psychiatrie eingewiesen, erzählt sie ihre Geschichte von einer schweren Kindheit, ihrem dementen Vater, den sie pflegen musste, vom Abrutschen auf die schiefe Bahn – von kleineren Einbrüchen, Alkohol, Drogen und schließlich ihrer Arbeit als Prostituierter. Dieser Alltag und die ausgefallenen Wünsche ihrer Freier werden mit geradezu voyeuristisch-pornografischer Lust detailreich geschildert. Während Manuela Scriba bereits in der Klinik therapiert wird, untersucht die Polizei den Mord an einem alten, alleinstehenden Mann, der nackt und mit eingeschlagenem Schädel in seinem eleganten Münchner Anwesen aufgefunden wurde. Dass die verängstigte Patientin ihn tötete, nachdem er seine perversen Fantasien an ihr ausgelebt hat, ahnt der Leser viel zu früh. Um aber einen Höhepunkt im Roman zu kreieren, lässt die Autorin die zunächst wortkarge junge Frau den Mord in ausführlichen Monologen schildern. Dabei wird der Blick wiederum intensiv auf die unappetitlichen und perversen Details gerichtet – wie beispielsweise der alte Mann seine Hunde Sperma von ihrem Rücken hat lecken lassen. Nur durch das Spiel mit dem Ekel gelingt es Sawatzki, etwas Spannung zu erzeugen.

Die Schwächen des Romans sind vielfältig. Dass beispielsweise ausgerechnet eine Bibel und die Erinnerung an Kirchgänge die junge Frau animieren, ihre Ärztin nicht mehr zu belügen und ihr vom schweren Leben mit ihrem kranken Vater zu erzählen, ist schon sehr einfallslos und platt. Viel gravierender sind fürwahr die Fehler im Sprachstil des Romans, die vor allem in der wörtlichen Rede der Patientin deutlich werden. Ihre Ausdrucksweise verändert sich innerhalb weniger Sätze von einfachen Wörtern, kurzen Sätzen und ihrem Bildungsniveau entsprechenden Vokabular zu komplexen Satzgebilden und selbstreflektierenden Äußerungen. Dass sie dann sogar beginnt, sich selbst zu therapieren und der Ärztin nur noch eine Statistenrolle zukommt, ist völlig unglaubwürdig. Sie sei sich selbst fremd geworden, über ihren Vater habe sie ihre Sprache verloren. Wenn sie von ihrem gewalttätigen Freund spricht, der ihre erste große Liebe war, analysiert sie, dass sie ihn vielleicht retten wollte und dass sie das Gefühl der Unterlegenheit suchte. Die Patientin resümiert: „Ich glaube, es ging mir darum, eine Sehnsucht in mir zu stillen.“ Wenn dann auch noch populäre Phrasen das psychotherapeutische Gespräch auf ein ermüdendes Niveau sinken lassen („Ich hätte mir auch die Liebe meines Vaters gewünscht.“), steigt beim Leser die Sehnsucht nach Logik und mehr Tiefe.

Der jungen Frau sitzt die Psychiaterin Dr. Minkowa gegenüber. Über sie erfährt der Leser kaum mehr als den Namen, das Alter, die Haarlänge und die schlanke Gestalt. Die Figur der Ärztin als einzige relevante Person im Roman neben der Patientin und den Männern aus ihrer Erzählung bleibt passiv, unscharf und beinahe unbeachtet. Dabei müsste doch die Psychiaterin als Gesprächspartnerin den einfühlsamen Konterpart bilden und ihre Reaktionen, ihre Mimik, Gestik und auch ihre Taktik die Bilder aus den Therapiesitzungen komplettieren. Für den Leser ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Ärztin – was im Roman mehrmals wiederholt wird – das Vertrauen der verstörten Patientin besitzt. Er muss diese Gegebenheit unbegründet akzeptieren wie etliche andere Ungereimtheiten in der Handlung.

Als dann das Rätsel gelöst ist und endgültig feststeht, dass die Patientin die Mörderin ist, beginnt ein mehrere Seiten umfassender Epilog, in dem moralische Lehren aus dem Geschehenen gezogen werden. Die Ärztin erklärt: „Ich spreche kein Urteil über Sie. Aber es ist nicht richtig, anderen Menschen das Leben zu nehmen.“ Wer hätte das erwartet? Unweigerlich stellt der Leser sich die Psychiaterin mit erhobenem Zeigefinger und in Falten gelegter Stirn vor. Und wer es noch nicht verstanden hat, der bekommt noch einmal erklärt, dass bei den Erzählungen der Patientin teilweise Traum und Wirklichkeit ineinandergeflossen sind. Schließlich zieht die Autorin den Schlussstrich: „Ihr altes Leben war vorüber. Sie hatte versäumt, es zu nutzen.“ Angesichts solcher Ausrufe ist dem Roman eine gewisse unfreiwillige Komik nicht abzusprechen.

Die unter anderem aus den Frankfurter Tatorten als Kommissarin bekannte Schauspielerin Andrea Sawatzki ist unbestritten ein Multitalent. Sie liest Hörbücher ein, sie tourt als Sängerin durch Deutschland und erfreut sich als Schauspielerin großer Beliebtheit. Doch ihrer Meinung nach gehen Filme oft „gar nicht so tief“ wie sie es als Schauspielerin gerne hätte, sagt Sawatzki. Sie interessiere sich für die Abgründe der menschlichen Seele und das Böse, das angeblich in jedem schlummert. Mit ihrem Romandebüt versuchte sie, tiefer zu gehen. Öffnet sie ihre eigene Seele? Autobiografische Elemente weist Sawatzki in Interviews von sich, doch manchmal gibt sie zu, dass die junge Frau mit bleicher Haut und rötlichen Haaren Ähnlichkeiten mit ihr hat und jeder Autor mit Erinnerungen arbeiten würde. Auch Sawatzkis Vater war Journalist, auch er erkrankte an Alzheimer und starb, als sie erst 14 Jahre alt war. Ob sie auch als Kind gekifft, gesoffen und gestohlen habe, wurde sie kürzlich in einem Interview gefragt (Berliner Zeitung, 09.03.2013). Sawatzki antwortete lachend, sie könne sich nicht erinnern.

Es wird einfach nicht besser. Angesichts des hohen Niveaus, das sie bei ihren verschiedenen Arbeiten in den letzten Jahren bewiesen hat und für das sie Popularität genießt und mehrfach ausgezeichnet wurde, erschrecken die Banalität und fehlende Klasse ihres Romans. Andrea Sawatzki ist schlecht beraten gewesen, ihn in dieser Form zu veröffentlichen. „Ein allzu braves Mädchen“ beweist, dass es eine hohe Kunst ist, ein intelligentes Psychodrama zu schreiben, und dass auch erfahrene Künstlerinnen straucheln können, wenn sie sich auf neues Terrain wagen.

Titelbild

Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen. Roman.
Piper Verlag, München 2013.
173 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055666

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