Das weltweite Insularium als Imaginarium

Über Ottmar Ettes literarische Globalisierungsgeschichte „TransArea“

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verdammt zum Zusammenleben sind wir spätestens seit der kolonialen Expansion Europas in der Frühen Neuzeit, der ersten Phase sogenannter beschleunigter Globalisierung. Trotzdem stellt die gerade sich vollziehende vierte Phase beschleunigter Globalisierung, die Amin Maalouf, französischer Schriftsteller libanesischer Herkunft, zufolge einer „Weltentregelung“ gleichkommt, vor neue Probleme – und die Literatur- und Kulturwissenschaften vor altbekannte Herausforderungen: Was kann und will die Literatur? Kann sie uns aus den „Sackgassen des Denkens“ herausführen? Und sind die Literatur- und Kulturwissenschaften in der Lage, einer angeblich immer marginaler werdenden Rolle der Literatur argumentativ entgegenzuwirken und neue Aufgaben für eine auf die Vielfalt individuellen wie kollektiven Lebens bezogene Philologie zu definieren?

Diese spätestens im Jahr der Geisteswissenschaften besonders laut gewordenen, aber meist unzureichend beantworteten Fragen stellt Ottmar Ette erneut und gibt in „TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte“ eine Antwort in Form einer Poetik der Bewegung. Transareale und bewegungsorientierte Studien versprechen in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung Vorteile gegenüber traditionellen nationalphilologischen, aber auch komparatistischen Ansätzen, die von zwei statischen Entitäten ausgehen.

Literatur im Sinne von Ette Sinne ist Lebenswissen in seiner verdichtetsten Form, das in den Transferprozessen der Literatur das Leben selbst transformiert. Wie könnte man nicht einverstanden sein? So hat Hans Ulrich Gumbrecht seinen „beistimmenden Widerspruch“ zu Ettes Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ formuliert. Doch Ettes optimistischen Gedanken will man an dieser Stelle nicht widersprechen. In „TransArea“ erklärt Ette Literatur nicht nur als Portal zu verschiedenen Epochen und Kulturen, sondern betont darüber hinaus ihre transareale sowie transkulturelle Entstehungs- und Wirkungsweise. Das Wissen der Literatur beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Region oder Nation, sondern befindet sich in Bewegung. Statt monologisch funktioniert Literatur dank ihrer Vieldeutbarkeit polylogisch, viel-logisch im Ette‘schen Vokabular, und diese Fähigkeit ist laut Ette für uns als Partizipanten in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung wertvoller als für jede andere Generation.

Mit diesem Hintergrund stellt sich die Forderung nach den theoretischen Zusammenhängen von Globalisierungen, Vektorisierungen, also die Speicherung alter und künftiger Bewegungsmuster, und den Literaturen der Welt. Transareale Studien oder TransArea Studies, wie sie im Internationalen Netzwerk für TransArea-Studien (POINTS) in Potsdam praktiziert werden, bieten hierfür Platz. Im Mittelpunkt stehen weniger Räume als vielmehr Wege, Territorien werden zu Gunsten von Relationen hinfällig und Grenzen werden unter dem dauerhaften Prozess ihrer Verschiebungen untersucht.

Ausgangspunkt für transareale Studien ist die Globalisierung als dauerhafter Prozess, den Ette in vier Phasen unterteilt, dementsprechend sind auch die Kapitel in seinem Buch angeordnet: Auf die erste Phase in der frühen Neuzeit, folgt die zweite von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu einer dritten Phase kommt es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die bis zum ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts anhält. Die bis heute anhaltende vierte Phase setzt in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Alle Phasen der beschleunigten Globalisierung sind ohne Transfer und Transformation, ohne Bewegung, wie sie bereits im Begriff „TransArea“ anklingt, nicht denkbar. Natürlich benötigen neu entstandene Bewegungsräume ein terminologisches Vokabular für Bewegung, Dynamik und Mobilität. Um einen Übergang von einer bloßen Raum- zu einer Bewegungsgeschichte zu schaffen, sollen Raumstrukturen aus der Perspektive der Bewegung neu verstanden und „bewegungsgeschichtlich“ dargestellt werden. Auf diesem Hintergrund entwirft Ette die dringlich gewordene Grundlage für eine Poetik der Bewegung.

Als eine TransArea par exellence betrachtet Ette die Tropen. Zum Bewegungs- und Querungsraum werden sie in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, in dieser Phase kolonialistischer Kontrolle etablieren sie sich dank schreibender Reisender wie Christoph Kolumbus, den Brüdern Pinzón und Amerigo Vespucci zum europäischen Projektions- und Imaginationsraum, der zugleich abendländisches Wissen adaptiert, korrigiert und erweitert. Wie die Tropen im rhetorischen Sinne, handelt es sich auch bei den Tropen im geografischen Sinne um Bewegungsfiguren, die Metamorphosen ausgesetzt sind. Der europäische Tropen-Diskurs lässt nur rhetorische Tropen zu, die den Diskurs über die Tropen sicherstellen. In der zweiten Phase der Globalisierung repräsentieren die Tropen im Zeichen der Äquatoriallinie eine gegenüber Europa verstandene „andere Welt“. Zu einem paradigmatischen transarealen Raum, der sich durch diese Eigenschaft von Europa unterscheidet, werden die Tropen schließlich für Alexander von Humboldt, der die Tropen anhand der sich in ihnen vollziehenden Bewegungen wahrnimmt. In Heinrich von Kleists „Die Verlobung von St. Domingo“ (1811) entpuppen sich die Tropen dagegen als Schauplatz eines „Kollaps der Konvivenz im kolonialen Kontext“, repräsentieren aber zugleich dank einer gelungenen narrativen Technik ein vielstimmiges und polyperspektivisches Lebenswissen.

Die dritte Phase beschleunigter Globalisierung zeichnet sich durch eine Ablösung der europäischen Mächte durch die USA dank des Eingreifens in den kubanisch-spanischen Krieg von 1898 aus. Der kubanische Schriftsteller José Martí (1853-1895) wird von dem ebenfalls kubanischen Autor, Essayist und Kulturtheoretiker José Lezama Lima „zu einer menschlichen und zugleich übermenschlichen Figur des transkulturell Amerikanischen stilisiert, in deren Gesten und Bewegungen sich gleichsam transhistorisch die Wege der Kulturen der Welt kreuzen und zu etwas Neuem, Unerhörtem verbinden“. Der Essay „Nuestra America“ des hispanoamerikanischen Modernisten Martí verweist auf einen neuen Amerika-Diskurs: Um gegenüber den USA eigenständig bestehen zu können, gilt es, europäische Ideen nicht nur zu transferieren, sondern zu transformieren. Gefordert ist also eine amerikanische „viellogische“ Strukturierung. Dies mag als Ankündigung für Ettes neues Buch „Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur“ betrachtet werden, anstatt eines einseitigen Rückgriffs auf abendländische Traditionen. Was den Insulaner Martí mit einem weiteren Protagonisten dieser dritten Phase beschleunigter Globalisierung, dem philippinischen polylingualen Schriftsteller, José Rizal (1861-1896), verbindet, ist der Entwurf einer  transarchipelischen Literatur. Diese im Ette‘schen Vokabular als „ohne festen Wohnsitz“ begriffene Literatur muss als transareales Phänomen erkannt und bewegungsgeschichtlich analysiert werden. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch eine Auflösung des Begriffs der Nationalliteratur. Nationalliteratur entpuppt sich vielmehr, wie das Beispiel der kubanischen Literatur zeigt, – und das klingt zuerst paradox – als transareales Phänomen, das statt einer nationalphilologischen eine transareale Analyse benötigt.

In der vierten Phase beschleunigter Globalisierung befinden wir uns laut Ette im „Netz transarchipelischer Beziehungen“. In dieser Phase wird verstärkt eine Sensibilität für frühere Globalisierungsphasen deutlich, die sich in einer ästhetischen Auseinandersetzung manifestiert, denn Literatur scheint zu wissen, dass die vierte Phase beschleunigter Globalisierung ohne die ihr vorangegangenen Phasen nicht möglich ist. So ist Mario Vargas Llosas Roman „Der Traum des Kelten“ (2010) multispatial und multitemporal angelegt. Sein Protagonist, Roger Casement, verkörpert die Gewalt, die in anderen Phasen der Globalisierung die Körper der indigenen Bevölkerung erfasst hatte. Der 1956 in Port-Louis auf Mauritius geborene Dichter, Filmemacher und Kulturtheoretiker Khal Torabully wagt mit seinem Projekt der „Coolitude“ einen poetisch und poetologisch reflektierten Versuch der Verarbeitung historischer und aktueller Globalisierungsprozesse und das Werk der japanisch-deutschen Schriftstellerin Yoko Tawada erklärt Ette schließlich als „Isolario“, als vielstimmiges und vieldeutiges Inselbuch der Kontinente, Kulturen, Sprachen und Sprachspiele, das ganz automatisch zur Reflexion über transareale Beziehungen anstiftet.

Mag dem europäischen Leser die Welt nun vielleicht zu groß geworden zu sein, so sei abschließend mit Ette erwähnt, dass „die Geschichte(n) und Kultur(en) Europas […] ohne die Einbeziehung transarealer Prozesse ebenso wenig zu verstehen [sind] wie etwa das Klima Norwegens ohne den Golfstrom aus den Tropen.“ Dem Plädoyer, den Fokus auf transareale Beziehungen zu setzen und das hinfällig gewordene „inter“ durch ein zeitgemäßes „trans“ zu ersetzen, kann man im Hinblick auf die bereits angebrochene Zukunft transarealer Literaturen und Kulturen nur zustimmen. Somit erweist sich die Entwicklung und Elaborierung einer Poetik der Bewegung als zeitgemäße Herausforderung für die Literatur- und Kulturwissenschaften.  Ottmar Ette hat es wieder einmal geschafft, Literatur und Literaturwissenschaft in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung eine ganz besondere Rolle zuzusprechen. Das weltweite Insularium als Imaginarium zeigt: Erst durch Literatur wird die Welt in ihrer Weite fassbar.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ottmar Ette: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte.
De Gruyter, Berlin 2012.
334 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783110287097

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch