Das Schweigen der Stiftsdame

Monika Kubrova untersucht das ‚gute Leben‘ adeliger Frauen um 1900

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

36 Autobiografien adeliger Frauen der Jahrgänge 1805 bis 1886 zwischen familialer Bindung und eigen-williger Lebensführung hat die Verfasserin untersucht und dabei auf Konfliktpotenzial und Versöhnung zwischen einem normgemäßen Lebensmodell und den aus der Rückschau berichteten Ist-Werten geachtet. Unter den Verfasserinnen sind nicht selten und auch nicht zufällig bekannte und zu Lebzeiten erfolgreiche Autorinnen wie Marie von Ebner-Eschenbach, Ida Gräfin Hahn-Hahn, Gertrud von le Fort, Malwida von Meysenbug oder Lulu von Strauß und Torney. Es sind also vor allem narrative, einem bestimmten Genre zugehörige Texte, die als Quellenbasis einer die Adels- wie die Geschlechtergeschichte des 19. Jahrhunderts bereichernden Studie dienen.

Aus ihrem Material heraus konstruiert die Verfasserin eine Normbiografie der adeligen Frau des späten 19. Jahrhunderts, analysiert anhand einiger Beispiele mögliche Konfliktlinien und beleuchtet abschließend den Normalweg der ledig gebliebenen Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, nämlich die Aufnahme in ein Damenstift. Unter dem ‚guten Leben‘ versteht Kubrova ein für die einzelne Autorin befriedigendes Verhältnis von Norm und Praxis. Sie leistet Pionierarbeit, indem sie adelige Selbstzuschreibungen (allerdings eben: ausschließlich Selbstzuschreibungen adeliger Frauen) systematisch auf die gängigen Normierungen von Weiblichkeit hin untersucht – hier konkret, welchen subjektiven Sinn die Autorinnen der Tatsache abgewinnen konnten, Familie zu haben und Teil einer Familie zu sein.

Üblich wäre demnach ein von der Familie bestimmtes Leben gewesen – ohne dass doch dieses Leben frei von Selbstbestimmung gewesen wäre. Die adelige Frau, so sieht es zumindest aus, hatte mehr zu sagen als die bürgerliche: sie war nicht nur Gattin und Mutter, sondern auch „Herrin und Gesellschaftsdame“, und sie verwirklichte sich im sozialen Engagement. Der Gattung Autobiografie wäre indessen mehr zuzutrauen, als die ‚sozialen Positionierungen‘ ihrer Autorinnen anzuzeigen und diese auf wenige, typische Merkmale zu reduzieren. Kubrova räumt ein, sie hätten die Gattung Autobiografie nicht „einheitlich“ genutzt – kein Wunder: es waren gebildete, kreative und auf dem literarischen Markt teils außerordentlich präsente und erfolgreiche Frauen, von denen hier die Rede ist, nicht nur „Adelige“, die sich zu ihrer Herkunftsfamilie zu verhalten hatten.

Dass das Wirken adeliger Frauen in die Gesellschaft hineinragen konnte, muss nicht allein auf moderne Berufe zurückgeführt werden. Auch das Handlungsfeld der Wohltätigkeit lässt die kulturell, sozial und rechtlich noch ‚ständisch‘ gebundenen Frauen zu Akteurinnen in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft werden. Dass zudem die Künste ein akzeptables Betätigungsfeld darstellten, kann nicht verwundern – Adel und Autorschaft gingen vor und nach der Etablierung eines ‚bürgerlichen‘ Literaturbetriebs offenbar gut zusammen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Das Selbstbild der Autobiografinnen und ihre Selbstzufriedenheit mit einer ethischen Kategorie des ‚guten Lebens‘ zu identifizieren, kommt einer Überforderung gleich und trifft nicht recht den Kern. Auch der Untertitel „Adelige Frauen im 19. Jahrhundert“ verspricht mehr und auch anderes, als dann geboten wird, denn es ist die Schwelle zum 20. Jahrhundert, die das Buch ansteuert, und es ist eben eine ganz bestimmte Quellengattung, die den Thesen zugrunde liegt und die erahnen lässt, dass zahlreiche adelige Frauen, die nicht zugleich eine schriftstellerische Ader hatten, möglicherweise ein ganz anderes Selbstverhältnis ausprägten – machten sie doch die gewiss befreiende und zugleich mit adeligen Vorstellungen von ‚Beruf‘ (oder eigentlich ‚Berufung‘ und damit Berufslosigkeit) durchaus vereinbare Erfahrung von Autorschaft nicht.

Die ‚Außenseiterinnen‘, die sich den bürgerlichen (sollte heißen: gesamtgesellschaftlich akzeptierten) Werten wie Arbeit, Bildung und Liebe öffnen, durchlaufen zwar Konflikte, fallen aber nicht gänzlich aus der Obhut der Familie heraus. Kubrova stellt sehr überzeugend dar, wie die semantische Zuschreibung ‚adelig‘ von Biografie zu Biografie aufgeweicht, flexibilisiert, neu ausgehandelt und dabei von strenger Konventionalisierung gelöst wird. Als oberster Wert bleibt immerhin bestehen, dass adelige Frauen sich standesgemäß verhalten müssen. Das heißt aber spätestens um 1900, dass ledige adelige Frauen berufliche Bindungen eingehen dürfen – vorher blieb den Unverheirateten nur der Rückzug ins Stift. Zwar werden Konflikte unter Einbeziehung der Geschlechterdimension erinnert, doch suchte die Verfasserin vergeblich nach einer Kategorie ‚benachteiligte Adelsfrauen‘ – sie kam eben im Selbstverständnis auch oder gerade der gebildeten und als Buchautorinnen hervortretenden Frauen nicht vor.

Monika Kubrova nimmt sich mit ihrer Untersuchung sehr viel vor, insbesondere ihr Quellencorpus ist enorm umfangreich. Dass die Verfasserin die Textualität und zumal die in das Ressort des Literaturwissenschaftlers fallende genrespezifische Textanalyse in ihre Argumentation einbezieht, erhöht den Wert ihrer Arbeit. Zugleich zieht Kubrova sich in ihrer Analysepraxis dann doch immer wieder auf die bloße Faktualität des Ausgesagten zurück, nimmt kaum zur Kenntnis, dass um 1900 mit der heraufziehenden ästhetischen Moderne auch Schreibweisen wie das Autobiografische sich ändern, dass erzählende und erzählte Ichs immer schon einer (sich freilich wandelnden) literarischen Konventionalisierung unterworfen sind, auch wenn sie vorgeben, ihre ureigene biografische Wahrheit zu bekennen. Diese Mehrwert produzierenden Merkmale der Literatur lösen nach Meinung von Literaturwissenschaftlern fiktionale Texte nicht von ihrer Referenz ab, wie die Verfasserin zu befürchten scheint; solche Texte konstituieren eigene Welten, die der empirischen Welt von Autorin und zeitgenössischen Leser/innen jedoch stark ähneln.

Dabei können Erzähllücken, kann sogar das Schweigen der Erzählerin signifikant sein, wie Kubrova anhand der Memoiren Ferdinande von Brackels darlegt. Deren Erzählweise verändert sich, als sie vom Eintritt ins Stift berichtet, als es nämlich klar geworden ist, dass die Ehelosigkeit ihr Schicksal sein wird. Erzählbare Ereignisse bleiben aus, Charakterbilder und „Stilleben“ überwiegen – bis 1866 politische Ereignisse und der eigene schriftstellerische Erfolg zusammentreffen und das Leben eben doch wieder erzählbar machen. Der Mehrwert des Verschweigens wie des Erzählens selbst liegt auf der Hand – und es ist Brackels Schreiben – nicht nur das Was, sondern auch das Wie –, das die Effekte von sozialer wie auch literarischer Konventionalität und der Abweichung davon zum Ausdruck bringt. Der berufliche Erfolg entschädigt an der Schwelle zur Moderne für das innerfamiliale Handicap, unverheiratet geblieben zu sein. Dieses Beispiel zeigt, dass es sich lohnt, auf text- und gattungsspezifische Signale zu achten – auch wenn ein close reading bei der zu bewältigenden Textmenge nur ausnahmsweise möglich ist.

Insgesamt gilt: Monika Kubrovas gewichtiges Buch gewährt einen sehr guten Einblick in die Welt adeliger Frauen um 1900 – es fordert auf zu weiteren Forschungen, zur Erschließung weiterer archivalischer, publizistischer und auch fiktionaler Quellen.

Titelbild

Monika Kubrova: Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
422 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-13: 9783050050010

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