Eine wohlwollende Entmythologisierung

Jonathan Sperber rückt das Bild von Marx als zeitlosem Übervater der internationalen Revolution zurecht

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Porträt des bärtigen Alten aus der feinen Londoner Maitland Park Road ist vielen Menschen auch 130 Jahre nach seinem Tod noch erstaunlich vertraut. Die üppige Löwenmähne des beißenden Kritikers und Propheten der klassenlosen Gesellschaft taugt selbst ein Vierteljahrhundert nach der geräuschlösen Selbstauflösung der Sowjetunion noch ebenso wie das verwegene Antlitz des argentinischen Arztes Ernesto Che Guevara bestens als Ikone einer grundstürzenden Weltrevolution oder aber, je nach Standort, als verhasstes Symbol des kommunistischen Terrors und seiner menschenverschlingenden Sozialexperimente.

Dass aber die Diagnosen und politischen Rezepte des Trierer Rabbinersohns Karl Marx angesichts eines neuerlich weltweit problematisch erscheinenden Kapitalismus noch heute gangbare Auswege bieten könnten, ist nach Ansicht seines jüngsten Biografen Jonathan Sperber eine übereilte Fehldeutung. Leben und Werk des Verfassers des „Kommunistischen Manifestes“ verdienen zwar, so der Geschichtsprofessor aus Missouri, weiterhin Beachtung und sogar Respekt, aber alle aktuellen Versuche, aus den verstreuten Schriften des Wahl-Londoners noch Visionäres für das 21. Jahrhundert heraus zu destillieren, verwirft er mit guten Gründen als anachronistisch.

In den 14 Kapiteln seiner Biografie präsentiert Sperber eine ausgewogene Mischung aus systematischer und chronologischer Betrachtung und weist darin überzeugend nach, dass Marx eine zutiefst durch das frühe 19. Jahrhundert geprägte Persönlichkeit war, deren Einsichten und Prognosen jedoch schon in der Bismarckzeit weitgehend überholt waren. Die bürgerliche Revolution von 1789 lenkte lebenslang die Vorstellungen des Rheinländers von einem Sturz der herrschenden Verhältnisse, und seine Vision einer klassenlosen Gesellschaft als wahrem Telos der Menschheitsgeschichte entstammte geradewegs der Philosophie des Idealismus. Seine an den Ideen von Adam Smith und David Ricardo orientierte politische Ökonomie, nach der die investierte Arbeit als tatsächlicher Wertmesser aller Warenproduktion galt, war schon zu Marx’ Lebzeiten von den Vertretern der Grenznutzentheorie einhellig verworfen worden. Bis heute ist diese Frontstellung nicht durchbrochen. Während die Neoliberalen nie erklären konnten, warum das „freie Spiel der Marktkräfte“ immer wieder heftige Krisen erzeugte, wussten Marx und seine Epigonen bis heute keine Antwort auf die Frage, weshalb gerade diese Erschütterungen den Kapitalismus mit jedem Mal stärker gemacht hatten.

Nur Fragmente seiner Lehre hat der von der preußischen Bürokratie beinahe jahrzehntelang verfolgte Journalist mit anfangs erstaunlich guten Kontakten zur rheinischen Bourgeoisie wirklich ausarbeiten können. Von seinen Werken fand das „Kapital“, der erste einer auf insgesamt drei Bände angelegten Generalanalyse von Massenverelendung, fallenden Profitraten und der unausweichlichen finalen Krise des Kapitalismus noch die größte Beachtung. Der deutschen Erstauflage von 1867 folgte sechs Jahre später eine zweite, 1875 sogar eine französische Übersetzung. Die Drucklegung der englischen Fassung in den 1880er-Jahren erlebt der zuletzt multimorbide Prophet des Kommunismus jedoch nicht mehr. Zum Fanal einer geistigen Epochenwende wie Charles Darwins fast zeitgleich erschienenes Werk über die Entstehung der Arten wurde das Buch jedoch nie.

Geprägt von den Imperativen der Wohlanständigkeit des 19. Jahrhunderts war auch das Privatleben des „kinderfressenden Umstürzlers“, der in der Öffentlichkeit sozialistische Weggefährten wie Proudhon, Bakunin und Lassalle noch heftigerer als selbst den Klassenfeind zu attackieren pflegte. Zu Hause präsentierte sich der Familienvater Marx stets als zuvorkommender Gastgeber und korrekt gekleideter Gentleman, dessen bereitwillige Hilfe sogar eine nach England reisende Nichte des Sozialistenhassers Bismarck in Anspruch nehmen konnte. Trotz aller notorischen Geldnöte bemühte sich der erklärte Feind der Bourgeoisie stets um ein betont bürgerliches Familienleben, dessen sterile Biederkeit sogar seine drei geliebten Töchter von Zeit zu Zeit in den Haushalt des befreundeten Friedrich Engels fliehen ließ, wo es deutlich ungezwungener zuging. Den ersten Ansätzen einer weiblichen Emanzipation stand Marx ebenso ablehnend gegenüber wie sein berühmter Zeitgenosse Charles Darwin. Vollkommen im Einklang mit der zeittypischen Bigotterie stand auch das jahrzehntelang gehütete Geheimnis um Marx’ unehelichen Sohn aus der Beziehung zu seiner Haushälterin Helene Demuth.

Marx’ Wirken und Werk blieben trotz aller hochfliegenden Pläne Fragment. Seine Hoffnungen auf eine erfolgreiche Revolution noch zu Lebzeiten musste er nach dem Scheitern der Pariser Kommune 1871 endgültig begraben. Die Liste seiner Irrtümer und Fehleinschätzungen war erstaunlich lang. Der hartnäckigste und skurrilste war vielleicht noch die mit dem turkophilen Aktivisten David Urquhart geteilte Überzeugung, der langjährige britische Premier Lord Palmerston sei ein bezahlter Agent des russischen Zaren.

Marx war somit in jeder Beziehung von seiner Zeit geprägt, und in seinem Denken und Fühlen blieb er sogar, so Sperber, der Gedankenwelt des Frühkapitalismus verbunden. Der Marxismus als geistige Strömung des 20. Jahrhunderts sei dagegen nur eine erfolgreiche Erfindung seiner überlebenden Vertrauten, allen voran Friedrich Engels, gewesen.

Sperber ist in seiner Biografie das Kunststück gelungen, Marx als mythischen Übervater des Kommunismus in Frage zu stellen, ohne seinen Protagonisten zu desavouieren. Sein Text zeugt von Wohlwollen, ja sogar von Sympathie des Verfassers. Was aber Sperbers Lebensbeschreibung nicht enthält, ist die Antwort auf die sich zuletzt immer mehr aufdrängende Frage des Lesers, was denn nun tatsächlich den besonderen Zauber in Leben und Lehre dieses Mannes ausmacht, auf den sich später so viele im Guten wie im Bösen beriefen. Marx war vielleicht durch und durch ein Mensch des 19. Jahrhunderts, aber darin eben keine Epochengestalt. Für das 20. Jahrhundert jedoch verhält es sich genau umgekehrt. Darin liegt das Rätsel seiner Geschichte, das auch Sperber offenbar nicht zu lösen vermochte.

Titelbild

Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl Heinz Siber.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
634 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406640964

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