Letzte Selbsttäuschungen

Heisenberg und die Atombombe: Richard von Schirach erzählt von der „Nacht der Physiker“ im englischen Farm Hall

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf diese Frage hatte Werner Heisenberg nur gewartet: „Würden Sie jetzt nach Amerika kommen wollen, um mit uns zu arbeiten?“ Am 2. Mai 1945 war Hitlers bedeutendster Physiker von einer US-Spezialeinheit im bayerischen Urfeld festgenommen worden. Seither drehte sich das Verhör darum, wie weit die Nazis mit dem Bau einer Atombombe gekommen waren – bis zuletzt hatte Heisenbergs „Uranverein“ versucht, in einem Reaktor im Felsenkeller in Haigerloch eine Kettenreaktion auszulösen. Der Nobelpreisträger von 1932, im Vollgefühl der Überlegenheit der deutschen Forschung, musste nicht lange überlegen: „Nein, ich möchte nicht weggehen, Deutschland braucht mich.“

Eine Antwort, die die ganze Hybris Heisenbergs offenbart. Noch etliche Wochen sollten er und seine Kollegen in der Überzeugung leben, dass die Alliierten ohne sie weder eine „Uranmaschine“, also einen Reaktor, würden bauen können, noch eine „Uranbombe“. Der Gedanke, dass ihm die Amerikaner nur eine Scheinfrage gestellt hatten und die Arbeit längst getan war, dürfte Heisenberg mit seinem „weltfremden Hochmut“ nie in den Sinn gekommen sein, vermutet Richard von Schirach in seinem Buch „Die Nacht der Physiker“.

Im Mai 1945 war der Sohn des damaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach drei Jahre alt und lebte ebenfalls in Urfeld am Walchensee, unweit der Heisenbergs – ein persönlicher Bezug, den der Sinologe in seiner Darstellung allerdings ausgeblendet lässt. Es ist die Frage nach den Rechtfertigungsstrategien der NS-Eliten nach 1945, die Schirachs neues Buch mit seiner bemerkenswerten Autobiografie „Der Schatten meines Vaters“ (2005) verbindet. Der Titel des neuen Buches ist eine Anspielung auf jene Schicksalsnacht im August 1945 im englischen Farm Hall, in der jäh alle Illusionen der deutschen Wissenschaftler zusammenbrachen – und eine neue Lebenslüge geboren wurde: die von der friedlichen Nutzung der Atomforschung unter Adolf Hitler.

Nach Farm Hall, einem geräumigen Landsitz nahe Cambridge waren am 3. Juli 1945 unter strenger Geheimhaltung zehn deutsche Atomwissenschaftler, darunter Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn, verschleppt worden. Sechs Monate lang dauerte ihre Deportation. Während die special guests auf Angebote der Alliierten warteten, ging es den Engländern und Amerikanern nur darum, dass das deutsche Wissen nicht den Russen oder Franzosen in die Hände fiel. Auf dem Landsitz lebten die Forscher beinah luxuriös, zumal für Nachkriegsverhältnisse, dennoch fühlten sich einige „wie in einem Konzentrationslager“, wie die verblüfften Engländer mithörten.

Denn die Zimmer der Nuklearforscher waren umfassend verwanzt worden – ein Umstand, den die Abgehörten selbst für ausgeschlossen hielten, „Gestapo-Methoden“ traute man den Engländern nicht zu. Erst 1993 wurde eine Auswahl der Überwachungsprotokolle veröffentlicht: der perfekte Stoff für ein packendes Wissenschaftsdrama um Genialität, Größenwahn und Schuld. Richard von Schirach hat diesen Stoff nun zu einer lebendig erzählten, durchweg verständlichen Darstellung verwoben. Sie erzählt die Geschichte der Atombombe nicht chronologisch, sondern mäandernd, mit Vor- und Rückblenden: von Otto Hahns Mitarbeit am deutschen Giftgaskrieg nach 1915 bis zu den Reaktionen der Deportierten auf die Nachricht vom Nobelpreis für Hahn 1945.

Als am 6. August 1945 die Abendnachrichten der BBC den Atombombenabwurf über Hiroshima meldeten, glaubten die deutschen Wissenschaftler zunächst an eine amerikanische Propagandalüge. Allenfalls den Einsatz eines neuen Supersprengstoffes hielt Heisenberg für möglich – zu schockierend war die Vorstellung, dass die USA geschafft haben sollten, was den Deutschen unmöglich gewesen war. Der Chemiker Otto Hahn brachte es hämisch auf den Punkt: „Auf jeden Fall, Heisenberg, seid ihr alle nur zweitklassig und könnt einpacken.“ In den folgenden Stunden wurden die sechs britischen Abhörspezialisten „Zeugen einer historischen Nacht der Bekenntnisse, Bezichtigungen, Zusammenbrüche, Tränen und letzten Selbsttäuschungen“, so Schirach.

Zunächst diskutierte man über die technischen Details; auch begann man, sich die Chancenlosigkeit des „Dritten Reichs“ gegenüber den Alliierten einzugestehen. Erst die Nachricht von den hunderttausend zivilen Opfern lenkte das Augenmerk auf die menschlichen Folgen: Während gerade Hahn, mit dessen Entdeckung der Kernspaltung 1938 alles begonnen hatte, anfing, in einem Strudel der Selbstvorwürfe zu versinken, entwickelten andere wie Carl Friedrich von Weizsäcker die Vorstellung, sie, die Deutschen, hätten ohnehin nie ernsthaft an einer Atombombe gearbeitet, sondern nur an einer zivilen „Uranmaschine“.

So wurde die Erkenntnis des eigenen Versagens umgedeutet in eine „freiwillige Selbstbeschränkung“, quasi in einen Akt des Widerstands. Eine schmeichelhafte Rechtfertigung, so Schirach: Dass der „Uranverein“ Hitler nicht die gewünschte Bombe liefern konnte, habe, vom Ressourcenmangel abgesehen, vor allem daran gelegen, dass Heisenberg zwar ein genialer Theoretiker war, aber als Leiter eines solchen Projekts eine „Fehlbesetzung“. Und daran, dass mit dem jüdischstämmigen Gustav Hertz der entscheidende Spezialist für Gasdiffusion fehlte.

Die technischen Herausforderungen ließen die deutschen Forscher von Anfang an „mutlos“ ans Werk gehen, anders als ihre US-Kollegen unter Robert Oppenheimer. Schirachs Darstellung vom Wettlauf zwischen dem deutschen „Uranprojekt“ und dem amerikanischen „Manhattan-Projekt“ liest sich lange wie ein Wissenschaftskrimi, bei dem die Konsequenzen der neuen Entdeckungen ausgeblendet bleiben. Umso schockierender Schirachs Schilderungen der Verheerungen in Hiroshima und Nagasaki. Ein gekonnt-brutaler Perspektivwechsel, der jene Blindheit gegenüber den Folgen ihrer Forschungen widerspiegelt, die für die Physiker auf beiden Seiten kennzeichnend war.

Titelbild

Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe.
Berenberg Verlag, Berlin 2012.
270 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834542

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