Zweite Schöpfung durch Kunst

Ein Gespräch mit der Autorin Silke Scheuermann über Idealismus, Utopie und die großen Fragen des Lebens

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Monika Wolting: Frau Scheuermann, im September erscheint Ihr neuer Roman „Wovon wir lebten“ beim Schöffling Verlag. Mit diesem Text greifen Sie die Gattung des Entwicklungsromans auf. Inwiefern konnte die Anbindung an diese Gattung Ihre Idee zu diesem Roman produktiv machen?

Silke Scheuermann: Nun, ich hatte eine ungefähre Vorstellung von der Geschichte – und fand es dann ausgesprochen reizvoll, sie, orientiert an Dickens Roman „Great Expectations“, als zeitgenössischen Fall zu behandeln. Also: Die Grundpfeiler des Originals nehmen und sehen, wie es heute sein könnte. In „Wovon wir lebten“ schildere ich die Glückssuche eines jungen Mannes, der aus problematischen Verhältnissen stammt, unter Berücksichtigung aller möglichen Aspekte, lebensgeschichtlich gesprochen vom Blickwinkel eines Zehnjährigen bis hin zu demjenigen eines jungen Mannes. Zuletzt ist mein Protagonist ein bekannter Koch – da lässt sich auch der quasireligiöse Umgang mit Essen in den reichen Ländern schön darstellen, der für einen bodenständigen Kerl wie ihn immer auch eine Prise Lächerlichkeit beinhaltet. Bei der Lektüre erkennt man nicht zwingend das klassische Vorbild – und muss es auch nicht. Im Hintergrund geht es mir immer auch um die Frage nach dem Trieb und den Instinken des Menschen, den Gegensatz Mensch-Tier, das Kultivierte gegen das Triebhafte. Zu Beginn ist Marten ein gedemütigter Sohn, der Kaninchen tötet, um seinen Frust abzureagieren, zuletzt ein gefeierter Koch, der sie zubereitet. Großer Unterschied. Und doch ist es seltsam.

Monika Wolting: Sie zeigen das Leben als Kontinuität, als eine Aneinanderreihung von miteinander verketteten Ereignissen, Begebenheiten und Vorfällen. Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach für den Menschen, gerade heute, wo er in einer sich rasant entwickelnden Welt lebt, sich sein Leben als Kontinuität erzählen zu können?

Silke Scheuermann: Sehr bedeutend – immer wieder eine große Herausforderung, Wenn ich darüber nachdenke, war das wohl auch der unbewußte Wunsch von mir als Autorin, einmal wieder ein ganzes Leben zu schildern (beziehungsweise den ersten Teil davon vollständig). Unser Leben ist so zerrissenen heute, es spielt sich in verschiedenen Ländern und Kontinenten ab, mit wechselnden Arbeitsplätzen, Beziehungen, Freundschaften … Ja, auch Ehen werden als zeitlich befristetes Arrangement gesehen, nicht anders wie etwa der Modestil, die Haarfarbe, die Sportart, die Ernährung. Ich kenne kaum jemanden, der nicht eine oder mehrere Psychotherapien gemacht hat in meiner Generation, und zwar vor allem zu diesem Zweck: den roten Faden in der eigenen Geschichte aufzuspüren.

Monika Wolting: Sie geben den Figuren Ihres neuen Romans dennoch die Chance „ein gutes Leben“ zu führen, ja sich zum Besseren entwickeln zu können. Ist das schon Idealismus?

Silke Scheuermann: Nicht wirklich, ich habe an die Ränder von Martens Geschichte ja auch einige weit weniger erfreuliche Schicksale gestellt. Und ich denke, es wird auch sehr deutlich, wie viele Zufälle eine Rolle dabei spielen, dass Marten sich auf einmal in einem besseren Leben widerfindet, als er es sich je erträumt hat. Eine Figur wie Jenna, die ihm sexuell verfällt, willenlos wird, zeigt ja auch, wie schwer es manchmal ist, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Man weiß eigentlich, das ist ein Fehler, was ich da tue – aber man kann nicht anders.

Monika Wolting: Ich würde gerne auf Ihren preisgekrönten Lyrikband „Skizze vom Gras“ (2014) zu sprechen kommen. Sie schaffen mit Ihren Gedichten eine neue, zum Teil bessere Welt. Vor 500 Jahren, 1516, erschien Thomas Morus’ „Utopia“. Der Text begründete ein Genre: Das Entwerfen gesellschaftlicher Alternativen verband sich mit dem Begriff der Utopie. Was können Utopien leisten: Sind sie Kritik, Programm oder Warnung, reales oder gedankliches Experiment? Sind sie Ermächtigung zum Verändern oder spenden sie Trost über die elende Gegenwart?

Silke Scheuermann: Ich denke, Utopien motivieren uns, Wege aus der Krise zu suchen, damit eine positive Entwicklung in so komplexen Themen wie den von Ihnen aufgezählten nicht von vornherein als unmöglich angesehen wird. Ebenso wie Dystopien in fiktionalen Werken eben eine warnende Funktion haben.

Monika Wolting: In Ihrem Gedichtband „Skizzen vom Gras“ ist die Rede von der „zweiten Schöpfung“, von ausgestorbenen Tieren der Urzeit, die wiederauferstehen beziehungsweise zum Leben aufs Neue erweckt werden. Sie geben der Menschheit, die sich heute inmitten aller möglichen Krisen befindet – man denke nur an Klimawandel, IS-Terror, Flüchtlingsdrama, sich verhärtende Fronten zwischen West und Ost – eine neue Chance. Führt Ihre utopische Vorstellung den Menschen denkspielerisch aus der Krise?

Silke Scheuermann: In den „Skizze vom Gras“-Gedichten gibt es beide Elemente: Einerseits eben die Hoffnung, dass „Leben“ – in welcher Form auch immer – sich durchsetzen wird wie im Gedicht über die ausgestorbenen Pflanzen, wo das Areal wild überwuchert wird von etwas Neuem, wie Sie ja zitiert haben. Andererseits wird eben, wie im Titelgedicht, auch die Möglichkeit einer auf wenige Pflanzen zusammengeschnurrten Fauna beschrieben. Ich stehe diesen Fragen selbst ambivalent gegenüber: Es könnte eine phantastische Wiedergutmachung des Menschen an ausgestorbenen Tierarten wie die Wandertaube oder der Dodo sein, sie, was ja heute möglich ist, wieder zum Leben zu erwecken. Andererseits lassen sich Konsequenzen nicht einschätzen. Ich bin Anhängerin der Gaia-These, sehe den Menschen als eine Art unter vielen Arten. Eine sehr erfolgreiche Spezies allerdings.
Auf ästhetischer Ebene kann ich mir auch vorstellen, wie zauberhaft sich Zwergmammuts im Kindergarten ausnähmen oder phosphorizierende Schafe das Landschaftsbild verändern. Letztere gibt es ja schon, das sind Schafe, die ein Quallen-Gen leuchten lässt. Und was für Wesen sonst noch in den Laboren der Welt existieren – wer weiß, wie schön sie vielleicht sind?

Monika Wolting: Ohne Utopie, sagte Umberto Eco, kann die Menschheit nicht auskommen. Für ihn war es „kein fixes Ziel, sondern immer ein Horizont in Bewegung“. Die Utopie war für ihn nur so lange attraktiv, wie sie nicht verwirklicht sein würde. Würden Sie auch meinen, dass Sie die utopische Welt eben auch aus diesem Grund in die poetische Welt der Lyrik und nicht in die realistische Welt der Romane verlagern?

Silke Scheuermann: Der Grund, dass ich diese Fragen eher in Gedichten als in einem Roman behandle, liegt an dem einen Charakteristikum der Utopie, gleichzeitig aus alten Vorstellungen und in der Zukunft liegenden Visionen zusammengesetzt zu sein. Und eben: Bilder zu sein.
So wie Vögel und Rosen seit Anbeginn der Lyrik thematisiert werden, halte ich es für nötig, in der Naturlyrik so weit mit der tatsächlichen Entwicklung der Umwelt zu dichten, wie es längst im kollektiven Gedächtnis ist, also: kein nettes Regenpfützchen mehr beschreiben, wenn es sauren Regen gibt – was nicht bedeutet, dass es darin keine Schönheit mehr gibt. Und für diese neuen Formen, gepfropfte Pflanzen und gezüchtete Tiere, gentechnisch verändertes Leben und veränderte Umweltbedingungen, eignen sich auch die alten lyrischen Formen nur noch bedingt.
Ich habe nur zwei Sonette in diesem Band gelassen: ein ebenso romantisches wie böses Liebesgedicht (Veilchen) und ein anekdotisches über das Wiederfinden einer ausgestorben geglaubten Art (Grüne Dahlie). Ich versuche aber auch dabei durch Ironie, es mir nicht im Romantischen und Anekdotischen bequem zu machen.

Monika Wolting: Von der von Hartmut Rosa in die Wissenschaft eingebrachten These von der ‚Beschleunigung unseres Lebens‘ („Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, 2005) handeln fasst alle Ihre Prosatexte („Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ (2007), „Die Häuser der anderen“ (2012)). Ihre Protagonisten scheitern an den sowohl eigenen als auch den sozialen Ansprüchen. Ist Ihre Lyrikwelt das Pendant zu der Prosa-Welt. Denn wenn Sie schreiben: „Erst, wenn ihr aufhört, das Ende / zu denken, seid ihr geheilt.“, könnte man meinen, ihre Lyrik ist das Heilmittel gegen die Beschwerden, an denen die Gesellschaft erkrankt, wenn die Prosa die Krankheiten aufzeigt?

Silke Scheuermann: Die großen Fragen zu behandeln, das kann Lyrik und dafür ist sie seit jeher das probate Ausdrucksmittel. Und eben dies ist meines Erachtens für einen Roman heutzutage nicht mehr möglich, es sind immer Schnipsel, Spiele mit den unterschiedlichen „Wirklichkeiten“ von Personen. Ich benutze gerne Ich-Erzähler, weil sich gerade in sehr persönlichen Ahnungen, Visionen, Träumen, in diesen bestimmten Momenten im Leben, die Karl Jaspers „Grenzsituationen“ genannt hat, das Menschsein gleichzeitig hochpersönlich und völlig individuell darstellt. Auch hier sind es Paradoxien, auf die meine Bilder immer wieder hinauslaufen. Der Roman muss sein Thema einschränken, und da fällt mir die Wahl oft schwer.

Monika Wolting: In der Tat siedeln Sie die Handlung Ihrer Texte oft im Künstlermilieu an. Ist das auch so, dass am Künstlermilieu die Brüche, denen die Gesellschaft ausgesetzt ist, am deutlichsten zu zeigen sind? Auch in dem neuen Roman „Wovon wir lebten“ spielt das Künstlermilieu zum Teil eine tragende Rolle: die Malerin Stella und der Starkoch Marten, denn Kochen, wie es Marten ausführt, ist eine Art von Kunst. Die beiden Gestalten zeigen aber auch zwei gegenteilige Kunstwelten: Stella – Kunst für Wenige, Marten – Kunst als Medienereignis für Massen.

Silke Scheuermann: Oft benutze ich das Künstlermilieu, weil es für mich immer eine logische Sache ist, dass die Möglichkeit einer zweiten Schöpfung durch Kunst dem Einzelnen hilft, ein befriedetes und gleichzeitig visionäres Leben zu führen. Aber in „Die Häuser der anderen“ gibt es auch andere Träume, gesellschaftliches Fortkommen, Prestige etwa. Glück gibt es da auch, in vielerlei Augenblicken und oft überraschend wie ein Wetterwechsel. Ich würde die Gegensätze anders beschreiben. Mir ist es wichtig gewesen, dass Marten die Welt als Koch gesellschaftlich als durchlässig erscheint, eben weil er eine Art „Naturtalent“ ist, darf er aus kleinen Verhältnissen kommen. Bei Stella ist es umgekehrt, ihr nutzt der Adelstitel nichts, im Gegenteil. Das habe ich als eine Form von Ausgleich angelegt. Im Bereich der bildenden Kunst gibt es den raschen Aufstieg ebenfalls – und den ebenso schnellen Fall. Solche Extreme interessieren mich. Auch die ‚Natur‘, Triebe, und das vereint Lyrik und Prosa, ist es immer wieder das Unkontrollierte, Triebhafte, das ‚Böse‘ im Menschen, das mich interessiert. Auch Martens Charakter schwankt eine ganze Weile. Letztlich ist es ja Zufall, eine Kette von Zufällen, dass Marten zum Beispiel bei der Schlägerei, wo er die Kontrolle verliert, diesen Kerl nicht umbringt und Jenna keine Überdosis abbekommt. An den Rändern seines Lebenswegs liegen Versager und Drogentote. Er ist die Ausnahme, nicht die Regel. Das ist also nicht allzu optimistisch, nur ein bisschen.

Monika Wolting: Es ist ja nicht nur das Künstlermilieu, das Ihre epischen Texte prägt, sondern auch das Umfeld, in dem junge Protagonisten an ihrem Lebensentwurf laborieren. Warum ist für Sie gerade die Phase der Adoleszenz von Bedeutung? Hier denke ich beispielsweise an die Erzählungen „Reiche Mädchen“, die Romane „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ oder auch „Wovon wir lebten“.

Silke Scheuermann: Nun, ich weiß nicht, Adoleszent ist man bis 18, vielleicht bis etwas über 20 – eigentlich. Länger sollte das ja nicht gehen. Marten wird durch die Verantwortung, die er für seine Mutter und die kleine Schwester tragen muss, sehr früh erwachsen. Heute gilt natürlich eine Art Berufsjugendlichkeit, das ist ja bekannt. Was die Milieus angeht: Generell erlebe ich Personen – Männer wie Frauen – aus einfachen Verhältnissen nicht unbedingt als intelligenter, aber sie führen doch ein erwachseneres Leben. Wiederum im Unterschied zu den Künstlern, den „Dauerkindern“ qua Beruf. Macht ja auch Spaß irgendwie.

Monika Wolting: Wäre es im Sinne Ihres Textes „Und ich fragte den Vogel. Lyrische Momente“, würde ich behaupten, dass Sie das Gedicht als das kraftvolle Medium zur Veränderung des Menschen lesen. Wenn vielleicht nicht sogleich für die äußere, dann aber in jedem Fall für die innere Welt.

Silke Scheuermann: Ja, die Kunst insgesamt hat diese Aufgabe. Wer Lyrik liest, ist meiner Erfahrung nach besonders aufgeschlossen, wissbegierig und gebildet – auch emotional gebildet. Er/Sie macht es sich nicht zu leicht, in keiner Hinsicht, das schätze ich sehr.

Monika Wolting: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch wurde am 12. Mai 2016 im Pop Up Pavillon des Goethe-Instituts Krakau anlässlich der Feierlichkeiten zur Europäischen Kulturhauptstadt Wrocław geführt.