Die Kunst, von Schwerem leicht zu erzählen

Zu Véronique Bizots Roman „Menschenseele“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist er wieder, dieser unverwechselbare Bizot’sche Ton. Endlich! Nachdem im vergangenen Jahr die im Original in den Jahren 2005 bis 2008 erschienenen Erzählungen unter dem schönen Titel Die Heimsucher auf deutsch veröffentlicht wurden, liegt nun der dritte Roman der 1958 geborenen Französin vor. Auch wenn sich Bizot treu geblieben ist, hat sie ihr Schreiben verändert, es weiterentwickelt.

Menschenseele spielt zu einem großen Teil in einer französischen Bergregion – wieder haben wir hier das Motiv der Provinz, der Abgeschiedenheit, möglicherweise auch das der Einfachheit, aber auch der Rückständigkeit. Dort leben zwei Brüder, deren Haus vor geraumer Zeit abgebrannt ist, sie scheinen die einizigen Überlebenden einer ehemals größeren Familie zu sein. Der ältere der beiden ist Übersetzer aus dem Italienischen, allerdings eher glück- und erfolglos. Außerdem ist er der Beschützer, Hüter und Vormund des deutlich jüngeren Bruders, der traumatisiert und introvertiert ist, auch eine Zeit seines Lebens in einer Anstalt verbracht hat. Der Übersetzer ist ein glühender Verehrer des weltberühmten und mit allen möglichen Preisen dekorierten Theaterautors Adrien Fouks, der nach diversen internationalen Stationen nun in der Nachbarschaft der Brüder lebt. Dieser Fouks ist ein launischer und unberechenbarer Mensch, der aufzublühen scheint, als ein gewisser Montoya in ein wahrhaft pittoreskes Bergdomizil einzieht. Vorher lebte und arbeitete dort ein Maler namens Haupt, der beinahe schon überstürzt aufzubrechen gedachte und so seinem Nachfolger und Nachmieter Montoya dieses Gebäude, das vorher eine Autowerkstatt und davor ein Kuhstall war, mehr oder weniger möbliert überließ. Gut für Montoya, von dem keiner weiß, wer er ist und woher er kam. Nun ist das Herrenquartett also beieinander und Madame Bizot kann ihre Geschichten um die vier herum spinnen.

Das macht sie auf so leichtfüßige Weise, mit so vielen Einfällen, die nie nur des Effekts wegen platziert, sondern immer mit Bedacht gesetzt sind und eine Wirkung haben, etwas Weiteres, Neues auslösen. Oft trifft man sich bei Fouks, um zu reden und zu essen. Die riesige Bibliothek dieses homme de lettres ist vor allem für den jungen verschlossenen Bruder – den Ich-Erzähler des nur 142 Seiten langen, jedoch sehr gehaltvollen und kunstvoll erzählten Romans – ein Rückzugs- und Erziehungsort. Womit dieses Buch auch ein Buch über Bücher und Literatur wird, was sich im weiteren Verlauf noch explizit zeigen wird. Es wird viel spaziert und gewandert, manchmal besteigt man auch den Berg, um sich bei Montoya zu treffen. Und nur ganz minimal dosiert kommen biografische Bröckchen der Brüder zutage, die bereits geschilderte Katastrophe (auch ein wiederkehrendes Motiv bei Bizot) und eine unmögliche Liebe des älteren Bruders, der sich vor Jahren ernste Hoffnungen machte, mit einer verheirateten Frau aus Turin ein neues Leben beginnen zu können. Das Scheitern dieses Plans, der Verlust dieser Liebe haben ihn bitter und manchmal auch jähzornig werden lassen. Sein Bruder registriert das alles aus sicherer Distanz, macht sich sein Bild, das er dem Leser anbietet.

Als Fouks eine Einladung nach Turin erhält, wo eines seiner Stücke gezeigt werden soll, entscheidet sich die Gruppe für einen gemeinsamen Ausflug. Natürlich ist das Reiseziel für mindestens eine Person in emotionaler Hinsicht besetzt, doch lässt die Autorin hier die simplen Erwartungen des Lesers ins Leere laufen, da sie andere Pläne hat. So führt sie ihre Helden – allerdings ohne den älteren Bruder – zur Piazza Vittorio Veneto, wo sich der Schriftsteller Franco Lucentini das Leben nahm. In der Folge erfährt der verblüffte Leser, dass es mit Primo Levi, Cesare Pavese und Emilio Salgari drei weitere italienische Schriftsteller gab, die sich in Turin umbrachten. Man könnte diese Episode durchaus als Fingerzeig verstehen, dass es im Verlauf des Buches noch einen Toten geben könnte.

Véronique Bizot spinnt ihre Leserschaft in einer zeitlosen Sprache, die durch gewählte Worte und verschachtelte Sätze besticht, förmlich ein. Sie erschafft kleine Universen, die – das bezieht sich primär auf das Leben in der Provinz – nahezu ohne soziale Strukturen, ohne Umgebung, ohne andere Menschen zu funktionieren scheinen. Bezeichnend ist, dass im Wohnort der vier Männer ein Gasthaus namens „Falscher Hase“ schließen musste und es nun nur noch ein Gasthaus gibt, den „Mageren Hasen“. Das wirkt einerseits trist und öde, andererseits blickt die Autorin dadurch klar und konzentriert auf ihre Protagonisten, auf deren Interaktionen und Marotten. Diese Literatur, deren Schwerpunkt nicht auf der Handlung liegt, die mit Komik und Groteske einerseits, mit Schwere und existenziellen Fragen andererseits über eine enorme Bandbreite verfügt und von kluger und intensiver Schreibplanung kündet, trifft wahrscheinlich keinen breiten Massengeschmack. Doch Leser von Jan Peter Bremer, Jean Echenoz, Susanne Neuffer oder Stefano Benni werden auch mit Menschenseele ihre ganz spezielle Freude haben und sich mit diesem feinen Roman bestens unterhalten, zumal sich die Autorin ein sehr originelles Ende ausgedacht hat.

Titelbild

Veronique Bizot: Menschenseele.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz.
Steidl Verlag, Göttingen 2016.
142 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783958291362

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