Die andere Heimat

Zur Neuedition des „Geometrischen Heimatromans“ von Gert Jonke

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein geometrischer Heimatroman? – Wie soll man sich eine geometrischen Prinzipien folgende Erschließung von ‚Heimat‘ vorstellen, eine Form der Aneignung von ‚Heimat‘, in der sie gemessen, gezählt und auf allgemeine und wiedererkennbare Muster reduziert wird? Und stellt sie damit nicht das genaue Gegenteil einer Haltung der Einfühlung und Identifikation dar, die ein Heimatroman zu seiner Voraussetzung hat und die diesen zum vielleicht ideologieanfälligsten literarischen Genre überhaupt macht?

Liest man heute den Geometrischen Heimatroman des 2009 verstorbenen österreichischen Schriftstellers Gert Jonke – mit dem dieser 1969 debütierte –, dann ist man vermutlich noch stärker irritiert, als man es seinerzeit gewesen wäre. Anlässlich des 70. Geburtstages des Autors wurde der schmale Band in diesem Jahr wiederaufgelegt und mit einem Nachwort von Anke Bosse versehen, in dem die Metamorphose nachvollzogen wird, die der Text durch die Veränderungen an der ursprünglichen Fassung durchlaufen hat, die der Autor selbst anlässlich einer neuen Ausgabe sämtlicher vorliegender Werke im Jahr 1980 vorgenommen hat. Diese bearbeitete Fassung ist in dem Sammelband Die erste Reise zum unerforschten Grund des stillen Horizonts enthalten und stellt auch die Textgrundlage der vorliegenden Ausgabe dar. Die spätere Fassung dokumentiert nicht nur eine stilistische Überarbeitung, sondern auch thematische Verschiebungen; deutlich, gleichsam parabelhaft, zeigt sich nunmehr – vor dem Hintergrund der Diskussionen um Atom- und Umweltpolitik seit den 1970er Jahren – die Logik der Vernichtung der Natur durch den Menschen, die in die selbstverschuldete Zerstörung der Lebensgrundlage des Menschen mündet.

Der Roman, der keine durchgehende Erzählinstanz aufweist, scheint genau dies zu beabsichtigen: Wie die sprachkritisch-experimentelle Literatur der 1960er Jahre, in deren Kontext er zu verorten ist (man denke beispielsweise an die ‚wiener gruppe‘, die konkrete Poesie sowie das Frühwerk von Peter Handke, Peter Weiss oder Jürgen Becker), will auch der Geometrische Heimatroman den Leser irritieren, ihn zur Reflexion auf seine Wahrnehmung, seinen Umgang mit Sprache und seine Auffassung von ‚Wirklichkeit‘ anregen. Er muss, wie auch im Falle von Weiss‘ 1960 erschienenem experimentellen Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers, aus Bruchstücken Sinnzusammenhänge des kommunikativen Handelns rekonstruieren.

Die Wirklichkeit, die der Roman darstellt, ist nur scheinbar eine dörfliche; zwar stellen das Dorf, die es umgebende Landschaft und die Figuren, die dem Leser begegnen (der Pfarrer, der Bürgermeister, der Lehrer, der Schmied u.a.), die Kulisse für das ‚Erzählen‘ und ‚Erinnern‘ dar, doch bleiben Ort und Zeit der Handlung unbestimmt, die Dorfbewohner treten als „entpersonalisierte, abstrakte Kunst-‚Figuren‘“ auf (Bosse). Die insgesamt neun Dorfplatz-Kapitel bilden das formale Gerüst des Romans, indem sie immer wieder auf die spärliche ‚Rahmenhandlung‘ referieren: In diesen Kapiteln beschreiben zwei namenlose Beobachter-Erzähler immer wieder aufs neue den Dorfplatz und das wechselnde Geschehen an diesem Ort. In Dialogen, die an Szenen des absurden Theaters, insbesondere an Samuel Becketts Warten auf Godot erinnern, beratschlagen die beiden in ihrem Versteck in der Werkstatt des Schmiedes, wie sie ungesehen den Dorfplatz überqueren können, den sie aus ihrem Winkel beobachten. Immer wieder scheint der Dorfplatz auf den ersten Blick leer zu sein und sich eine Gelegenheit (zur Flucht?) zu bieten, immer wieder jedoch verschieben sie ihren Aufbruch aus Angst, gesehen zu werden. Auf diese Weise beobachten sie nicht nur das Geschehen im Dorf, sondern werden zu Zeugen ihrer eigenen Abwesenheit: „[W]ir hatten uns in der Werkstatt des Schmiedes versteckt, die Wangen eng an die Mauern gepreßt, niemand hat uns gesehn, und so haben wir beobachtet, wie die auf den Bänken sitzenden Leute uns nicht sehen konnten, weil wir nicht über den Dorfplatz gegangen sind, ja wir haben gesehn, wie sie uns nicht gesehn haben.“ Erst am Ende des Romans ist der Dorfplatz tatsächlich leer, selbst die Bänke, die an den Rändern des Platzes aufgestellt waren und zum Verweilen hätten einladen können, sind an die Peripherie des Dorfes gerückt. Dabei deutet sich an, dass die beiden in ihrem Versteck zu Zeugen der Zerstörung und Verödung des Dorfes geworden, ihr aber letztlich entronnen sind.

Erzählt werden Episoden aus der Geschichte des Dorfes. Es entsteht der Eindruck, als spräche ein vielstimmiges Dorfgedächtnis, ein kollektives Subjekt, das sich in den Lektionen des Lehrers ebenso bekundet wie in den Erinnerungen der Dorfbevölkerung oder der Gemeindechronik, die der Pfarrer von Tag zu Tag fortschreibt, wobei er auch schon mal von den Tatsachen abrückt. Man könnte dieses Dorfgedächtnis, dieses scheinbar noch intakte dörfliche Erinnerungsmilieu mit seinen eigenen Strategien der Überlieferung für eine Reminiszenz an den Heimatroman halten, wäre es nicht von vornherein an der Vielfalt der Perspektiven und dem heterogenen ‚Erinnerungsmaterial‘ gebrochen.

Die sprachspielerische geometrische Vermessung des Dorfes und seiner Landschaft dient der Verfremdung. Wie Bosse in ihrem Nachwort anmerkt, bemisst die Geometrie den Raum, indem sie ihm abstrakte Regeln, Formeln und Gesetze überstülpt, um ihn zu berechnen und zu erfassen. So findet sich gleich zu Anfang eine Beschreibung des Dorfes, die an die Eröffnungspassage aus Alain Robbe-Grillets Erzählung La Jalousie (1957) erinnert: „Das Dorf liegt in einem Kessel. Es ist von Bergen umgeben. Der Silhouettenrand der Bergkette im Norden des Dorfes hat die Form vierer Kurven, die ineinander übergehen: eine Sinuskurve, eine Cosinuskurve und eine Sinus- und eine Cosinuskurve um je eindreiviertel Phasen verschoben.“ Geometrisch vermessen wird nicht nur eine Landschaft, sondern eine gesellschaftliche Struktur, die von Kirche, Verwaltung und menschlicher Arbeit geprägt ist. Der geometrisch verfremdende Blick bleibt dieser Struktur jedoch keineswegs äußerlich. Den gesamten Roman durchzieht die Thematisierung von Regelwerken, Gesetzestexten, von Reglementierung aller sozialen Verhältnisse und des öffentlichen Raums durch das Verwaltungsrecht. Gleich im Eingang des Dorfes sind alle „hundert Meter […] an den Wegrändern Tafeln aufgestellt“; es sind Verbots- und Warnschilder, Straßenzustandsmeldungen und Handlungsanweisungen aller Art und für jede nur denkbare Situation. Mit dieser Sichtbarmachung von Ordnungs- und Zwangsstrukturen führt der Autor den Anspruch einer totalen Kontrolle durch staatliche Verfügungen, wie er sie dem Leser hier vor Augen führt, ad absurdum. Besonders deutlich wird dies in dem Kapitel „Das neue Gesetz“. Dieses beinhaltet das Verbot, „durch Wälder und Alleen zu gehen, um die Bevölkerung vor den schwarzen Männern zu schützen, die sich in dem Schatten der Bäume so gut verstecken, daß sie manchmal mit der Dunkelheit in den Alleen so gut wie identisch werden können.“ Die Justiz wolle damit erreichen, dass „die Leute, die sich ab jetzt nur mehr im freien und offenen Land bewegen, von dem für ihren Sichtbezirk zuständigen Personal, Geometern, Vermessern, Gendarmen, Soldaten und deren Gehilfen sofort entdeckt und eingeteilt werden können […].“ Das Eliminieren grundlegender Freiheiten wird hier mit einem absoluten Sicherheitsversprechen für die Bevölkerung legitimiert – was sich auch gegenwärtig allerorten beobachten lässt. Da Jonke dieses Kapitel im Vergleich zur früheren Version hinsichtlich der Schilderung von Verhörmethoden und der Strafe bei Zuwiderhandlung etwas entschärft hat, tritt das Groteske dieses neuen Gesetzes und der damit eingeführten und von Jonke ins gänzlich Absurde gesteigerten Kontrollformulare deutlich heraus, die wie zum Ausfüllen durch den Leser zu einem Bestandteil des Textes werden.

Das Prosagedicht „Aussicht“, mit dem der Roman schließt, bündelt das Dorf wiederum zu einer geometrischen Figur, einem „Ellipsoid mit den Ausmaßen eines herkömmlichen Rugbyballes“. Es wird empfohlen, diesen Ball über die Schulter zu werfen und „in eine andere Landschaft einzubiegen“. Diese Aussicht, in der der Leser das Dorf endlich hinter sich gelassen hat und in der dieses sich auf einen fernen Punkt in der Weite der Landschaft zusammenzieht, ist das Äquivalent zur Innensicht, jener engen Beobachterposition aus dem Rückzug in einen Winkel in der Werkstatt des Schmiedes, die schließlich aufgegeben wurde. Mit dem Überqueren des Dorfplatzes am Schluss des Romans deutet sich eine Fluchtlinie aus der perspektivischen Enge an, die – anders als der traditionelle Heimatroman – das Eigene und Vertraute nicht bewahrt oder es beständig ans Territoriale rückzubinden versucht, sondern es der Selbstzerstörung überlässt, die jedenfalls im Dorf längst Einzug gehalten hat.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gert Jonke: Geometrischer Heimatroman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Bosse.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2016.
167 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270103

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