Chroniken aus dem Alltag einer vergessenen Region

Óscar Martínez berichtet über Leben und Sterben in Zentralamerika

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur vermittelt Einblicke in das Geschehen und weckt zugleich Empathie für das Leben der Protagonisten. Journalismus liefert Fakten und berichtet von dem, was hier und heute passiert. Wenn man Literatur und Journalismus fusioniert, wie dies seit mehreren Jahrzehnten mit großem Geschick und zunehmendem Erfolg in Lateinamerika geschieht, erhalten wir crónicas. Die deutsche Bezeichnung ‚literarische Reportage‘ ist allerdings unzureichend, denn eine crónica ist ein Zwitter, ist ‚fiction‘ und zugleich ‚non-fiction‘, wird manchmal auch als ‚faction‘ bezeichnet. Sie lebt von der Recherche, dem Interview, der Kurzgeschichte. Kurzum: die crónica ist ein Allesfresser, weil sie alles aufnimmt, was ihr über den Weg läuft. In Worten des mexikanischen Autors Juan Villoro ist sie ein „Schnabeltier“.  

Angefangen hat die Aufwertung der crónica, die seit der Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas ein eigenes und faszinierendes literarisches Genre des Kontinents ist, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Gabriel García Márquez und seinem Bericht über einen Schiffbrüchigen (1955) sowie mit Tomás Eloy Martínez und seiner Aufdeckung eines Massenverbrechens in seinem Buch Die Passion von Trelew (1973). Gemeinsam gründeten die befreundeten Autoren und leidenschaftlichen Reporter 1995 eine Schule für investigativen Journalismus in Cartagena de Indias, heute Kaderschmiede der neuen Generation von crónistas.

In den letzten Jahren werden die Autoren der crónicas gleichberechtigt neben die Romanciers gestellt. Einige von ihnen kommen vom Journalismus, andere von der Literatur, generell betätigen sie sich in beiden Sparten. Eine Anthologie, die 2012 in Spanien publiziert wurde, trug den Titel Besser als Fiktion. Es fehlt also nicht an Selbstbewusstsein, wenn von Texten der cronistas gesprochen wird. Namen wie Alma Guillermoprieto, Leila Guerriero, Juan Villoro oder Martín Caparrós wurden bereits in Deutschland publiziert, und heute kommt ein weiterer Name hinzu, den man sich merken sollte: Óscar Martínez.

Geboren 1978 in El Salvador ist Martínez ein bewundernswert mutiger Autor, der mit Drogendealern, Polizisten, Staatsanwälten, Politikern, Kronzeugen und Kriminellen redet, was in seinem Land lebensgefährlich ist. Er recherchiert penibel genau, hält dann alles in packenden, ergreifenden, aufwühlenden Texten fest. Er unterteilt seine Geschichte der Gewalt, insgesamt sind es 14 Reportagen, in drei Teile, denen er jeweils ein paar Zeilen voranstellt: „Einsamkeit. Wenn die Behörden beschließen, sich aus einer Region zurückzuziehen, wenn sie aufhören, ihre Arbeit zu tun, bleiben die Ärmsten der Armen allein zurück und versuchen, unter den Regeln zu leben, die von den neuen Machthabern mit Klingen und Kugeln durchgesetzt werden“. „Wahnsinn. Diejenigen, die bleiben, versuchen in der Einsamkeit, fern der staatlichen Autorität, die Gewalt zu überleben. Den Wahnsinn, der hier entstanden ist, kann man auch als großes Scheitern verstehen“. „Flucht. Viele glauben, dass es in diesem Winkel der Welt für sie keine Zukunft mehr gibt. Sie stürzen sich in eine andere Hölle und versuchen, sie zu durchqueren, um der eigenen Hölle zu entfliehen“.

Offensichtlich sind es immer nur ein paar besonders engagierte, mutige Menschen, die gegen die Kriminalität, Straflosigkeit, Verbrechen und Korruption kämpfen: ein Gerichtsmediziner, der wie Sisyphos nicht an seiner Arbeit verzweifelt, um die anonymen Toten in einem Brunnen zu identifizieren, ein hartnäckiger Staatsanwalt, manchmal ein Polizist, der sich nicht kaufen lässt (trotz seiner miserablen Entlohnung), ein Kronzeuge, der aussteigen möchte aus der Gewaltspirale und doch weiß, dass der Staat ihn vielleicht nicht schützen kann (oder will). Die Verrohung der kriminellen Jugendbanden, genannt Maras, die ursprünglich in den 90er Jahren in Los Angeles entstanden und nach Kleinverbrechen aus den Gefängnissen direkt zurück in ihre Heimatländer ‚exportiert‘ wurden, wo sie weder familiäre Bindungen noch irgendein Auskommen hatten, ist kaum vorstellbar. Ihre Erkennungsmerkmale sind zahllose Tätowierungen auf dem ganzen Körper. Die blutigen Auseinandersetzungen der beiden sich bis auf den Tod bekämpfenden Gruppen Salvatrucha und Barrio 18 dauern unverändert heftig an, sie werden sogar in unterschiedliche Gefängnisse gesteckt, damit sie sich dort nicht umbringen. Die Unmöglichkeit, jemals einen legalen Job zu finden – es gibt nicht ausreichend Arbeit in ihren Länden –, treibt viele Maras in die Arme der Drogendealer und zigtausende ihrer Opfer auf den Weg in die USA.

Óscar Martínez stellt jedem Text eine Art Zusammenfassung voran und erzählt einfühlsam, präzise, ohne sich jemals plakative oder sensationelle Bemerkungen zu erlauben, vom Leben, von der Arbeit, von den Enttäuschungen und manchmal den Erfolgen seiner Protagonisten. Er liefert keine eigenen Kommentare: das Geschehen und die Menschen sprechen für sich selbst. Der Leser weiß in jedem Moment, dass er „wahre Geschichten“ liest – aber die Leistung von Martínez besteht u.a. darin, dass er trotz allen Schreckens, von dem er berichtet, dennoch Empathie weckt. Der Leser erfährt viel über den ehemaligen „Hinterhof der USA“, diese uns so wenig bekannten „Bananenrepubliken“, in denen ein Jahrhundert lang die United Fruit Company bestimmte, wer jeweils regieren durfte. In den 80er Jahren folgten der Bürgerkrieg in Salvador und schlimmste Gewalt gegen die Indios in Guatemala sowie eine Revolution in Nicaragua. Heute stehen El Salvador und Honduras an der Spitze der Statistiken über die höchsten Mordraten der Welt, nach Aleppo. Martínez lässt seine Kritik an den Folgen der – bei uns längst vergessenen – Bürgerkriege der 80er Jahre in manchen Nebensatz einfließen. 

Der Autor, der viele Preise für seine Texte bekommen hat, ist Mitbegründer der Online-Zeitung ElFaro.net, die über vieles berichtet, was in keinem anderen Blatt zu finden ist. In der Tat ist es ein Leuchtturm des mutigen Journalismus. Martínez’ humanistisches und politisches Engagement sowie seine schriftstellerische Kunst, auch die schlimmsten Fakten erzählerisch behutsam zu vermitteln, sind außergewöhnlich: er verdient Hochachtung und Bewunderung! Unbedingt lesen!

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Óscar Martínez: Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Lateinamerika.
Aus dem Spanischen übersetzt von Hans-Joachim Hartstein.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
304 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140990

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