Californian Nightmare

Emma Clines Roman „The Girls“ führt seine Leser auf die dunkle Seite des Traums von einem anderen Amerika

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die 14-jährige Evie Boyd, Ich-Erzählerin in Emma Clines mit vielen Vorschusslorbeeren bedachtem Romandebüt The Girls, ist die Begegnung eine Offenbarung. Wie „Fürstinnen im Exil“ kommen ihr die drei Hippiemädchen vor, die sie eines Tages aus der Ferne beobachtet. Anders als alle, die sie kennt, frei und ohne Angst, das Falsche zu tun: „Diese langhaarigen Mädchen schienen über allem zu schweben, was um sie herum geschah, tragisch und abgehoben.“

Evie, mit allen Komplexen beladen, die eine junge Frau, die eben die Grenze vom Kindsein zur Welt der Erwachsenen zu überschreiten im Begriff ist, nur haben kann, steht vom ersten Moment an im Bann der drei selbstbewusst ihr Außenseitertum Lebenden. Vor allem Suzanne, Wortführerin der drei auf einer Ranch in den Hügeln jenseits der kalifornischen Kleinstadt Petaluma wohnenden Frauen, wird von ihr rückhaltlos bewundert. Deren selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit, ihr nachlässiger Kleidungsstil und die Furchtlosigkeit im Umgang mit sämtlichen gesellschaftlichen Tabus sind so anders als alles, was Evie aus ihrem eigenen Elternhaus und jenen ihrer gleichaltrigen Klassenkameradinnen kennt, dass ihr Weg sie schon nach kurzer Zeit mitten hinein in die alternative Hippiekommune um den charismatischen Guru Russell führt.

Cline hat ihren ersten Roman angelehnt an die Geschichte eines der spektakulärsten Verbrechen in der jüngeren amerikanischen Historie. Am 9. und 10. August 1969 beging die Clique um Charles Manson – einen mehrfach vorbestraften Beatles-Verehrer und Straßenmusiker, der seit 1967 an der kalifornischen Küste junge Menschen, die später sogenannte Manson-Family, mit autoritären und manipulativen Methoden an sich band – mehrere Morde, den aufsehenerregendsten wohl an der hochschwangeren Schauspielerin und Roman-Polanski-Ehefrau Sharon Tate. Manson selbst war an den Morden nicht beteiligt, aber ihr geistiger Urheber.

In Mansons literarischem Pendant Russell, dem, wie Evie das schon bei ihrer ersten Begegnung sieht, „Experten für weibliche Traurigkeit“, lernt Clines Protagonistin zunächst das Verführerische einer alternativen, sämtlichen Werten, die ihr das Elternhaus, die Clique der Schulfreundinnen und die Schule, sprich: Gesellschaft, selbst beizubringen versuchten, diametral entgegengesetzten Sichtweise auf die Welt kennen. „Wir seien dabei, sagte uns Russell, eine neue Art von Gesellschaft ins Leben zu rufen. Frei von Rassismus, frei von Ausschluss, frei von Hierarchie. Wir stünden im Dienst einer tieferen Liebe.“ Dass diese Botschaft des mehrfach gescheiterten Outlaws in einer „Bruchbude im Weideland von Kalifornien“ ertönt, Russells Groupies Hygiene ablehnen, man sich aus den Abfalltonnen von Supermärkten bedient und seine Kinder vernachlässigt, stört Evie zunächst nicht. Zu groß ist der Sog, den Russells pseudoreligiöse Gebärden, seine einschmeichelnde, volle Stimme, die Energie, die er auszuströmen scheint, und das Verständnis, das er „dünnen, gehetzten Mächen mit unvollständigen Collegeabschlüssen und gleichgültigen Eltern“ entgegenbringt, auf die unfertige, einen Sinn und eine Aufgabe in ihrem Leben suchende 14-Jährige ausüben. Drogen und der erste Sex in ihrem Leben tun ein Übriges, sie an die „Ranch“ zu binden.

Erst später wird Evie Boyd das Berechnende an dem Mann auffallen, sein Bemühen, sich in die Zirkel der Reichen, von denen es genug gibt im sonnigen Kalifornien des Jahres 1969, einzuschleichen. Musiker, Schauspieler, Lebemenschen, die es mögen, wenn man sie anhimmelt, und ab und an ein paar Krumen von dem großen Kuchen fallenlassen, den sie sich ergattert haben. Wie der Rockstar Mitch Lewis, der Russell den Weg auf die großen Bühnen ebnen soll – für den Pseudomusiker Manson war es der Beach-Boys-Drummer Dennis Wilson, selbst der wohl am wenigsten begabte der drei Wilson-Brüder, die 1961 eine der weltweit erfolgreichsten Popbands gegründet hatten, der zum Steigbügelhalter auserkoren war und dementsprechend heftig umworben wurde. Doch der Traum von der großen Musikerkarriere währt nur kurze Zeit – für Manson wie für Russell. Und auch Evie erkennt schließlich an den Songs, die der Guru nicht müde wird, im Kreis der Seinen als „die Zukunft der Musik“ anzupreisen, „dass sie primitiv waren, ja nicht einmal primitiv, sondern einfach schlecht: sentimentaler Quark, die Texte über Liebe so plump wie die eines Grundschülers, ein von ungelenker Hand gezeichnetes Herz.“

Da freilich ist es fast schon zu spät, denn der zurückgewiesene Guru hat seine Jünger – ausgerüstet mit einer scheinbar revolutionären Botschaft, einem Signal für die Welt, nicht ignorierbar und den großen Umschwung einläutend –, auf ihre blutige letzte Mission geschickt. Dass Suzanne, die von Anfang an nahezu distanzlos bewunderte „große Schwester“, die an erster Stelle jenes „Wir“ verkörpert, von dem sich Evie angezogen fühlt, wobei zunehmend auch eine sexuelle Komponente mit ins Spiel kommt, diejenige ist, die die 14-Jährige daran hindert, mitschuldig zu werden, führt schließlich dazu, dass sich die nach dem Sommer der Verwirrung in einem Internat wiederfindende Heldin als eine Art Stellvertreterin empfinden kann. „Suzanne hielt mich davon ab zu tun, wozu ich vielleicht imstande war. Und so entließ sie mich in die Welt wie einen Avatar des Mädchens, das sie nicht sein würde. Sie würde nie ins Internat gehen, aber ich konnte das noch, und sie schleuderte mich von sich wie eine Botin für ihr anderes Selbst.“

The Girls ist unterm Strich kein Manson-Buch, auch wenn sich die Aufregung in der literarischen Welt und die Millionen, die für das Manuskript einer relativ unbekannten, 25-jährigen Autorin von renommierten Verlagen geboten wurden, wohl zu einem Gutteil daraus erklären lassen, dass man genau das von Emma Cline erwartete: etwas Spektakuläres über ein spektakuläres Verbrechen. Was man dann bekam aber war der Roman eines Mädchens auf der Suche nach sich selbst. Einer Suche, wie sie Millionen junge Menschen zu jeder Zeit – nicht nur in der von Flower-Power und Hippie-Freiheitsträumen der 1960er/-70er Jahre rund um das kalifornische San Francisco – umtreibt. Und sie verführbar macht – durch einen Guru wie den Blender Russell, eine Religion, eine Ideologie. Den Fixpunkten der Kindheit entkommen – Evies geschiedene, steinreiche Mutter hat mehr mit sich selbst zu tun als sich um die Tochter zu kümmern – und gierig nach etwas Erfüllendem, das man natürlich am liebsten zusammen mit anderen, in einer Gruppe, in einer Gemeinschaft mit gleichen Zielen erleben möchte, wird man anfällig für dubiose Heilsbotschaften und vertraut darauf, „dass jemand anders die leeren Teile des Lebens, das man führt […], zusammenheften“ kann. In dieser Hinsicht passt Clines Roman mit seinem historischen Sujet auch in unsere Gegenwart voller falscher Sinnangebote und verführerischer Alternativen.  

Emma Cline lässt die Erzählerin die Geschichte ihres Erwachsenwerdens aus einer Distanz von mehr als 30 Jahren erzählen. Damit gelingt es ihr, das Erzählte auf ein höheres Relexionsniveau zu heben als dies aus dem naiven Fokus eines Teenagers von 14 Jahren möglich wäre. Dass sie in den Erinnerungsrahmen noch eine Geschichte einbaut, in der die erwachsene Frau mit den Nöten eines Mädchens konfrontiert wird, das sie an sich selbst in diesem Alter erinnert, wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen. Dazu ist die Binnenerzählung zu gut, zu eindringlich, zu stimmig in jederlei Hinsicht. Hinzu kommt – auch in der äußerst gelungenen deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl – eine Sprache, die changiert zwischen jugendlich-naivem Überschwang und genauem Festhalten jener seelischen Dispositionen, die aus einer Suchenden um ein Haar eine Täterin gemacht hätten.

Titelbild

Emma Cline: The Girls. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
349 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252684

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