Liebe und Schreiblust

„Der Sinn des Lesens“ von Pieter Steinz

Von Jerker SpitsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jerker Spits

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2013 wurde bei dem niederländischen Journalisten und Buchliebhaber Pieter Steinz die unheilbare Nervenkrankheit ALS konstatiert. Steinz entschloss sich, über seine Lieblingsbücher und seine Krankheit zu schreiben. „Zwar muss ich über einen Schlauch ernährt werden, bekomme meine Luft aus einer Maschine und spreche über das Ipad, doch meine Finger bewegen sich noch flink über die Tastatur.“

In kurzen Essays (wie „Der Rhythmus der Krankenstation“ über Thomas Manns Zauberberg und „Die Feder ist mächtiger als der Eimer“ über John Irvings The World According to Garp) berichtet Steinz über seine Krankheit und verbindet dies mit Büchern der Weltliteratur. Im Abbau seiner Körperfunktionen sieht er vor allem Parallelen zu den Büchern, die er als Student, Literaturjournalist und Direktor des Nederlands Letterenfonds, der nationalen niederländischen Literaturstiftung, gelesen hat.

So schreibt der Autor im Kapitel über Platons Phaidon: „Sokrates’ Tod ähnelt ein weinig der Turboversion des durchschnittlichen Verlaufs des ALS: Zuerst verliert man die Kontrolle über die Arme und Beine, und zum Schluss stirbt man, weil die Atemmuskulatur gelähmt wird.“ Er wundert sich darüber, dass es so wenig Romane gibt, die einen solch beschleunigten Alterungsprozess wie bei seiner Krankheit beschreiben. Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray sei eine Ausnahme.

Anhand des mittelalterlichen, niederländischen Elckerlijc-Epos, das die Tugenden Schönheit, Kraft und Weisheit feiert, denkt Steinz darüber nach, „wer meine idealen Kumpane auf dem Weg zum Finish sind.“ Für ihn sind es die Liebe, der Humor, die Zufriedenheit („mit dem Leben, das man geführt hat“) und die Schreiblust. Der Autor zeigt sich als ein Optimist, der weiterhin über Bücher schreiben will, weil die Arbeit ihm Spaß macht. In der Zeit, die ihm geblieben ist, will er noch zwei Dinge tun: Seine Foto-Alben auf den aktuellen Stand bringen und über Literatur schreiben. „Man arbeitet, um zu leben, heißt es immer, doch für Menschen mit einer interessanten Arbeit ist das Umgekehrte ebenso wahr“.

Viele Romane der Weltliteratur liest er zum zweiten oder zum dritten Mal. Die Romane, die jetzt den größten Eindruck machen, sind die Romane, „die fest in den Ländern oder Gegenden verwurzelt sind, in denen sie sich abspielen“. Als Beispiele nennt er die Schweizer Berge in Thomas Manns Der Zauberberg und das monumentale Rom in Marguerite Yourcenars Die Erinnerungen Hadrians. Die Essays in Der Sinn des Lesens zeugen von seiner großen Belesenheit. Er schreibt ebenso tragisch wie intelligent: „Ich liege mit diversen Schlauchen an der Nachtbeatmung, und ehe man sich’s versieht, endet man auf dem Gang zur Toilette wie Laokoon.“

Pieter Steinz gehörte zu den besten – und vor allem auch den beliebtesten – Kulturjournalisten der Niederlande. Seine Sachbücher über Kunst und Literatur wurden vielfach ausgezeichnet. Er hat sich unermüdlich für die Literatur eingesetzt. Höhepunkte waren sein Buch Made in Europe (Deutsch: Typisch Europa. Ein Kulturführer in 100 Stationen) und die erfolgreiche Bewerbung, zusammen mit Flandern, als „Gastland“ der Frankfurter Buchmesse 2016.

Pieter Steinz starb am 29. August im Alter von 52 Jahren. „Klar, nett, geistreich und strotzend von Lebens- und Arbeitslust“, würdigte die niederländische Tageszeitung NRC Handelsblad ihren langjährigen Mitarbeiter.

Das Buch gibt, wie Steinz meinte, „vielleicht keine definitive Antwort auf die Frage, ob Literatur in schwierigen Situationen Trost bieten kann.“ Aber es ist ein Buch, das Steinz’ Liebe für seine Frau und seine Kinder („Frau und Kinder zuerst“) bezeugt sowie seine Liebe für Literatur und zeigt, was sonst unserem Leben Sinn gibt.

Titelbild

Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens.
Mit einem Nachwort von A.F. Th. van der Heijden.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gerd Busse.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
220 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783150110751

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