Mysteriöse Vorgänge und ein dämonischer Fluch

Heinrich Schirmbecks Novelle "Der Kris" schildert eine tragische Liebe vor dem Hintergrund der Gegensätze zwischen Orient und Okzident

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke", lautet Goethes Verdikt aus seinen "Maximen und Reflexionen". Demnach ist zu vermuten, dass die Novelle "Der Kris" dem Dichterfürsten nicht gefallen hätte, denn ihr Verfasser Heinrich Schirmbeck (1915-2005) orientiert sich unverkennbar an E. T. A. Hoffmanns bizarr-romantischer Erzählweise. Vielleicht haben ihn außer dem am 15. Februar 1942 im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" erschienenen Artikel zur Geschichte und Kultur Javas, der Lebensgeschichte des Schriftstellers Max Dauthendey (1867-1918) und Rembrandts Gemälde "Triumph der Delilah", das Simsons Blendung darstellt, auch Hermann Hesses auf Indien bezogene Schriften wie etwa die "Siddhartha"-Erzählung inspiriert.

Im Mittelpunkt der Novelle stehen die "Leidensgenossinnen" Henriette von Esmarck und die "helläugige Schwedin von blütenweißer Haut und herrlichem Wuchs" Victoria M., die beide ihre "Gatten in jener fernen Welt gelassen" haben. Gemeint ist der Orient: Henriettes Mann war als Arzt in einer Missionarstation im fernen Osten tätig. "Nur der plötzliche Tod des Gatten, der selbst der Seuche erlegen war, die mit unermüdlichem Opfermut zu bekämpfen er sein eigenes Leben nicht geschont hatte, vermochte sie wieder in die abendländischen Bezirke zu verschlagen, die sie, wie sie selber zuweilen bemerkte, bei größerer Wohlgesonnenheit des Schicksals vor ihrem Lebensabend nicht wiedergesehen haben würde." Sie wohnt wieder im Haus ihrer Eltern (der Vater ist ein pensionierter Oberst, die Mutter eine gesellschaftlich engagierte Dame) und bekennt sich zum Buddhismus, erzieht aber ihre beiden Kinder im christlichen Glauben. Victorias Gatte Ferdinand war es gewohnt, "wie ein Rajah zu leben" und bereiste als Dichter und Indologe Java, Mexiko und Japan, obwohl er nicht in der Lage war, für regelmäßige Einkünfte zu sorgen. "Er war so tief in die Seele des Ostens eingedrungen und hing doch gleichzeitig mit so sehnsüchtiger Begier an den Brüsten des Abendlandes, dass sich in ihm die Vermählung beider Welten wie eine sphinxartige Koketterie ausnahm, weshalb er dem Obersten immer leises Unbehagen eingeflößt hatte. Seine Phantasie spiegelte wie ein tausendfältig geschliffener Kristall die ungeahntesten und delikatesten Beziehungen zwischen abendländischer und orientalischer Mythologie, denn er glaubte an das Bestehen geheimnisvoller Beziehungen zwischen den Göttern des Abend- und des Morgenlandes, welche die dichterische Phantasie im höchsten Maße zu reizen und zu beflügeln geschaffen seien." Da Victoria auf Bettelreisen das Geld für den gemeinsamen Lebensunterhalt auftreiben muss, beginnt sie ihren Mann zu verachten und lässt sich mit einem anderen ein, mit der Folge: "Als ich nach Ostindien zu meinem Gatten zurückkehrte, blieb es nicht lange verborgen, dass ich gesegneten Leibes war." Das Kind entwickelte sich nach seiner Geburt "als ein ausgesprochener Wechselbalg, wuchs nur am Kopf und an den Gliedern, zwischen deren spinnenartig langen Zehen und Fingern blasse Schwimmhäutchen schlaff und leiernd herunterhingen. Der Körper blieb puppenhaft klein und war von einer gleichsam gealterten, pergamentgelben Haut bedeckt, während allein der Schädel und das darin gebettete Hirn übergewöhnlich große Formen annahmen." Dem unglücklichen Mädchen, dem man den Namen Maja gab, blieb die Sprache versagt.

Henriette findet nun viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes eine neue Liebe: Ernst von Randow, ein Jugendfreund, der nach beinahe zwei Jahrzehnten im Ausland ebenfalls in die europäische Heimat zurückgekehrt ist und als Hirnchirurg und "wohlbestellter Professor" in der gleichen Stadt arbeitet. "Für ihn hatte sie, wie jene legendären indischen Witwen, freiwillig den Scheiterhaufen des Gatten bestiegen. Und eine still wachsende Liebe hatte sein Herz zu erfüllen begonnen." Da Randow, wie der Leser verklausulierten Andeutungen entnehmen kann, auch der Vater der kleinen Maja ist, sind auf diese Weise die Schicksale der Protagonisten miteinander verflochten. Unmittelbar vor der geplanten Heirat stirbt Maja, weshalb Henriette die Zeremonie eigentlich verschieben möchte, aber an dem Datum dann doch auf ausdrücklichen Wunsch von Victoria festhält. Auf ihrer Hochzeitsfeier findet Henriette auf mysteriöse Weise den Tod, und zwar am Ende der Aufführung einer altjavanischen Ballade durch einen Dajang. Als Mordinstrument dient der Kris, ein mit einem Fluch behafteter javanischer Dolch. Dieser lässt auch die Verbindung zwischen Orient und Okzident erkennen, mit der sich der Erzähler geisteswissenschaftlich auseinander setzt. Mit ihrer zweiten Hochzeit löste Henriette nicht nur den Witwenschleier, sondern auch "ihre starke Bindung an die asiatische Kultur." Musste sie deshalb als "treulose Geliebte" mit dem Tod bestraft werden? Hat sich Henriette in einer "tödlichen Erregung" selbst das Leben genommen oder wurde sie umgebracht? Oder war es eine Verwechslung, weil "der Mordstahl" für Victoria bestimmt war, wie diese in einem Brief an Henriettes Vater vermutet: "Geheimnis über Geheimnis! Und dennoch, wenn der Zufall, die Verwechslung im Dienst eines noch höheren, ironischen Planes gestanden hätte? Das Geheimnis Asiens ist mir undurchdringlicher als je..."

Schirmbeck hat die Novelle 1942 geschrieben, aber die vorgesehene Publikation in dem Band "Die Fechtbrüder" kam nicht zustande. Nach seinem Tod im Jahr 2005 hat sich ein Freundeskreis gebildet, der es als seine Pflicht ansieht, dafür zu sorgen, "dass das Werk und das literarische Schaffen von Heinrich Schirmbeck nicht in Vergessenheit geraten und weitergeführt werden". So sind nun Neuauflagen von seinem Roman "Ärgert dich dein rechtes Auge" und den Meistererzählungen "Pirouette des Elektron" sowie als Neuerscheinung "Der Kris" im Hilbinger Verlag herausgebracht worden.

Zweifellos hat Schirmbeck als bedeutender deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts diese Beachtung verdient, ob es aber notwendig war, die Novelle "Der Kris" auszugraben und erstmals aufzulegen, sei dahingestellt. Denn: Das in einem blumigen Schreibstil präsentierte Beziehungsgeflecht wirkt konstruiert. Der Erzähler versucht, banale Vorgänge, wie beispielsweise Victorias vollzogenen Ehebruch, zu einem Ereignis von philosophischer Bedeutung zu stilisieren. Fantastische Visionen, Exotik und Okkultismus werden zu einem schwer genießbaren Konglomerat zusammengemixt. Öfters geben Banalitäten den Anstoß zu kulturgeschichtlichen Reflexionen. Die Handlungsstränge und Personenzeichnungen erscheinen gekünstelt. Die Darstellung der Fieberträume und die gesuchte Bildhaftigkeit der Sprache wirken manieriert. Anspielungen auf indische Gebräuche wie die Witwenverbrennung sollen Reflexionen anstoßen zur Vertiefung der Problematik. Auch die Verbindung, die zu Kleists Novelle "Die Marquise von O." hergestellt wird, wirkt aufgesetzt. Stellenweise bewegt sich Schirmbecks Novelle im Randbereich kitschiger Trivialliteratur. So verwundert es nicht, dass der Lektor Hermann Kasack in einem Brief vom 2. Oktober 1942 an den Autor die treffende Kritik geäußert hat: "Bei Ihrer Fassung gleiten die Fäden während des Erzählens ab, um sich im Weben dämonischer Situationen zu verlieren."

Informativ und hilfreich zum Verständnis der Novelle ist das von Gerald Funk verfasste Nachwort, das auch Hinweise auf ihre Entstehungsgeschichte liefert. Allerdings erscheint es zu weit hergeholt, wenn Funk die Novelle "Der Kris" als Zeugnis der "Inneren Emigration" und "als literarisches Zeichen einer beredt 'schweigenden' Kritik" verstanden wissen will, auch wenn Schirmbeck nach dem Ende des "Dritten Reichs" sich in diese Richtung geäußert hat.


Titelbild

Heinrich Schirmbeck: Der Kris. Novelle.
Immo A. Hilbinger Verlag, Wiesbaden 2005.
100 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3927110213

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