Der Mops als Psychopomp

Frühe Fantastik von Yoko Ogawa

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yoko Ogawas literarische Anfänge liegen am Ende der 1980er-Jahre. Ihr Debüt gab die ehemalige Studentin der Literaturwissenschaft (Universität Waseda) mit dem Text Der zerbrochene Schmetterling (Agehatchô ga kowareru toki, 1988), gefolgt von Das perfekte Krankenzimmer (Kanpeki na byôshitsu, 1989) und Der Tee, der nicht abkühlt (Samenai kôcha, 1990). Schon in diesen ersten Werken entfaltete sich die manieristische Welt der Schriftstellerin, die bis heute ihren magischen Sog bewahren konnte, obwohl sich die Zeiten geändert haben.

Auf der Suche nach dem Wunderbaren und Seltsamen

Ogawa war wie Yoshimoto Banana eine Entdeckung des Magazins „Kaien“ (Benesse), vertreten durch seinen Redakteur Hiroshi Terada. Beide Autorinnen entsprachen einem damals innovativen Lifestyledesign. Genuss, Intellektualität und eine gewisse Tendenz zur Weltflucht, ermöglicht durch die Wirtschaftsboomphase, ergaben die Verfasstheit der sogenannten Moratoriumskultur in Japan. Für das Kaufhaus Seibu hatte der bekannte Texter Itoi Shigesato 1982 die Werbekampagne „Fushigi, daisuki“ (Ich liebe das Mysteriöse) entworfen.  Man konnte vom erarbeiteten Wohlstand der Elterngeneration zehren und sich temporär in Enklaven kulturellen Feinsinns verlieren. Die 1980er und 90er-Jahre boten zudem noch viele Retrokulissen der alten Moderne, bevor die 2000er ihre Effienzstandards durchsetzten: alte Häuser, verwitterte Herbergen, Waldhütten, Ateliers, höhlenartige Behausungen, die an vergangene Kindertage erinnern, betagte Schwimmbäder, Studentenwohnheime mit Patina oder verlassene Laboratorien mit seltsamen Geräten – eine Nostalgie, die an magische Orte zurückführt, bestimmte die Sensibilität vor der Jahrtausendwende als eine Art von Ruinenromantik und Suche nach dem Wunderbaren in einer potenziell dem Profanen preisgegebenen menschlichen Existenz.

Kalligrafie und Musik

Jene schattigen Winkel bewohnen also die Protagonistinnen und Protagonisten von Ogawa, die dem Leser mit Zärtliche Klagen seltsame Schaubilder aus ihrer frühen Phase präsentiert. Der Titel des Texts bezieht sich auf die französische Musik, genauer auf den Komponisten Jean-Philippe Rameau (1683–1764) und sein Stück Les Tendres Plaintes. Tatsächlich handelt er von der Begegnung von Musik und Schrift. Präziser gefasst, diskutiert die Autorin die Materialität der Manifestationen von Schrift und Musik. Sie erörtert, wie – in ausgeklügelter Handwerklichkeit aus Holz und anderen Materialien – ein Cembalo angefertigt wird, das mithilfe des interpretierenden Künstlers die Melodien der Komponisten in Töne umzusetzen vermag, und wie – mit sorgfältig ausgewählter Tinte, Feder und Papier – durch kalligrafisches Können ein Buch entsteht.

Die Kalligrafin ist in diesem Fall Ruriko, das erzählende Ich. Sie befindet sich in einer kritischen Phase ihres Lebens, da sich ihre kinderlose Ehe dem Ende zuneigt. Der Ehemann hat eine Geliebte, bald schwanger von ihm. Ruriko leidet seit längerem schon unter der Entfremdung, die in der Beziehung herrscht, und auch unter der Gewalttätigkeit des Augenarztes, mit dem sie nur noch die Erinnerung an bessere Zeiten verbindet. Sie entschließt sich, ihr Haus in der Metropole zu verlassen und in ein Landhaus zu ziehen, das ihr Vater einmal erworben hatte und in dem sie als Kind mit den Eltern sowie einer Schwester viele glückliche Tage verbrachte. Dort widmet sie sich einer kalligrafischen Auftragsarbeit, während sich eine Freundschaft mit dem unweit entfernt wohnenden Cembalo-Bauer Nitta und seiner jungen Assistentin Kaoru entwickelt.

Ein Puppenspiel, ein Psychodrama

Nitta und Kaoru erschaffen zusammen perfekte Musikinstrumente, Ruriko gelingen perfekte Kalligrafien im westlichen Stil. Jeder der drei trägt einen Makel mit sich: Nitta ist geschieden und hat als Pianist versagt, Kaoru scheint mit einem Fluch behaftet, der ihre Partner ins Verderben stürzt. Ruriko kann keine Kinder bekommen und ist nach der Ablösung von ihrem Mann, dessen naturwissenschaftliche Kühle ihr keine Geborgenheit gewährt, innerer Einsamkeit ausgeliefert. Die Missklänge in ihrer Ehe und die Erinnerungen an die traurige körperliche Verfassung ihres Vaters vor seinem Tod belasten sie. An dem ruhigen Ferienort im Wald beginnt eine Menage à trois, in deren Verlauf verschiedene Schaubilder mit eindrucksvollen Szenen entworfen werden. Am Ende kann die Ich-Figur das Refugium für immer verlassen. Die Personen interagieren, bis die Transformation vollzogen ist und Ruriko wieder nach Tokyo zurückkehrt, um dort als professionell arbeitende Kalligrafin einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. 

Vielleicht darf man Ogawas literarische Aktanten nicht als Entwürfe veritabler Menschen sehen, sondern als Marionetten, die das seelische Drama im Inneren der Protagonistin ausagieren, bis sich in dieser Umbruchs- und Übergangssituation – von der gedemütigten Hausfrau hin zur selbstbestimmten Künstlerin – die Psyche der in ihren Nöten gefangenen Hauptfigur wieder harmonisiert. Auf eine solche Lesart gibt es manchen Hinweis. Situationen asketisch-trauriger Zurückhaltung finden sich plötzlich mit Szenen hemmungsloser Aneignung durchsetzt – die weiblichen Gestalten in Rurikos Umfeld charakterisiert allesamt ein riesiger Appetit: Die Wirtin der Herberge in der Nähe ihres Feriendomizils pflegt gewaltig zuzuschlagen und ist deshalb von fülligster Gestalt. Ihre ehemalige Kalligrafielehrerin, die mit ihr ein neues Studio eröffnen will, verschlingt bei einem Essen beim Italiener marinierte Champignons, Risotto mit Saubohnen und Tintenfisch-Pasta mit derartigem Elan, dass die Tischdecke überall von „den schwarzen Nudeln befleckt“ war. Ist sie eine Fantasie, eine imaginäre Meisterin der Schrift, die Ruriko sagen will, sie solle sich ihres Talents endlich verschwenderisch bedienen und ihr Können rücksichtslos auf einer weißen Fläche verwirklichen, so wie die Tintenfischnudeln Spuren auf der Tischdecke hinterlassen? Selbst die anmutige Kaoru zeichnet sich durch einen regen Appetit aus.

Wenn Ogawa in der Geschichte über zwei alte Damen berichtet, dürften keine Seniorenportraits beabsichtigt worden sein. Die Autorin deutet damit an, welchen Verlauf Rurikos Schicksal nach der gescheiterten Ehe nehmen könnte. Rückzug in die Waldeinsiedelei und einsamer Tod am Holzbalken oder sich mutig den Unwägbarkeiten des Lebens überlassen, was Ruriko den Weg zur erfolgreichen Vermarktung ihrer Kunst eröffnet, inklusive Arbeitsvertrag und Krankenversicherung, sprich den Aufbruch in die Realität und die Loslösung vom Moratorium.

Der Mops Donatello, genannt Dona

Ogawas Puppenensemble besteht nicht nur aus menschlichen Figuren, sie lässt auch zahlreiche Tiere über die Bühne huschen: der Pfau als Verkörperung gesunder narzisstischer Impulse, zum Radschlagen bewegt durch die dicke Herbergswirtin, die tote kleine Maus als Symbol für Rurikos verlorene Föten. Ferner treten in Erscheinung Libellen, Zitronenfalter, Geckos, Käfer, Katzen, Ziegen und der Mops Dona. Bei Dona handelt es sich um ein halb erblindetes Exemplar fortgeschrittenen Alters, das seinen Ruhestand in Nittas Werkstatt verbringt. Bezeichnenderweise weist sein Name auf die europäische Kulturgeschichte hin, nämlich auf den Florentiner Bildhauer Donatello (1386–1466). Hier sei noch angemerkt, dass Rurikos Kosmos stark europäisch geprägt ist, die Rede ist meist von Frankreich, Italien, England und Deutschland. Japanische Elemente spielen offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Die Europäisierung der Kunst- und Geschmackswelt im Japan der 1980er-Jahre spiegelt jedoch die Mode der Zeit und charakterisiert die damalige Rezeption erlesener westlicher Kulturzeugnisse – angeleitet nicht zuletzt von den Konzeptstores der großen Kaufhäuser.

In diesem Ambiente erstaunt es nicht weiter, wenn sich ein Mops zum spirituellen Führer aufschwingt. Er führt Ruriko zu einem Platz im Wald, an dem unter einem Ahornbaum eine kleine Statue des Jizô Bosatsu steht; dieser Buddha erlöst die Sünder, ist Hüter der Wege und Begleiter der Totenseelen auf ihrem Gang in die Unterwelt. Vor ihm hat jemand zwei Pflaumen als Opfergabe niedergelegt. Nun kann der Leser wieder rätseln – sind die Früchte für Nitta und Kaoru gedacht, dann wäre Ruriko im Walde möglicherweise zwei Wesen aus der anderen Welt begegnet, zwei Geistern, mit denen sie für kurze Zeit eine Art von Familie bildet, in der ihr als zum Kind Gewordene eine Phase der „Freiheit in Geborgenheit“ erlaubt wird. 

Schließlich wird klar, dass sie der weise Mops wohlbedacht in die richtige Richtung gelenkt hat – nämlich in die der Integration disparater seelischer Bestrebungen und der Bewältigung von Ängsten. Insofern lässt sich die merkwürdige Episode erklären, in der Ruriko dem von ihr verehrten Nitta androht, Dona zu töten. Der Tod Donas hätte den Reifungsprozess unterbrochen, dem sich die Protagonistin überantwortet hat, denn Dona wäre gleichzusetzen mit einem gesunden Impuls, das alte Ich hinter sich zu lassen. Am Ende genießen Dona, Nitta und Kaoru weiter ihre Waldeinsamkeit. Ruriko lebt vermutlich ein spannendes Leben in der Hauptstadt, und wie Rameau erhält auch sie bald ein angemessenes monatliches Salär, was die Nerven ungemein beruhigt.

Literaturhinweis

Lisette Gebhardt (2009): Lifestyle und Psychodesign in der japanischen Moratoriumsliteratur. Kawakami Hiromi und Ogawa Yôko.

Titelbild

Yoko Ogawa: Zärtliche Klagen. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2017.
270 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783954380732

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