So klug, so witzig und so traurig

In „Das Unglück anderer Leute“ erzählt Nele Pollatschek eine ausgefallene Familiengeschichte, die voll sprachlicher und inhaltlicher Überraschungen steckt

Von Barbara SwojanowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Swojanowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Klar und ruhig, laut und deutlich, ohne Wenn, ohne Aber: Ich hasste meine Mutter.“ So lautet einer der ersten Sätze in Nele Pollatscheks Debütroman Vom Unglück anderer Leute. Er ist charakteristisch für den Ton der Geschichte. Völlig unverklärt — ohne „Filmmusik und Sepiafilter“ — entrollt die 25-jährige Oxfordstudentin Thene ihre Familiengeschichte mit all ihren dysfunktionalen Strukturen und traurigen Kindheitserinnerungen. Dass sie dabei — emotional verkorkst wie sie sich nennt — auf eine rührende Darstellungsweise verzichtet, die Menschen und ihre Beziehungen stattdessen rational durch ihre Akademikerbrille betrachtet, gerne klugscheißt und oft sarkastisch daher kommt, verleiht der im Kern wirklich traurigen und tiefgründigen Geschichte Leichtigkeit, vor allem aber ordentlich Humor. Auch beweist die Debütantin Einfallsreichtum und eine außerordentliche Sprachfertigkeit. In Form vieler Wortschöpfungen, treffsicherer, kreativer Vergleiche und witziger Metaphern. „Oma war für Diplomatie etwa so geeignet wie ein Flammenwerfer zum Kerzenanzünden. Am Ende brannte meist das ganze Haus. Und immer, wenn sie sich weniger dumm anstellte, nahm Georg an ihrer Stelle ein Vollbad im Fettnäpfchen.“

Die Handlung ist schnell erzählt: Thenes exzentrische Mutter Astrid kommt bei einem Autounfall ums Leben. Pech – denn ihre Familie hat sie schon mehrmals vor ihren leichtsinnigen Autobahnspaziergängen gewarnt. Doch hat sich der Punk einmal etwas in den Kopf gesetzt, lässt er sich schon allein aus Protest nicht davon abbringen. Jedenfalls ist ihr Unfalltod Ausgangspunkt eines bizarren Roadtrips, bei dem sich die Ereignisse nur so überschlagen. Innerhalb einer Woche sterben die Mitglieder der Ost-West-deutschen „Mischpoke“ wie die Fliegen. Interessant dabei: Die Unwahrscheinlichkeit von Todeszeitpunkt, Todesursache sowie die Gleichgültigkeit der Hinterbliebenen steigt mit jedem neuen Todesopfer. Schon bald wittert der Leser, dass etwas nicht stimmt. Und genau hier greift Nele Pollatscheks geniale Erzählkunst: Zu Romanbeginn erkennt Thene, nachdem ihr Bruder Eli beim Münzenwerfen das Ergebnis immer richtig voraussagt, dass es sich dabei nicht um Glück oder Wahrscheinlichkeit, sondern um einen Trick handelt. Den ertappten Bruder konfrontiert sie mit einem Zitat aus Tom Stoppards Rosenkrantz und Güldenstern sind tot, wo ganz viele identische Münzwürfe „ein beunruhigendes Zeichen für den Zusammenbruch der Realität“ darstellen. Und „die mit jedem Wurf steigende Unwahrscheinlichkeit“ andeutet, „dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Alles surreal“. Der gesamte äußere Handlungsverlauf spiegelt sich in diesem Dialog. Übrigens ist das nur eine von vielen Textbeziehungen, die Nele Pollatschek arrangiert. Immer wieder lässt sie ihre Heldin literarische Textbeispiele („Die Vorstellung, ohne Kurt Vonnegut durch diese absurde Welt gehen zu müssen, gruselte mich“) oder wissenschaftliche Erkenntnisse (Höflichkeitstheorie, Trauertheorie) heranziehen, mit deren Hilfe sie versucht, sich im familiären Chaos zurechtzufinden – eben ganz die Akademikerin.

So wie Nele Pollatschek selbst. Die 28-jährige Jungautorin und Literaturwissenschaftlerin promoviert zurzeit in Oxford. Nebenbei führt sie einen Blog (Oxford Dphile) über den Wahnsinn vom Schreiben einer Doktorarbeit. Auch hier fällt der für sie charakteristische Schreibstil ins Auge: erheiternd ehrlich, kurzweilig und mit einem Augenzwinkern. Mit ihrer Romanheldin hat Nele Pollatschek aber noch mehr gemeinsam: Wie Thene ist sie in Ost-Berlin geboren und pendelt heute zwischen Oxford und dem Odenwald. Im Familien- und Freundeskreis betrieb die Schriftstellerin sorgfältig Charakterstudie, mit deren Hilfe sie die überspitzten Charaktere ihrer tragikomischen Familiengeschichte schuf.

Ein vollständiges Bild von diesem ausgefallenen Patchworkgeflecht erhält der Leser vor allem durch Rückblenden: Allen voran Werbefrau und Bloggerin Astrid, die mit der traditionellen Mutterrolle nichts anfangen kann. Und anstatt sich um ihre Kinder und um deren Glück zu kümmern, schert sie sich lieber um das Unglück anderer Leute. Immer wieder von der Mutter enttäuscht, pflegt Thene mittlerweile ein rein materielles Verhältnis zu der Frau, die sie eigentlich lieben müsste aber nicht lieben kann. Dann gibt es noch den mütterlichen Vater, der jedoch an der traditionellen Scheidungs-Vaterrolle zerbrach, für ein paar Jahre aus dem Leben der Tochter verschwand und mittlerweile mit einem Mann zusammenlebt. Hinzukommen „bekloppte“ Stiefväter, eigensinnige Geschwister, eine toughe, Freikörperkultur betreibende DDR-Omi mütterlicherseits und eine bipolare, alkoholsüchtige, lesbische Oma väterlicherseits.

Lauter schwarze Schafe, die zusammen eine ganze Horde anstrengender Familienmitglieder bilden. Oder mit Nele Pollatscheks Worten: „Menschen, mit denen man auf immer verbunden ist, mit denen man aber um Gottes willen nicht in einem Raum sein möchte.“ Und genau darum geht es im Roman: um den Spannungszustand zwischen Familienglück und Familienwahnsinn. Das Entkommen aus diesem geliebt wie gehassten Wahnsinn ist für Thene – für uns alle – unmöglich. Familie bleibt eben Familie.

Titelbild

Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2016.
224 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783869711379

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