Im Heute das Morgen erraten

„Kandinsky und seine Zeit“ – ein Text-Bild-Band zum 150. Geburtstag des Pioniers der Moderne

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Birgit Poppe, Verfasserin von Künstler-Monografien – beispielsweise über Carl Spitzweg, August Macke und Franz Marc –, hat im 150. Geburtsjahr Kandinskys eine neue Darstellung über dessen Leben und Schaffen herausgebracht, die in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist. In verständlicher, breite Leserkreise ansprechender Art und Weise erläutert sie, dass Kandinsky wie kein anderer Künstler seiner Zeit die Moderne geprägt hat, gilt er doch als der bedeutendste Wegbereiter der abstrakten Kunst, die zu einer der wichtigsten Strömungen in der Malerei des 20. Jahrhunderts wurde. Er hat sozusagen damals im Heute schon das Morgen erraten. Die Autorin zeichnet anschaulich die Entwicklung Kandinskys von seinen Anfängen in Moskau und München bis zu seinem Tod 1944 in seinem zweiten Exilland Frankreich nach. Dabei liegt der Hauptakzent ihrer Darstellung in der Hinwendung Kandinskys zur Abstraktion. Sie will aber nicht nur eine an diesem Künstler orientierte, chronologisch geordnete „Kunstgeschichte“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentieren, sondern versucht, Sozial- und Zeitgeschichte anhand der in dieser Periode entstandenen Kunstwerke Kandinskys und seiner Künstlergefährten darzustellen. Poppe untersucht die Inhalte dieser Moderne, wie sie im Werk Kandinskys ihren bezeichnenden Ausdruck erhalten, ihre Sprache und Ausdrucksmöglichkeiten, ihre besonderen Merkmale, Erscheinungsformen und Erfahrungen.

Der Russe Wassily Kandinsky war schon 30, als er 1896 nach München kam, um Malerei zu studieren. Aber binnen weniger Jahre wurde er zum radikalen Erneuerer der Kunst unserer Epoche. Er hatte in Russland seine Hochschulkarriere als Jurist abgebrochen und wollte sich nun ganz der bildenden Kunst widmen. Im Nachhinein hat er die „Heuschober-Serie“ Claude Monets, die er 1895 in einer Ausstellung in Moskau sah, als ein Schlüsselerlebnis bezeichnet. „Als er diese zarten Farbtöne im Licht bewunderte und deren Materielosigkeit spürte“, schreibt Poppe, „kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, den Bildgegenstand an sich in Frage zu stellen.“ Auch die Musik Richard Wagners verhalf Kandinsky zu neuen Einsichten hinsichtlich der Künste. Sein Glaube an eine abstrakte Farben- und Formensprache kam aus seinen ungewöhnlich starken optischen Reaktionen. Er besaß nicht nur eine „intensive Farbsensibilität“, wie Birgit Poppe vermerkt, sondern ein absolut eidetisches Gedächtnis, konnte sich auf Befehl Form, Farbe und Ort eines jeden Gegenstandes vor Augen rufen und sie wie mit einer Laterna magica auf die wirkliche Welt projizieren. Er vermochte Farben – Rosenrot, Karminrot, Gelb, Azurblau, Smaragd oder dunkles Veilchenblau – zu „hören“ und Klänge zu „sehen“. Und er war genauso wie Vincent van Gogh besessen vom Stilmittel der Personifikation, das heißt Nichtmenschlichem menschliche Gefühle zuzuschreiben. Als Emigrant in München und danach im Voralpenland, in Murnau, war er besonders empfänglich für die mystisch-romantischen Strömungen des Jugendstils, die sehr abstrahierten Formen der Art Nouveau, und als Russe fühlte er sich auch der Tradition der Ikonenmalerei verpflichtet. Nimmt man dann noch seine Liebe zur Volkskunst hinzu – von russischen Bauernwebereien über bayerische Hinterglasmalereien bis hin zu den gänzlich abstrakten Mustern arabischer Fliesen und Stoffe –, dann hat man eine Vorstellung von der unvergleichlichen Farbigkeit seiner Bildgründe.

1900 war er Schüler des Symbolisten Franz Stuck geworden, der als Münchner „Malerfürst“ bezeichnet wurde. Und in dessen Atelier fand Kandinsky auch die Mitstreiter für die Künstlergruppe „Phalanx“, die Ausstellungen moderner Kunst organisierte und auch eine Kunstschule ins Leben rief. Hier lernte er auch die junge Gabriele Münter kennen, die ihm – er sah sie gleichberechtigt als Künstlerin an – für viele Jahre zur Lebensgefährtin wurde. Sie war mehr als seine Muse, er hat sie immer wieder porträtiert. Das sowohl beglückende als auch quälende Verhältnis der beiden – denn Kandinsky war ja noch verheiratet, erst 1911 ließ er sich von seiner ersten Frau scheiden – stellt Birgit Poppe ausgewogen dar. Nachdem der Künstler  sein Projekt „Phalanx“ nicht mehr fortführen konnte, begab er sich auf Reisen und lebte zwischen 1904 und 1906 längere Zeit in Tunis und Paris. Fünf Jahre war Kandinsky mit Gabriele Münter unterwegs gewesen, als sie sich in Murnau niederließen, das ihnen viele neue Impulse für ihre Kunst brachte. Die Autorin beschreibt,  wie sich hier die Kunst Kandinskys erst vom Expressionismus zur Abstraktion wandelte, wie sich hier aber auch die Ideen zum „Blauen Reiter“ entwickelten.

Im Sommer 1908 hatten sich Münter, Kandinsky und dessen russische Landsleute Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky zu einem gemeinsamen Studienaufenthalt in Murnau eingefunden. Es war wohl Jawlensky gewesen, der Kandinsky darin bestärkte, die verschiedenen Motivbereiche in seinen Arbeiten ineinanderzuführen, die räumlichen Bezüge in flächige Korrespondenzen umzuwandeln und Linie und Farbe voneinander zu trennen. Das waren für Kandinsky wichtige Schritte auf dem Wege zur Deformation der wiedergegebenen Wirklichkeit und zur Auflösung ihrer Erscheinungsformen. Anfang 1909 kam es dann zur Gründung der „Neuen Künstlervereinigung München“, und das „Streben nach künstlerischer Synthese“, wie es im Katalog zur ersten Ausstellung in der Galerie Thannhauser heißt, scheint dann Kandinskys Schaffen bestimmt zu haben. Er freundete sich mit Franz Marc an, lernte August Macke kennen und kontaktierte Arnold Schönberg, mit dem ihn ähnliche ästhetische Vorstellungen verbanden. Als man aber seine „Komposition V“ ausjurierte, verließen Kandinsky, Marc und Münter die Vereinigung und organisierten unter dem Namen „Blauer Reiter“ eine eigene Ausstellung, zu der auch einige andere Maler Werke beisteuerten. Die beiden Ausstellungen des „Blauen Reiter“ (1911 und 1912) und der gleichnamige Almanach (1912) führten nicht zu einer Künstlervereinigung wie „Die Brücke“ in Dresden, sondern die im Umfeld des „Blauen Reiter“ tätigen Künstler – es folgten noch Wanderausstellungen in deutschen und europäischen Städten – wurden dem Expressionismus zugeordnet und waren wichtige Wegbereiter der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts.

Kandinskys Weg von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion war aufregend genug. Neben einigen neoimpressionistischen Landschaftsbildern hatte er anfangs in Tempera russische Motive und mittelalterliche Szenen gemalt. Das erste große Bild, „Das bunte Leben“ von 1907, lässt auf dem Gipfel eines Berges golden den Kreml wie das himmlische Jerusalem über einer bunten Menge erstrahlen. Es scheint kaum vorstellbar, dass derselbe Künstler drei Jahre später das erste abstrakte Bild in der Kunst malen würde. Dennoch lassen sich zwischen den Farbtupfern der russischen Szenen und Märchenbilder, die juwelenartig auf dunklen Grund gesetzt sind, oder den unregelmäßigen Flecken und gegeneinander  abgesetzten reinen Farbzonen der ersten Murnau-Landschaften und ersten „Improvisationen“ von 1908/09 schon Verbindungen ziehen zum Divisionismus der Neo-Impressionisten und den frühen Bildern der Fauves (Henri Matisse und André Derain). Gerade bei den leuchtenden Gelb-, Blau- und Rot-Tönen, die ab 1907 Kandinskys Leinwand beherrschen, muss man unwillkürlich an die betont reinen Farben der Fauves denken. Über die Farbzerteilung der Neo-Impressionisten und über die Technik der Fauves, die allein durch Farbe bewegte Strukturen auf der Bildoberfläche erzielten, gelangte der Künstler allmählich zur Auflösung des Gegenstandes.

Tatsächlich markieren die Murnau-Landschaften einen künstlerischen Neubeginn, sie zeigen eine üppig farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt, eine leuchtende, tupfenartige Farbgestaltung, und diese romantische Vision der Unschuld taucht in Kandinskys Arbeiten als Relikt einer vergangenen slawischen Märchenwelt immer wieder auf: Reiter, Schlösser, Lanzenträger, Segelboote, Regenbogenbrücken und anderes. Indem er aber die Farbe zum Selbstzweck erhob, konnte er die allzu simplen Assoziationen dieser Bilder unter Kontrolle bekommen.

Schon 1903 galoppiert ein erster blauer Reiter über Berg und Tal („Der Blaue Reiter“, Öl auf Leinwand). Pferd und Reiter erhalten dann sogar monumentale Proportionen, hinter denen die Landschaft zurückbleibt. Die letzte Wandlung erfährt der Märchenritter im Sinnbild des Heiligen Georg, des Drachentöters, der auf vielen seiner Gemälde, Aquarelle, Holzschnitte, Skizzen und Hinterglasbilder erscheint. Schließlich schmückt der kämpfende Ritter den Umschlag des Almanachs „Der Blaue Reiter“ (1909). Wenn auch der Durchbruch zur Abstraktion erst 1910 einsetzt, werden Kandinskys künstlerische Absichten schon viel eher ersichtlich: Seine Bilder sollten einen Geisteszustand schildern, sollten Manifestationen der Seele sein. Die von gegenständlichen Bezügen unabhängigen Kompositionen, vom Künstler zunächst als Endpunkt malerischer Auseinandersetzung empfunden, erwiesen sich bald als neuer Anfang, ein Vorstoß auf dem Weg der emotionellen Bilderfindung.

1908/09 gehörte Kandinsky zu den wichtigsten Expressionisten in Deutschland. 1910 malte er sein erstes abstraktes Aquarell, das die kontinuierliche Entwicklung der abstrakten Malerei einleitet. In seiner im selben Jahr verfassten grundlegenden Schrift „Das Geistige in der Kunst“ formulierte er den Anspruch der abstrakten Malerei, die „materialistische“, die gegenständliche Haltung des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Er erwartete von ihr  „seelische Vibrationen“, die sich durch die „inneren Farbklänge“ ergeben sollten. „Mein Buch über das Geistige in der Kunst[…]hatte hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendlichen Erlebnissen ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken.“ Auf die impulsiven „Improvisationen“, die den unmittelbaren Natureindruck wiedergebenden „Improvisationen“, die auf den einem farblichen Bezugssystem beruhenden „Kompositionen“ folgten – nach der Begegnung mit den Konstruktivisten – zunehmend geometrisch und linear gefestigte Bilder, in denen die Richtungskräfte von Fläche und Linie dynamische Spannungen erzeugen.

In den Serien der in Analogie zur Musik so genannten Impressionen, Improvisationen und Kompositionen werden alle figurativen Elemente wie von einer unwiderstehlichen Flut hinweggeschwemmt, die aus dem befreiten Unterbewusstsein hervordrängt. Kandinsky weitet den Bildraum durch irrationale, gegenstandsfreie Farben ins Unendliche aus, stößt in abstrakte Tiefen vor, kehrt dann aber auch wieder in die vorderste Bildebene zurück.

Die Betrachter sollten sich seinen Werken in ähnlicher Weise wie der Musik in einem Konzert nähern, seine Formen und Farben eher wie musikalische Noten denn als Spiegel der äußeren Erscheinungswelt auffassen. Sein Buch „Über das Geistige in der Kunst“, das bei seinem Erscheinen 1912 einen starken Einfluss auf abstrakte Künstler ausübte, lebt aus der Überzeugung, dass der Maler wie ein Medium in der Séance fähig sei, ein Publikum in direkten Kontakt mit der „Seele“ der Menschheit  zu bringen. 

Der Kriegsausbruch zwang Kandinsky 1914 zur Rückkehr nach Russland. Jetzt wird die Bildfläche durch ein völlig raumloses Agieren der einzelnen abstrakten Elemente bestimmt. Unter  dem Eindruck des russischen Suprematismus und Konstruktivismus dominieren geometrische Formen – der Kreis, die Linie, der Bogen – doch behält Kandinsky Unregelmäßigkeiten bei. 1922 von Walter Gropius an das Weimarer Bauhaus berufen, sollte er dann seine Kunst vor einem Schülerkreis als Lehre ausbauen. In seiner Bauhaus-Schrift „Punkt und Linie zur Fläche“ (1926) legte er die fundamentale Harmonielehre der abstrakten Malerei dar. Mit Lyonel Feininger und Paul Klee, wie er Bauhaus-Meister, sowie Jawlensky gründete er 1924 die Gruppe „Die Blauen Vier“, eine Ausstellungsgemeinschaft, die sie durch den Einsatz der Malerin und Kunsthändlerin „Galka“ Scheyer auch in den USA bekannt machten.

Kandinsky, der nach der endgültigen Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten 1933 nach Frankreich emigrierte und nach Neuilly-sur-Seine bei Paris zog, wo er Ende 1944 starb, öffnete sein Spätwerk einer Formenwelt mit figurativen, biomorphen Assoziationen.  

Im nationalsozialistischen -Deutschland seit 1937 offiziell als „entarteter Künstler“ geächtet, blieb er bis zu seinem Tode ungebrochen und produktiv. „Die geometrischen Grundformen wurden von vielgestaltigen Gebilden abgelöst, ohne dass das Abstrakte zum Selbstzweck geriet“, stellt Birgit Poppe fest. „Stattdessen beschrieb der Künstler mit seinen bunten Wesen optimistisch die Entstehung des Neuen aus dem Chaos – eine Art Schöpfungsmythos“. Doch in seinen letzten Werken herrschen dann doch düstere Töne vor, Ausdruck seiner Seelenlage und der Zeitstimmung. 

Kandinsky ging nicht mehr von narrativen Elementen aus. Er hat die Magie einer geometrischen Ordnung, die zum Spiegelbild kosmischer Ordnung schlechthin wird, weiter ausgebaut. Er ordnete den gesamten Spannungsumfang von der materiellen bis zur psychischen Wirksamkeit einem kosmischen Vorstellungsbild ein: Streuung und Ballung, Konzentrationen, Abdrängungen, Tangenten, Strahlungen, Erhellungen und Verfinsterungen, archetypische Formeln bestimmen das Sein. Ahnend hat dieser Botschafter der Moderne so eine sphärische Welt makrokosmischer Ordnung zu deuten gesucht. Nicht nur Bewusstmachen des Unbewussten, sondern Hörbarmachen des Unhörbaren, Sichtbarmachen des Unsichtbaren – das sind Aufgaben, die er sich und der Kunst seiner Zeit stellte. Und dass sich bei ihm Empfindsamkeit gerade mit Kontrolle und Kreativität verbindet  – das macht ihn zu einem der bedeutsamsten Maler des 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Birgit Poppe: Kandinsky und seine Zeit.
E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2016.
144 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783865023681

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