Der Tag, der die Welt veränderte…

Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen bündeln Betrachtungen zu ästhetischen Verarbeitungen des 11. September

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die sogenannten "Twin Towers" des World Trade Centers in New York rasten, stockte der Welt der Atem. Über 3000 Menschen ließen ihr Leben bei diesen Anschlägen, viele Tausende mehr in den darauf folgenden militärischen Angriffen der USA auf Afghanistan und den Irak, die dazu dienen sollten, die mutmaßlichen Drahtzieher ausfindig und dingfest zu machen. Vielfach wurde über die Ursachen sowie die Folgen der Anschläge für die USA und die ganze Welt diskutiert und das Ereignis aus politischen, gesellschaftlichen, religiösen, philosophischen, psychologischen und ökonomischen Blickwinkeln betrachtet. Eine Reihe von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Studien folgte, und jeder Aspekt der Ereignisse wurde detailliert analysiert. Was bisher jedoch fehlte, war eine Untersuchung zu den ästhetischen Verarbeitungen der Anschläge vom 11. September. Welche künstlerischen Reaktionen hat dieses tragische Ereignis hervorgerufen? Wie wurde es literarisiert, inszeniert und visualisiert?

Diese Lücke wird nun - 7 Jahre nach den Anschlägen - durch den von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen herausgegebenen Sammelband "Nine Eleven - Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001" geschlossen. Anhand von Beiträgen zur US-amerikanischen und deutschen Literatur, zu Theateraufführungen, Dokumentar- und Spielfilmen, zur Popmusik und zu bildkünstlerischen Werken werden "(Re)Konstruktionen, Deutungen und Funktionalisierungen von 'Nine Eleven' analysiert". Dabei wird versucht, die explizit politischen und sozio-historischen Perspektiven und Analysen hinter sich zu lassen, und sich den rein ästhetischen Gesichtspunkten zu widmen. Ziel der AutorInnen ist es, eine "breit kulturwissenschaftlich perspektivierte Bilanz zu ziehen, in welcher Weise die Kunst auf [die Anschläge] reagiert hat, welche poetologischen Muster sich also in unterschiedlichen Kunstformen finden, welche Deutungsversuche im Medium der Fiktion angeboten wurden, wie die bildorientierten Künste auf die anscheinend übermächtige Bild-Konkurrenz des Fernsehens geantwortet haben und welche Formen die Kunst über 'Nine Eleven' in verschiedenen Kulturräumen prägen".

Konkret bedeutet dies eine interdisziplinäre und interkulturelle Auseinandersetzung mit Literarisierungen, Inszenierungen und Visualisierungen des 11. September. Im Mittelpunkt steht dabei Jacques Derridas Paradoxon einer gewissen unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Dieses besagt, dass jede Äußerung zu einem bestimmten Geschehnis an der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse scheitere, aufgrund derer die Sprachäußerung immer zu spät komme. Die sich mit Literarisierungen beschäftigenden Beiträge gehen besonders den Fragen nach, wie das Erzählen durch den Ausnahmezustand nach den Anschlägen verändert und wie das Ereignis in angloamerikanischen und deutschen Romanen geschildert wird. Dabei gelangen alle Beiträge zu der Konklusion, dass sich die amerikanische Lyrik überwiegend als Versuch der Verarbeitung präsentiert, während die deutsche eine Art "selbstreflexive Verarbeitung der Verarbeitung" darstellt. Auch das Dilemma der AutorInnen, in dem diese sich nach den alles erschütternden Anschlägen befanden, wird hervorgehoben. Einerseits bestand die Notwendigkeit, das Geschehen hinter sich zu lassen und einen Weg aus der Krise zu finden, - andererseits jedoch war man angesichts des Schocks über die Ereignisse unfähig, etwas Neues zu schaffen.

Mit demselben Problem sahen sich auch Theatermacher und Musiker in den USA und Deutschland konfrontiert. Beide mussten sich zwei Herausforderungen stellen, nämlich der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Undarstellbaren einerseits und der Notwendigkeit der Positionierung zum Geschehen durch eine Funktionsbestimmung des Theaters beziehungsweise der Musik in der sich in der Krise befindenden Gesellschaft andererseits. Was die nach dem 11. September entstandenen Theatertexte betrifft, konstatieren die AutorInnen keinen dramenpoetologischen Neubeginn durch die Beschäftigung mit den Anschlägen. Im Bereich der Popmusik sind zum Teil sehr heftige und unmittelbar folgende Reaktionen auf die Ereignisse des 11. Septembers auszumachen, die allesamt einen bedeutsamen Beitrag zur Verarbeitung des nationalen Traumas geleistet haben.

Auf dem Gebiet der Visualisierungen des Anschlags auf das World Trade Center finden sich Dokumentar- und Spielfilme ebenso wie Comicbücher und Fotografien. Anhand von Hollywood-Filmen wie Oliver Stones "World Trade Center", Paul Greengrass' "United 93" und Michael Moores "Fahrenheit 9/11", als Vertreter der US-amerikanischen Filmindustrie, und deutschen Filmproduktionen wie "September" von Max Färberböck, "Fremder Freund" von Elmar Fischer und "Auf ewig und einen Tag" von Markus Imboden wird der Umgang mit "Nine Eleven" (9/11), wie die Anschläge in den USA genannt werden, untersucht.

Dabei kristallisiert sich heraus, dass deutsche Filme zu diesem Thema distanzierter auf die Ereignisse blicken und diese in einem größeren Kontext platzieren, in dem auch die Ursachen und Folgen der Tragödie einen Platz finden. Als Zuschauer erhält man mehr Hintergrundinformation - und auch die individuellen Geschichten hinter dem Drama sowie die Auseinandersetzung mit den Tätern sind ein zentrales Thema.

Anders in US-amerikanischen Produktionen: Diese konzentrieren sich auf das Leid der Opfer. Die Täter werden von vornherein verurteilt, ohne deren Beweggründe auch nur anzusprechen oder die Rolle der eigenen Nation und der eigenen globalen politischen Aktivitäten abzubilden. Als Zuschauer befindet man sich dabei also mitten im Geschehen, und die Ereignisse werden oftmals chronologisch geschildert. Eine besondere Rolle nehmen in diesem Kontext die Comics ein, die zu den ersten künstlerischen Reaktionen auf den 11. September gehören, die in den ganzen USA sichtbar wurden. Hier konnten das Trauma, der radikale Einbruch in das Leben, das Welt- und Sinnbild und die Sinnstiftungsprozesse der US-amerikanischen Gesellschaft perfekt aufgezeigt, thematisiert und verarbeitet werden. Fotografien, die sich mit dem 11. September beschäftigen, sind wiederum vor allem durch ihre Anknüpfung an diverse kunsthistorische Traditionen und ihre Übernahme bekannter Motive (wie das des falling man und das der einstürzenden Türme) gekennzeichnet.

Irsigler und Jürgensen legen mit "Nine Eleven" einen Sammelband vor, der sich am Puls der Zeit befindet. Vielfach werden unbekanntere KünstlerInnen und in den Wissenschaften oftmals eher ausgeklammerte Genres wie die Popmusik, Comics und die moderne Fotografie ins Zentrum der Forschung gestellt, was angesichts der intensiven Auseinandersetzung der behandelten KünstlerInnen mit dem Thema mehr als nötig war und ist. Lobenswert ist außerdem, dass bei der Auswahl der künstlerischen Reaktionen keine Beschränkungen bezüglich Sprachraum oder spezifischer Kunstform vorgenommen wurden, auch wenn sich die Beiträge größtenteils mit dem angloamerikanischen und dem deutschen Raum beschäftigen. Es wird vermieden, Partei für eine Seite zu ergreifen und entweder Sympathie für die Opfer oder Verständnis für die Täter aufzuzeigen und zu politisieren. Ganz sachlich werden die künstlerischen Verarbeitungen der Anschläge aufgezeigt und besprochen.


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Ingo Irsigler / Christoph Jürgensen (Hg.): Nine Eleven - Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008.
403 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783825354459

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