Nicht nur leistungs-, sondern auch wandlungsfähig

Das gedruckte Buch verabschiedet sich seit mehr als 50 Jahren aus der Gegenwartskultur, die Buchwissenschaft hingegen sucht immer noch nach ihrem Gegenstand

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob sich das Buch aus der Kultur verabschiedet – als Speicher- und Kommunikationsmedium, als Gegenstand von Lese- und Sammelbegierde oder auch nur als unnützes und Platz verbrauchendes, zudem schnell einstaubendes Accessoir –, lässt sich wahrscheinlich nur aus dem Rückblick beurteilen, irgendwann in ungewisser Zukunft. In der dann auch die Frage geklärt sein dürfte, ob Medien einander nur ergänzen oder auch verdrängen (was unter Medienwissenschaftlern strittig ist). Wir, die wir den vermeintlichen Niedergang des gedruckten Buches begleiten, müssen uns hingegen mit mehr oder minder haltlosen Spekulationen begnügen, denen wir wenig entgegenzusetzen haben, außer einen gewissen Langmut und das Vertrauen in die Qualitäten des Gedruckten.

Folgt man den Unkenrufen seit den 1960er-Jahren, ist der Untergang des Buches bereits seit langem abgemachte Sache, was seiner Vitalität allerdings keinen Abbruch getan hat, wenn man denn unter dem „Buch“ jene Vielzahl von aus Papier gefertigten, bedruckten, mit Faden oder Kleber zusammengebundenen Objekten versteht, die gelegentlich noch wunderschöne Einbände haben. Dass es damit nicht so einfach ist, wie oft behauptet, legen die Beiträge des zweibändigen Handbuchs „Buchwissenschaft in Deutschland“ nahe, das immerhin so etwas wie den Wissens- und Reflexionsstand des kleinen Faches zusammengefasst vorstellen will und das sich mit einem theoretisch wie praktisch unerhört „großen“ Gegenstand beschäftigt.

Geht man – einigermaßen naiv – von einem weiteren Verständnis von „Buch“ aus, dann ordnet es sich historisch und funktional in eine variationsreiche mediale Welt ein, die gesellschaftliche Aufgaben wie Kommunikation, Unterhaltung, Wissensspeicherung oder Statusanzeige übernimmt. In dieser medialen Welt nehmen Bücher eine prominente Stellung ein, nicht nur weil sie immer noch eine hohe Reputation genießen. Wer etwas auf sich hält, schreibt ein Buch, egal was er/sie sonst so macht. Und ein Buch schmeißt man nicht weg, sondern bewahrt es auf, während man seinen Kassettenrecorder oder Plattenspieler schon eingemottet und seine Platten und Bänder entsorgt hat.

Aber Schluss mit solchen Klischees: Bücher haben eine relativ hohe Widerstandskraft gegen Medien- und Sprachwechsel. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Bücher bis heute immer noch nutzbar. Allerdings bringen sie auch einige Platz- und Verarbeitungsprobleme mit sich, wenn sie im Gesamten betrachtet werden. Die Sorgen der Deutschen Nationalbibliothek möchte man nicht haben.

Aber auch in der gesellschaftlichen Praxis sind Bücher bis heute unentbehrlich – so sehr, dass sich das Buch metaphorisch in die Welt der neuen Medien eingeschlichen hat. Seine Seiten und Kapitel dienen auch als Bezeichnungen digitaler Medien – und ob ein Lesegerät der Untergang oder die Fortsetzung der Gattung Buch ist, will man nicht wirklich diskutieren, was den Blick auf das Buch deutlich erweitert.

Obwohl das Buch also ubiquitär ist, scheint seine wissenschaftliche Verankerung eher rudimentär zu sein – was überraschen muss, denn ein Medium, auf dem derart viele Aufgaben lasten, sollte einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Wobei die Überraschung nicht wirklich groß ist, denn die institutionelle Randständigkeit der Buchwissenschaft in der Wissenschaftslandschaft ist bekannt genug. Bücher werden geschrieben, gedruckt, gesammelt und ausgewertet, ja eben auch benutzt, aber als eigenständiger Gegenstand eines Faches – als materialer Gegenstand und als System – ist es kaum etabliert: Lediglich an fünf deutschen Universitäten gibt es buchwissenschaftliche Institute, was auf die schwache akademische Verankerung verweist. Und das spricht wiederum wenig für die Zukunft der Buchwissenschaft.

Das Fach leidet darunter, dass es, wie die Herausgeberin Ursula Rautenberg bemerkt, dieselbe „additive Fragmentierung“ praktiziert, wie alle Kultur- und Geisteswissenschaften: Jedes Fach ist mithin auf sich selbst gestellt und geht deshalb auch allein unter, wenn es seinen Bestand nicht sichern kann. Das aber ist in Zeiten der Bologna-Studiengänge und der verstärkten Effizienzbestrebungen der Universitäten fraglicher geworden. Ein Fach muss sich legitimieren, um zu überleben. was wiederum den kleineren Fächern schwerer fällt als den größeren. Zumal dann, wenn ein Paradigmenwechsel zumindest offiziell weg vom Untersuchungsgegenstand führt: Die Medienwissenschaft, die quasi am Buch vorbei entstanden ist, als deren Teil sich aber dennoch die Buchwissenschaft versteht, wendet sich mittlerweile anderen Medien zu. Das Buch ist hingegen – in Umkehrung des obigen Attests – bestenfalls noch als Metapher, nicht jedoch mehr als Forschungsobjekt präsent.

Da erstaunt es nicht besonders, wenn das von Ursula Rautenberg herausgegebene Handbuch zur „Buchwissenschaft in Deutschland“ in seinem theoretischen ersten Kapitel erstaunliche Anstrengungen unternimmt, seinen Gegenstand überhaupt zu definieren. Das setzt mit dem Eingeständnis ein, dass es überhaupt kein einigermaßen gesichertes Verständnis von dem gibt, was das „Buch“ denn nun wirklich sei. Dass die Unesco-Definition nicht weit reicht, die Publikationen mit einem Mindestumfang von 49 Seiten als Buch begreift, versteht sich von selbst. Nicht zuletzt deshalb, weil es einen derart aufgeladenen Begriff auf seine Materialität zu reduzieren versucht. Dass es dafür (statistische) Gründe gibt, steht auf einem anderen Blatt – das womöglich in irgendeinem realen oder metaphorischen Buch zu finden ist.

Die Prominenz der medienwissenschaftlichen Verortung der Buchwissenschaft wird nicht nur in der Einleitung Rautenbergs, sondern gleich in mehreren Beiträgen erkennbar. Ulrich Saxer unternimmt den Versuch, die Buchwissenschaft im Bereich der Medienwissenschaft zu verorten und bezieht verstärkt deren Praxis in Deutschland mit ein. Nicht also eine ideale, konzeptionell durchgearbeitete Medienwissenschaft, sondern deren institutionelle Praxis steht in seinem Fokus. Er geht von einem wissenschaftspragmatischen Ansatz aus, nach dem jede Wissenschaft sich – dem AGIL-Schema folgend – vier Problemen zu stellen hat: der Anpassung an die Umwelt, Realisierung der anvisierten Ziele, Integration und Erhaltung der eigenen strukturellen Identität. Das ist für ein Fach, dass derart peripher ist, möglicherweise eine viel zu hohe Anforderung, was wohl einer der Gründe ist, die Buchwissenschaft als Teil der Medienwissenschaft zu positionieren. Dass sie dies praktiziert, hält Saxe allerdings für ein erfolgversprechendes und bereits geglücktes Manöver. Er meint feststellen zu können, dass die Buchwissenschaft davon in mehrfacher Hinsicht profitiere.

Als methodisches Kernparadigma erkennt Saxe einen „wissenschaftstheoretischen Pluralismus mit deutlichen Präferenzen für historisch-hermeneutische Perspektiven“, was allerdings gerade in der ausbordenden Theorievielfalt der Kultur-, Geistes- und Medienwissenschaften ubiquitär ist. Eine der Grundannahmen ist zudem, dass die Buchwissenschaft gesellschaftliche Aspekte einbinden muss, um ihr Thema funktional, das heißt angemessen erfassen zu können. Inter- und Transdisziplinarität, so Saxe, ist mithin für die Buchwissenschaft auch als Medienwissenschaft geboten und bereits Praxis. Allerdings sieht er die Notwendigkeit, dass die Buchwissenschaft sich vom materialen Objekt Buch weitgehend lösen und generalisieren müsse.

Daran schließt der Beitrag von Sven Grampp an, der die uneigentliche Verwendung des Terminus „Buch“ in der Medienwissenschaft aufnimmt, auch wenn in der Praxis die Ansicht vorherrsche, es mit einem materialen Objekt zu tun zu haben. Das Buch hingegen fungiere eigentlich nahezu ausschließlich als Trope, nicht als Gegenstand, konstatiert er. Als Exempel dienen ihm die Pole Jacques Derrida und Marshall McLuhan. In der Medientheorie Derridas freilich gibt es überhaupt keine Möglichkeit zu einem direkten Weltzugang. Medialität hat hier einen  notwendigen, unhinterschreitbaren Status. Derrida löse, so Grampp, Wahrnehmung ins semiotische Spiel auf, was es schwierig mache, überhaupt so etwas wie Bedeutung oder gar Wahrheit fixieren zu können. Das semiotische Spiel löse sie auf und das Buch werde in diesen Sog gezogen.

Den Gegenpol bildet Marshall McLuhans Medientheorie, in der wohl am wirkungsmächtigsten der Tod des Buchs als Trägermedium verkündet worden ist, allerdings auch schon in den frühen 1960er-Jahren. Da für McLuhan das Medium die Wahrnehmung von Welt bestimme, gehe mit dem Wechsel vom gedruckten Buch zu den elektronischen Medien auch eine Veränderung von Wahrnehmung einher, wobei Grampp allein drei verschiedene Verwendungsweisen des Terminus nachweist, bis hin zu eben jener „Gutenberggalaxis“, die so eng mit McLuhans Arbeiten verbunden ist.

Helmut Schanze arbeitet stattdessen für die Eingrenzung des spezifischen Gegenstandes der Buchwissenschaft mit dem Konzept der Medienagentur, schließt den materialen Gegenstand, der immerhin Bild und Begriff gestiftet hat, mit ein, um ihn in einen umfassenden gesellschaftlichen Apparat zu integrieren. Zu diesem Agentursystem gehören unter anderem die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, die für die Produktion von Büchern, aber auch von anderen kulturellen Produkten notwendig sind. Buchwissenschaft beschäftigt sich so gesehen mit technischen und gesellschaftlichen Apparaten, die Grundfrage einer Buchwissenschaft als Medienwissenschaft sei mithin „die paradoxe Frage nach der ‚Immaterialität‘ des Buches“. Der gemeinsame Nenner von Medienwissenschaft und Buchwissenschaft sei die Schrift, da ja auch die „Neuen Graphien bis hin zur Kinematographie und den audiovisuellen Medien“ auf ihr beruhten.

Schanze unternimmt zudem den Versuch, die Rede von den neuen und alten Medien zu historisieren – zum einen, indem er den audiovisuellen Medien zuschreibt, die eigentlich älteren zu sein, während er die Schrift als neueres Medium beschreibt, zum anderen, indem er zeigt, dass das Buch als erstes der „modernen Massenmedien“ den „Prozess der Digitalisierung durchlaufen“ habe.

Georg Stanitzek nimmt einen Teilaspekt des Agenturkonzeptes auf, indem er die Medialität des Buches über das Paratextkonzept Gerard Genettes zu beschreiben versucht. Das dient unter anderem der Differenzierung zwischen dem Medium Buch und dem jeweils konkreten Buch. Womit wir wieder an dem Punkt sind, dass „das Buch“ keineswegs das auf Papier gedruckte Objekt meint, welches nicht zuletzt auf Regalen steht und unter anderem der Lektüre dient.

In der Konkretisierung der Buchforschung allerdings dominieren die positivistischen Felder, in denen Produktion und Distribution im Vordergrund stehen, quasi als Fundierung der intellektuellen oder kreativen Leistung, neudeutsch gesprochen dem „content“, der in ihnen fixiert wird.

Der größere Teil des ersten Bandes besteht deshalb aus Forschungsberichten zur Buchhandelsgeschichte, zur Zensurforschung, zum Lesen und zum Verhältnis von Druck zu Handschrift, zur Leserforschung und zum Verhältnis von Buch und Wissen. Der zweite Band hingegen widmet sich der Fachkommunikation, der institutionalisierten Lehre, den Forschungsbibliotheken und der Bibliophilie.

Die Beiträge sind stark sach- und problemorientiert, sie können bei der Orientierung etwa zur Buchhandelsgeschichte oder zur Leserforschung hilfreich sein, allerdings wagen es nur einige Beiträge, sich vom reinen Forschungsbericht wegzubewegen und ihre Themen respektive Gegenstände selbst in den Blick zu nehmen. Das ist für eine Bestandsaufnahme eines Faches legitim und notwendig, und zeigt auch, in welche Richtung sich das Fach bewegt. Dass es zu großen Synthesen neigt, wie etwa der an dieser Stelle bereits besprochene zweite Band der „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert“ zeigt, ist kaum zu verdenken. Auch dass die prominenten Themen – etwa die sogenannten Kulturverlage des frühen 20. Jahrhunderts – eher die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ist nachvollziehbar.

Das Fach neigt zu beeindruckenden Projekten, wie an der vor einigen Jahren erschienenen Geschichte der Typografie zu sehen ist, die auf eine niederländische typografische Sammlung zurückgreift, deren Umfang freilich imposant ist und bleibt. Jedes Mal, wenn man einen der beiden vom Taschen Verlag wie stets üppig ausgestatten Bände vornimmt, ist das Erstaunen groß. Die Bände verführen zum Blättern und zum genauen Studium der typografischen Lösungen – je mehr Beispiele dabei vorgenommen werden und je weniger Musterbücher, desto besser.

Jenseits solcher Materialbände, die vor allem durch Sammlerfleiß und Kennerschaft imponieren, ist allerdings in der Buchwissenschaft, die sich verstärkt als Medienwissenschaft begreift, die Verunsicherung über den Gegenstand auffallend groß. Das verstärkt das Interesse an den einleitenden, theoretisch fundierten Beiträge. Aber die Abnabelung von der Literaturwissenschaft und der Flirt mit den Medienwissenschaften führt anscheinend keineswegs zu einer grandiosen Konjunktur buchwissenschaftlicher Forschung, sondern dient nur der institutionellen Absicherung. Ob das als Strategie reicht, bleibt offen. Rautenbergs Handbuch hat definitiv ein anderes Ziel.

Abschied also vom Buch? Wenn man der Vorberichterstattung zur Frankfurter Buchmesse 2015 glauben darf, keinesfalls. Allerdings eben auch mit der Einschränkung, dass das Buch eben nicht nur eine Existenzform hat, sondern mehrere, mindestens auf Papier und elektronisch. Das E-Book wird weiter zulegen, zweifelsfrei, aber die Überlegungen der Buchhändler gehen viel weiter. Vorrangig sie sind an Informationen generell interessiert, die in Buchform oder buchähnlicher Form vermarktbar sind, denn darauf lassen sich die bestehenden Geschäftsmodelle einfach anpassen.

Dass das erfolgreiche Denkmodelle sein können, hat das Hörbuch gezeigt, bei dem der Buchhandel eine gute Rolle spielt. Aber das war und ist auch plausibel, weil die CD, auf der Hörspiele vor allem vermarktet wurden und immer noch werden, eine klar abgrenzbare Ware ist, an deren Verbreitung lokale Buchhändler (die es tatsächlich noch geben soll) notwendig beteiligt werden können.

Sobald es aber um alles, was „geistiges Eigentum“ betrifft, geht, wie kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu lesen war, sind weiter reichende Konzepte gefragt, was immer dann „prozessorientiert“ aufgearbeitete Informationen sein werden. Wie es aussieht, zeigt das Buch nicht nur seine Leistungsfähigkeit, sondern auch seine Wandlungsfähigkeit – ob die Buchwissenschaft dem folgen wird, bleibt offen. In der historiografischen Praxis wird sie sicherlich einen starken Fokus auf die auf Papier gedruckten Texte und deren Produktion wie Distribution behalten. In ihrer theoretischen Fundierung hingegen hat sie sich die Öffnung zu neuen medialen Variationen und größeren Zusammenhängen erarbeitet.

Titelbild

Jan Tholemaar (Hg.) / Cees W. de Jong / Alston Purvis: A Visual History of Typefaces and Graphic Styles. Vol. 1.
Taschen Verlag, Köln 2009.
360 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783836511018

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Titelbild

Cees W. de Jong (Hg.) / Jan Tholemaar / Alston Purvis: A Visual History of Typefaces and Graphic Styles. Vol. 2.
Taschen Verlag, Köln 2010.
360 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783836515146

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch.
2 Bände.
De Gruyter, Berlin 2010.
1109 Seiten, 189,95 EUR.
ISBN-13: 9783110200362

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