Dr. Sacks und Mr. Wolf

Die überraschenden Lebenserinnerungen des berühmtesten Neurologen der Welt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als in New York vor einigen Jahren eine Mondfinsternis zu sehen war, lief ein vollbärtiger älterer Herr aufgeregt durch die Straßen, hielt wildfremde Menschen an, drückte ihnen ein kleines Teleskop in die Hand und rief: „Schauen Sie! Schauen Sie doch nur, was mit dem Mond geschieht!“ Sogar ein sich heftig streitendes Pärchen ließ sich von der unschuldigen Begeisterung des Mannes anstecken: „Verblüfft hielten sie inne und betrachteten den Mond, wobei sie sich das Teleskop gegenseitig reichten“, erinnert sich Oliver Sacks. „Dann gaben sie es mir zurück, dankten mir und setzten ihren wütenden Streit augenblicklich fort.“

Eigentlich machte der britisch-amerikanische Arzt und Schriftsteller, der Ende August mit 82 Jahren starb, ein halbes Jahrhundert lang nichts anderes, als den Menschen voller Begeisterung bücherförmige Teleskope in die Hand zu drücken und zu sagen: „Schauen Sie!“ Nur dass seine Bestseller wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (1985) keine fernen Himmelsphänomene in den Blick nahmen, sondern den womöglich noch faszinierenderen Kosmos neurologischer Störungen und Symptome. Mit seinen Fallgeschichten über Menschen, die an Migräne, Autismus, Farbenblindheit oder Halluzinationen leiden, wurde Sacks zum bekanntesten Neurologen der Welt, spätestens seit der Entdeckung seines Werkes durch Hollywood („Zeit des Erwachens“, 1990).

In seinem letzten Buch richtet Sacks den Blick auf sich selbst, und zwar mit der selben berührend-ansteckenden Mischung aus Mitgefühl, Empathie, Neugier und Begeisterung, mit der er sonst von seinen Patienten berichtete: „On the Move“ heißt die Fortsetzung seiner bereits erschienenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im London der Weltkriegsjahre („Onkel Wolfram“, 2001). Um ein bewegtes Leben handelt es sich in der Tat. Was man freilich schon vermuten konnte, als Sacks zuletzt im Zusammenhang mit Halluzinationen von seiner verblüffend umfangreichen Drogenvergangenheit berichtete. Doch der verwegen dreinschauende, muskelbepackte Lederklamotten-Typ auf einem Motorrad, der das Cover ziert, überrascht denn doch, so wenig scheint er mit dem vertrauensvoll-großväterlichen Mediziner zu tun zu haben, den man von Sacks‘ Autorenfotos kennt.

Tatsächlich führte der Sohn einer englisch-jüdischen Arztfamilie während seiner Medizinerausbildung im Kalifornien der Hippie-Ära ein Doppelleben à la Dr. Jeckyll und Mr. Hyde, mit einem Ich für den Tag und einem für die Nacht: „Am Tag war ich der freundliche, weißbekittelte Dr. Oliver Sacks, aber bei Nacht tauschte ich den weißen Kittel mit der Lederkluft und glitt anonym und wolfsartig auf meinem stählernen Reittier aus dem Krankenhaus hinaus […] und raste dann im Mondlicht die Straße nach Stinson Beach oder Bodega Bay hinab.“ Eine Doppelexistenz, die noch von seinem zweiten Vornamen Wolf unterstrichen wurde, wie ihn seine Bikerfreunde – darunter Angehörige der Hells Angels – damals nannten.

Was immer Sacks in seinen Sturm- und Drang-Jahren anstellte, er tat es exzessiv: ob er auf seinem geliebten Motorrad an Wochenenden bis zu 1500 Kilometer durch die kalifornische Wüste brauste, in einem Trucker-Café in 30 Stunden 70 Tassen Kaffee trank, beim Gewichtheben am „Muscle Beach“ mit 270 Kilo auf den Schultern den kalifornischen Rekord im Kniebeugen brach (was ihm den Spitznamen „Dr. Squat“ einbrachte) oder seiner Methamphetaminsucht bis zum Delirium tremens frönte. Im Rückblick attestiert sich Sacks selbst einen suizidalen Drang; „On the Move“ erzählt von zahlreichen Momenten, die er nur mit viel Glück überlebte.

Doch war der junge Oliver Sacks, als er 1960 erst nach Kanada, dann in die USA auswanderte, nicht etwa ausgezogen, um das Fürchten zu lernen. Es waren eher diverse Lebensprobleme, denen er zu entkommen versuchte: darunter sein an einer Psychose erkrankter Bruder Michael im heimischen London, soziale Hemmungen, und vor allem Sacks‘ Homosexualität. Als er sich mit 18 seinen Eltern offenbarte, reagierte seine Mutter mit den Worten: „Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, du wärest nie geboren worden“ – Sätze, die Sacks „während des größten Teils meines Lebens“ verfolgen sollten.

So war sein Drogenkonsum nicht zuletzt ein Ersatz für unerfüllte Liebe: Sacks erzählt von tragisch-sprachlosen Freundschaften sowie seltenem (aber umso lustvollerem) Gelegenheitssex mit Fremden – und dann folgt, ohne weitere Erklärung, das Eingeständnis, er habe nach seinem 40. Geburtstag 1973 „fünfunddreißig Jahre lang keinen Sex mehr“ gehabt. Warum? An anderer Stelle heißt es, er hatte zeitlebens Probleme mit den drei B’s, „bonding, belonging und believing“.

Dem widerspricht der Umstand, dass er seinen Heimpatienten auch nach einer Entlassung heimlich die Treue hielt – oder fast 50 Jahre lang zum selben Analytiker ging. Diese Psychoanalyse war es auch, die ihm half, seine Bestimmung zu finden, die klinische Arbeit am Patienten. Sie habe ihm „in mehr als einer Hinsicht das Leben gerettet“, betont Sacks – sie und das Schreiben, die erschütternde Erfahrung bei der Arbeit an seinem Erstling über Migräne, „etwas Wirkliches und Wertvolles“ erschaffen zu haben.

Wie in den meisten Autobiografien fällt auch in „On the Move“ die zweite Hälfte gegenüber der ersten ab – die Irrungen und Wirrungen der Jugend sind eben spannender zu lesen als die Erfolge des reifen Individuums. Dennoch finden sich auch in den späten Kapiteln starke Passagen: wie die anderthalb Seiten, die er seinem im Alter von 77 Jahren endlich gefundenen Liebesglück mit dem Schriftsteller Billy Hayes widmet – so zurückhaltend geschrieben, als könne er es selbst nicht glauben. Oder die Begeisterung, mit der Sacks, der schon in der Schule „Inky“, Tintenklecks, gerufen wurde, vom rauschhaften Glück des Schreibens und seinen inzwischen über 1000 Tagebüchern erzählt.

Oder die jeden Resilienzforscher elektrisierende Art und Weise, mit der Sacks 2005 mit seiner ersten Krebserkrankung – einem Melanom im rechten Auge – umging: Er ließ sich von den visuellen Phänomenen faszinieren, die auftraten, „als meine Netzhaut – mit meiner Sehfähigkeit – Stück um Stück von dem Tumor und dem Laser abgenagt wurde“, von den wüsten Verzerrungen oder der zügellosen Ausbreitung von Farbe und Form, mit deren Beschreibung er ein „Melanomtagebuch“ mit über 90.000 Wörter füllte, „ein Experiment mit und an mir selbst“. Man kann nur hoffen, dass sich Oliver Sacks diese Haltung auch nach seiner neuerlichen Krebserkrankung bewahren konnte.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 26.1.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Oliver Sacks: On the Move. Mein Leben.
Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015.
447 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498064334

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