Die Welt als Bühne

Giwi Margwelaschwilis Roman „Zuschauerräume“ nicht nur für naive Leser

Von Mariam KarsanidzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mariam Karsanidze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Gegenwartsliteratur hat mit Giwi Margwelaschwili einen der unkonventionellsten Schrifsteller vorzuweisen. Sein kleines Buch Zuschauerräume ist auf den ersten Blick ein übliches Theaterstück mit Hauptpersonen, Nebenpersonen, einer klaren Handlung und mit allen typischen Motiven eines Dramas à la Shakespeare. So verstanden ist das Theaterstück ein hohes Lob an Stalin, es ist eine Rechtfertigung der vielen Toten und ein Denkmal an alle Diktatoren, die nur das Beste für ihr Volk suchen. Das Stück bietet zudem eine Erklärung für das Scheitern Stalins: Die Treulosigkeit und Unfähigkeit seiner Gefolgsleute, ihr Verrätertum und Karrierismus. Das alles stammt aus der Hand eines Opfers des Stalinismus, der vom sowjetischen Geheimdienst entführt und nach Zwischenaufenthalt im Konzentrationslager Sachsenhausen nach Georgien deportiert wurde. Sein Vater wurde in einem Konzentrationslager erschossen. Im Exil begann Margwelaschwili für die Schublade zu schreiben: offene Kritik an totalitären Systemen, unverdeckte Analysen der Missstände in den Sowjetgesellschaften und so weiter. Heinrich Böll versuchte ihm zu helfen, er wollte einige Manuskripte nach Deutschland schmuggeln, aber in einem persönlichen Gespräch in letzter Minute stimmte Margwelaschwili ihn um: Die Angst war zu groß. Erst 1989 kehrte er in seine Heimatstadt Berlin zurück und trat erstmals an die Öffentlichkeit. Bis heute lässt er keine Gelgenheit aus, um Stalin, seine Politik und allgemein den Bolschewismus zu kritisieren.

Licht ins Dunkle bringt eine genauere Analyse des Textes: Wenn man den Text nicht naiv als Theaterstück mit einer Handlung versteht, sondern auf einer höheren Abstraktionsebene als Buch über die Aufführung eines Theaterstücks: Man ist nicht mehr Zuschauer im Zuschauerraum, sondern Leser, der etwas über Zuschauer und Buchpersonen liest. Der König ist jetzt eine Buchperson, ebenso wie die Regie. Und plötzlich ist der „gerechte König“, „des armen Volkes treuer Freund“, ein Wahnsinniger, der Menschen sinnlos seinen „verrückten“ Ideen „hinopfert“, jede Form von Kunst zerstört und Andersgläubige bis zur „Vernichtung der ganzen Sippschaft“ verfolgt. Die erzählte Geschichte Stalins wird als Lügenerzählung aufgedeckt. Man beachte: Der Untertitel des Buches lautet Ein historisches Märchen. Ist mit „Märchen“ eine Lügengeschichte gemeint? Es ist auffallend, wie treu jene Geschichte erzählt wird, die Stalin dem Volk und der Zukunft verkaufen wollte: Moskauer Schauprozesse, die zahlreichen Mordattentate an Stalin und Verräter, die ins Ausland gehen, um einen Krieg gegen die Sowjetunion zu organisieren. Allesamt von der modernen Geschichtsforschung nachgewiesene Geschischtsfälschungen.

Der aufmerksame Leser findet aber auch eine dritte Ebene des Verständnisses: Die traditionelle Lesekultur, in der Texte narrativ verstanden werden: Das Buch erzählt eine Geschichte, es ist kein Buch und kein Drama, es ist Erzählstoff. Auf dieser erznaiven Leseebene ist das Buch ein komplexes Gebilde philosophischer Gedanken: Geschichtsphilosophie, politische Philosophie, Schriftphilosophie und Poetik mit der üblichen Palette an Hauptfragen der Hermeneutik, des Strukturalismus und der Semiotik. Übrigens bietet der Text in dieser Interpretation eine vernichtende Kritik an Dramen à la Shakespeare und allgemein an der Gehaltlosigkeit der Massenkunst, die es sich zum obersten Ziel setzt, dem Publikum zu gefallen. Bei so viel Kunstphilosophie ist man geneigt, im König den Autor zu erkennen: Der Autor, der erzählt, wie er gegen die „besten und ältesten Traditionen“ kämpft, um eine ganz neue Art des Dramas zu erschaffen, er kämpft gegen die Trennung zwischen Haupt- und Nebenpersonen, gegen die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, doch am Ende steht wieder das klassische Shakespeare-Drama da: ein weiteres überflüssiges Produkt der Massenkunst.

Es ist jedoch wirklich möglich, den Text ohne historischen und philosophischen Kontext zu lesen: als unwissend-naiver, mystisierender Leser. Der Text wird hier als Metapher verstanden, das ist möglich, weil keine historischen Namen und Orte vorkommen und bereits auf der ersten Seite ein Scherz dem Leser suggeriert, der Text sei als Metapher zu verstehen. So gelesen mutiert das Buch zu einer gleichnishaften Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft und dem Leben in ihr: Begriffe wie Freiheit, Tod, Leid, Gott und Teufel werden tragend für den gesamten Text. Dabei wird nebenbei die gesamte abendländische Philosophie in ihrer Hilfslosigkeit im Umgang mit diesen Themen entlarvt. Natürlich versteht der Kenner, dass auch diese Interpretationsebene eine lange Tradition hat: die Welt als Weltbühne (Theatrum mundi) ist ein Topos mit einer langen Geschichte und die Art der Kritik steht in der Tradition Rousseaus. Dem Kenner ist klar, dass der Autor seinen Text mit den Fäden der Traditionen webt. Aber sie sind für das Verständnis offenbar überflüssig. Der Leser sei trotzdem gewarnt: Hier wäre Stalin, falls der Leser ihn kennen sollte, ein kluger Politiker, der alles richtig machte und leider dennoch scheiterte.

Welche ist die richtige Verständnisebene? Ist das Buch ein Theaterstück und Stalin der Held? Oder ist das Buch ein Text und Stalin der Betrüger? Ist das Buch die Wiedergabe einer Handlung und somit philosophisch zu verstehen? Oder muss der Leser jenseits der Worte eine transzendente Bedeutung suchen? Der Autor scheint die Entscheidung dem Leser überlassen zu wollen, jede Ebene hat ihre Berechtigung, obwohl jede Ebene von einer anderen hinterfragt wird. Und gerade hierin liegt der Reiz des Textes. Hintergrund der Handlung ist nicht umsonst das Ende des Mittelalters.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Giwi Margwelaschwili: Zuschauerräume. Ein historisches Märchen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
117 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426086

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