Die Universität der Literatur

Eine literaturkritische Blütenlese

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Die folgenden Überlegungen widmen sich der Frage, wie eine Literaturkritik der Universitätsliteratur möglich wäre. Am Anfang stehen daher grundsätzliche Reflexionen über das Verhältnis von Literaturkritik und Universitätsliteratur. Wie es sich für eine Blütenlese gehört, werden im Anschluss daran drei exemplarische Lektüren von Texten aus der Gegenwartsuniversitätsliteratur vorgenommen.

Doch den Anstoß, sich eingehender Gedanken über das Verhältnis von Universität und Literaturkritik zu machen, bildet ein wissenschafts- und damit universitätspolitischer Skandal: „Nach eingehender Würdigung der gegen seine Dissertationsschrift erhobenen Vorwürfe stellt die Kommission fest, dass Herr Frhr. zu Guttenberg die Standards guter wissenschaftlicher Praxis evident grob verletzt und hierbei vorsätzlich getäuscht hat.“ Dieser Satz, in Stein gemeißelt und in aller wünschenswerter Klarheit formuliert, besiegelt von Seiten der Universität Bayreuth das Ende eines beispiellosen wissenschaftspolitischen Skandals, der für eine gewisse Zeit die bundesrepublikanische Öffentlichkeit beschäftigt hat.

Was geblieben zu sein scheint, ist die Aufmerksamkeit für Sache und Verfahren der Promotion, also die Aufmerksamkeit für einen universitären Kernprozess, der Teil des „proprium“ der Universität ist. Dieses „proprium“ aber scheint nicht nur teilweise, sondern gänzlich unbekannt in der Öffentlichkeit zu sein. Was macht eine Universität aus, wie stellt sie sich dar, wer arbeitet in ihr, welche Rituale nennt sie ihr Eigen? Diese relativ große Unbekanntheit der Universität ist umso erstaunlicher, als die Institution Universität – neben der katholischen Kirche – die langlebigste Institution der Menschheit ist.

Sie ist nicht nur eine der langlebigsten, sondern auch eine der erfolgreichsten. Man kann diese Erfolge ökonomisch beschreiben. So ist seit langem der Zusammenhang zwischen Bildungsabschluss und Einkommen bekannt. In entwickelten Ländern, die ein weit überdurchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen erzielen, lässt sich zeigen, dass hier 30 bis 45 Prozent der Einwohner über einen Hochschulabschluss verfügen. Und es ist jetzt schon absehbar, dass diese Zahlen noch steigen werden. Mithin ist die Geschichte der Universität auch eine Geschichte der steigenden Inklusion. Sie ist aber nicht nur erfolgreich, sondern auch eine der wenigen globalen Institutionen, die die Menschheit geschaffen hat. Überall auf der Welt gibt es Universitäten oder Institutionen, die sich so nennen.

Eigentlich also müsste der Universität – sowohl als Organisation als auch als Institution – große Aufmerksamkeit und Würdigung zuteil werden. Dem ist aber nicht so. Das von Martin Huber statuierte „Informationsdefizi[t] zwischen Gesellschaft, Politik und akademischer Bildungsinstitution“ kann aber von der Literatur behoben werden. Der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Institution (oder Organisation) Universität käme somit die Funktion der Universitätsvermittlung zu.

Überträgt man die von Thomas Anz entwickelten Grundfunktionen der Literaturkritik (Orientierung, Selektion, didaktisch-vermittelnd für das Publikum, didaktisch-sanktionierend für Literaturproduzenten, Stimulation der Reflexion und Kommunikation über Literatur, Unterhaltung) auf die Kritik der Universitätsliteratur, so tritt – bis auf die Unterhaltungsfunktion – relativ schnell Ernüchterung ein. Die Kritik der Universitätsliteratur dient der Orientierung in literarischen Genres wie Krimi oder Satire. Aus der relativ überschaubaren Zahl an die Universität thematisierenden Werken werden jene Werke selektiert, die entweder das Bedürfnis der Feuilletons nach Sensation oder fundamentaler Kritik an Bildungsinstitutionen befriedigen. Sanktionierend oder motivierend auf die Literaturproduktion wirkt die Kritik der Universitätsliteratur, weil beispielsweise in der Nachfolge von Dietrich Schwanitz‘ Der Campus, erstmals 1995 erschienen und 1997 von Sönke Wortmann verfilmt, eine ganze Reihe von sogenannten Campusromanen erschienen sind, die sich des Zugpferds „Campus“ bedienen. Der Campus ist hier Kulisse für Kriminalerzählungen oder Satiren. Beispiele für den Campus als Kulisse sind Silvia Bovenschens Wer weiß was. Eine deutliche Mordgeschichte (2009) oder Thea Dorns Berliner Aufklärung (1995). Beispiele für Satiren sind Jörg Uwe Sauers Uniklinik von 1999 oder Eckard Bodensteins Das Ernie-Prinzip. Ein Campusroman, ebenfalls aus dem Jahre 1999.

Die Stimulation der Kommunikation und Reflexion über Literatur anhand der Kritik von Universitätsliteratur erscheint nicht erfolgt zu sein. Dabei wäre doch gerade die Literatur über Universität eine Literatur, die mit literarischen Mitteln jene Probleme und Diskurse in den Blick nimmt, die von grundsätzlicher Art für die Zukunft des bundesrepublikanischen Gemeinwesens sein sollen: Bildung, der Zugang zu ihr, die Veränderungen in den gesellschaftlichen Rollen und Professionen und dergleichen mehr.

Die Literatur bzw. die durch Universitätsromane stimulierte Kommunikation könnte hier, in Ergänzung des bildungsinteressierten Feuilletons, so etwas wie Meinungsführerschaft erlangen und dem grundsätzlichen Desinteresse der Politik an Sache und Form der Bildung entgegentreten. Die Literatur über Universität könnte somit zur Literatur über eine Institution werden, durch deren Beschreibung sich eine Gesellschaft den Spiegel vorhält und – unter Vorbehalt – über Bilder von sich selbst Auskunft erteilt. Sie könnte die kulturelle Leistung und Funktion übernehmen, die die institutionelle Selbstbeschreibung der Schule für das Verständnis des wilhelminischen Zeitalters geleistet hat: In der Schule wird eine Gesellschaft mit ihren Mechanismen der Selektion, der Ausgrenzung und der autoritären Erziehung sichtbar.

Universitätsliteratur ist aber, und wir kommen zum letzten Punkt der Funktion von Literaturkritik, unterhaltsam. Sie bedient die Sehnsucht des (möglicherweise vorwiegend universitär sozialisierten) Publikums nach Sex, Crime und Intrige – also nach Dingen, die ganz normal sind und die an jeder Universität vorkommen. Die Literaturkritik freut sich an der unterhaltsamen Darstellung der universitätsinternen Kabale. „Weltneuheit: Ein lustiger Roman aus der Universität“ lautet der Untertitel einer Rezension aus literaturwissenschaftlicher Feder des Schwanitz’schen Campus, der 1995 herauskam, und für eine zeitweilige Blüte der Universitätsliteratur gesorgt hat.

Der Untertitel der Rezension spielt offensichtlich mit der Erwartung des Feuilletonpublikums. Eine lustige Geschichte aus einer erstarrten Universität, die einer der Inhaber der Planstelle für „Geist, Theorie und Lehrer“ der Sozialdemokratie, Peter Glotz als im „Kern verrottet“ bezeichnet hat. Sehr unterhaltsam für literaturtheoretisch informierte Leserinnen und Leser von David Lodges Kleiner Welt (dt. 1996) ist natürlich die Gestalt des Professors Siegfried von Turpitz, der überaus deutlich als Hans Robert Jauß erkennbar ist, der in Heidelberg eine „Tagung über Rezeptionsästhetik“ veranstaltet und als kriegsversehrter Veteran mit Offiziershabitus geschildert wird, der gerne schnelle BMW-Coupés fährt.

Literaturkritik ist dann relativ schnell beim Genre „Schlüsselroman“ angelangt. Universitätsliteratur befriedigt hier die Sehnsüchte des Boulevard und partizipiert so am Diskurs der Unterhaltung. So verdankt sich der Erfolg von Schwanitz nicht zuletzt der Erkennbarkeit der Universität Hamburg und ihres Personals. Jörg Uwe Sauer hat mit seiner Uniklinik sicherlich die Bekanntheit der damaligen Universität-Gesamthochschule Essen und des Personals des ehemaligen Fachbereichs drei für Sprach- und Literaturwissenschaften (insbesondere des Studiengangs Literatur- und Medienvermittlung) befördert, Urs Jaeggis Brandeis versetzt LeserInnen in die Bochumer Universität der endenden 1960er Jahre.

Die Frage aber ist, welchen Stellenwert unterhaltende Literatur über Universität im kulturellen System eigentlich hat. Es gibt keine Telenovela, in der universitäre ProtagonistInnen aufträten, es gibt auch keine Fernsehserie, in der die Universität den Stellenwert einer medizinischen Klink hätte, es ist darüber hinaus festzustellen, dass die Literatur, in der Universität und Universitäres eine Rolle spielt, nicht die Auflagezahl von, sagen wir, Arztromanen erreicht. Warum, so kann man fragen, erlaubt sich ein kulturelles System die Abwesenheit der Selbstverständigung über eine Institution, deren Erfolg und deren Langlebigkeit doch beispiellos sind? Warum also erlaubt sich der deutsche Literaturbetrieb die Ignoranz gegenüber einer Gattung, die in der anglo-amerikanischen Welt eine viel größere Rolle spielt? Möglicherweise hat dies mit zwei Entwicklungslinien der deutschen Literaturgeschichte zu tun, die hier nur angedeutet werden können.

Es lässt sich ersehen, dass das Interesse am Institutionellen der Universität – in einer langen Linie gesehen – gegenüber dem Interesse an universitären Bildungsprozessen immer zurückgetreten ist. Diese Entwicklung hat möglicherweise etwas mit dem Selbstverständnis der deutschen Universität zu tun. Die Universität ist eine Selbstbildungsinstitution, in der Subjekte sich selbst durch die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Gegenständen bilden. Das Institutionelle ist demgegenüber zu vernachlässigen. Ausdruck dessen wäre der universitäre Bildungsroman. Es kann daher vermutet werden, dass die Fokussierung auf Subjekte, subjektive Zustände, Bildungsgeschichten im Medium der Subjektivität etwas mit der Prädominanz der Gattung „Bildungsroman“ zu tun hat, die der literarischen Auseinandersetzung mit Universität die poetologischen Regeln vorgibt. Die Universität ist in diesem Paradigma Anlass und Raum eines erfolgreichen oder gescheiterten Bildungsprozesses, wohl aber nur selten kommt die Universität als Institution vor.

Dass es aber auch anders geht, zeigen drei Texte, die hier exemplarisch etwas ausführlicher besprochen werden soll: Oliver Uschmanns Voll beschäftigt aus dem Jahre 2005, Stephan Thomés Fliehkräfte aus dem Jahre 2012 und Aljoscha Brells Kress von 2016.

Zentrales Thema der Uschmannschen Universitätsprosa ist die Frage, wie man „Adorno-Experten zu Lokalredakteuren“ machen könne. Akteur dieser ambitionierten Re-Education ist das „Institut für Dequalifikation“. Geschäftsmodell des Instituts ist die Herstellung von Beschäftigungsbefähigung von überqualifizierten Universitätsabsolventen, also mithin Employability als qualification downgrading.

Eine Episode der Geschichte spielt an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum ist deswegen so gut gewählt, weil die Universität als eine der ersten Universitäten in Deutschland bereits 1993 das „Magister-Reformmodell“ einführte, eine Art Bolognareform in der Ruhr-Universität avant la lettre. Im Zuge dieser Umstrukturierung wurde relativ früh ein Veranstaltungstyp eingeführt, den es vorher so nicht als Veranstaltung der Fakultät für Philologie respektive des germanistischen Instituts gegeben hatte: Berufsfelder für Germanisten, in denen regelmäßig Alumni ihr Tätigkeitsfeld vorstellen, das häufig aber weit entfernt ist von germanistischen Lehrinhalten. Die Veranstaltung gibt es immer noch an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität.

Diese honorige Veranstaltung, die doch eigentlich den Studierenden einen arbeitsmarktpolitischen Sinn ihrer Beschäftigung mit der zweiten Lautverschiebung im Rahmen ihres Mediävistikstudiums vermitteln soll, indem auf fachübergreifende Kompetenzen abgestellt wird, wird im Text ins glatte Gegenteil verkehrt.

Uschmann nutzt die Darstellung dieser Veranstaltung, um durch seine Protagonisten Hartmut die Studierenden darauf hinzuweisen, dass in der sogenannten „Welt da draußen“ kein sinnerfülltes Tun auf sie wartet, sondern die Fron der Arbeit, an die Sinnfragen zu stellen sich verbietet.

Aber die meisten […] werden sich um ganz banale Jobs bewerben müssen. Und wenn ich banal sage, dann meine ich banal. […] Werbung, Kataloge, Schreibdienst. […] Für einige wird es sogar noch schlimmer kommen: Sekretariat, Promotion, Callcenter.

Und man lese Promotion bitte anglistisch, muss hinzugefügt werden.

In Hartmuts Institut geht es um die Kompetenzentwicklung, die – seit Bologna – unter anderem Aufgabe der Studiengänge ist. Nicht mehr nur fachliches Wissen steht im Vordergrund, sondern die Kompetenz in verschiedenen Bereichen. ByzantinistInnen müssen wahlweise in einer griechischen oder serbo-kroatischen Pommesbude Dienst tun, SinologInnen reüssieren als Tellerwäscher in einem China-Restaurant, SprachlehrforscherInnen werden Vertreter von Vorwerk-Staubsaugern, GermanistInnen werden in den „Schreibdienst“ von Anzeigenblättchen verfrachtet, MusikwissenschaftlerInnen werden zu UPS-Packern umerzogen. Man hört bei der Lektüre förmlich die IHK und die Arbeitgeberverbände jubeln: Endlich öffnen wir den Niedriglohnsektor für Geisteswissenschaftler_innen.

Uschmanns Text ironisiert auf unterhaltsame Art und Weise das immer zynischer wirkende Versprechen des ‚Aufstiegs durch Bildung’, das – wie wir seit 2011 durch Heinz Budes Bildungspanik und ganz aktuell nochmals durch Oliver Nachtweys Die Abstiegsgesellschaft wissen – ein Abstieg sein kann.

Helmut Hainbach ist Philosophieprofessor an der Universität Bonn. Die ‚Fliehkräfte’, die dem Roman Thomés den Titel geben, sind im Text von unterschiedlicher Art. Es sind die Fliehkräfte, die entstehen, wenn ein Leben nicht mehr in der Mitte ruht, sondern in Bewegung gerät. Im Mittelpunkt der Protagonistenexistenz steht bisher die Existenz als Universitätslehrer und Intellektueller.

Die Fliehkräfte des Bologna-Prozesses sind, neben anderen, dazu in der Lage, die Mitte der Protagonistenexistenz instabil werden zu lassen. Aus diesem Grunde überlegt Hartmut Hainbach, die Universität zu verlassen. „An Hartmuts Institut“, heißt es, „herrschten Hektik und Konfusion, weil die Einführung der neuen Studiengänge zwar seit langem feststand, aber niemand wusste, wie sie aussehen sollten.“ In der Planung der Studiengänge treffen die unterschiedlichen Professorentypen im Roman aufeinander. Da wäre zum einen Benedikt Herwegh, ein Professor vom alten Schlag, der „keine Angliszismen“ duldet und sich vehement „gegen den Ausdruck ‚workload’ im Modulplan Philosophie der Antike“ wehrt. Sein „Fillibuster“ führt dazu, den Bologna-Term durch „kalkulierter studentischer Arbeitsaufwand“ zu ersetzen.

Auf der Ebene des Textes wird durch eine neutrale Erzählinstanz die realistische Situation der Universitätsreform erzeugt. Es treffen hier die „Beharrungskräfte“ der Ordinarienuniversität mit den Fliehkräften des Bologna-Prozesses zusammen und ergeben so eine Spannung zwischen den Figuren Herwegh und Hainbach. Für die Differenz Beharrung / Flucht in Bezug auf die Universität steht die im Roman geschilderte Beziehung Hainbachs zu Bernhard Tauschner, einen ehemaligen Juniorprofessor, der aber der Universität Bonn den Rücken gekehrt und im Süden Frankreichs eine Bar eröffnet hat. Erst als Hainbach auf dem Weg zu ihm ist, fällt ihm auf, „wie grundlegend die Universitäten sich damals [zum Zeitpunkt des Tauschnerischen Exodus aus der Universität, MST] zu wandeln begannen“. Tauschner, für den die Universität „nicht länger der richtige Ort“ ist, kommentiert die Universität aus der Ferne:

Ich sage, es sind sterile Anstalten der Wissensvermittlung geworden. Handlichkeit, klare Disziplingrenzen, und jetzt das alberne Eins-zwei-drei der Module. Wie ein Setzkasten: schicke, kleine Teil, die ein hübsch anzusehendes Ganzes bilden. Aber kein Platz für sperrige Gedanken. […] Junge Leute fit machen für den Arbeitsmarkt, ohne mich.

Beiden Akteuren im Roman scheint die Mitte verloren gegangen zu sein, die notwendig ist, um die Fliehkräfte zu bannen: dem Protagonisten die Mitte seiner Existenz, der Universität die Mitte ihres Bildungsauftrags. Hainbach wird so gleichzeitig zum Einzelfall, der im Medium der individuellen Geschichte zu erzählen ist, und zum Allgemeinen der Universitätsmisere, die im Medium des Bologna-Prozesses zu erzählen ist.

Ein aktuelles Beispiel aus der Universitätsliteratur der Gegenwart ist Aljoscha Brells Kress. Mit Einschränkung kann man, hierin Manuel J. Hartungs Uniroman von 2007 nicht unähnlich, von einem Exemplar der Studentenliteratur sprechen. Während Hartungs Protagonist Markus noch sehr frisch an der Universität ist und sich erst durch Kontakt zu Verbindungs- und Fachschaftsstudenten allmählich an den studentischen Habitus anpasst und den universitären Wahnsinn treffend schildert, ist Brells Kress ein arrivierter Student, dessen Sicht der Universität und dessen Verhalten in universitären Situationen wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Kress ist ein Student, der sein Leben mit der von Erich Trunz besorgten Hamburger Ausgabe verbringt und ihn einer Hinterhof-Wohnung darüber nachdenkt, wie er „eine allseits bewunderte Geistesgröße“ werden könne. Natürlich trägt, wie die ersten Rezensionen des Brellschen Werks bereits herausgestellt haben, Kress auf eine gewisse Art und Weise Züge eines der berühmten Studenten der russischen Literatur: Raskolnikov aus Dostojewskis Schuld und Sühne. Hervorzuheben wären hier die Armut und der Drang nach einer moralisch entgrenzten Lebensweise.

Kress ist eine Karikatur. Als Karikatur des Studenten funktioniert er deshalb so gut, weil er entgegen der üblichen Opposition zwischen geniehaften Studenten und philiströsen Professoren philiströser auftritt als der geschilderte Dozent „Dr. Schleicher“, der, wie man deutlich sagen muss, Züge des Großgermanisten Hans-Jürgen Schings trägt. Die Zentraldifferenz der Studentenliteratur, zumindest der des langen 19. Jahrhunderts, wird von Brell umgekehrt und auf den Studenten angewandt. Nicht mehr der Professor ist der Philister, sondern der Student. Die Hauptfigur wird direkt als Philister eingeführt, wenn in der Anfangsszene Kress sich über ein nicht ganz korrektes abgestelltes Fahrrad echauffiert: „Als Kress an einem Morgen im Mai die Tür seiner Wohnung abschloss und die Treppe hinabschritt, stand, vor seinem Briefkasten, ein Fahrrad. Erbittert presste er die Lippen zusammen.“ Was folgt, ist eine Inszenierung des Philisterhaften: Hinweis auf die bürgerliche Ordnung, die durch die Hausordnung repräsentiert wird, der Wunsch, es dem Verursacher durch diverse Intrigen heimzuzahlen, um die Ordnung wiederherzustellen etc. Auch Brells Hinweis im germanistischen Hauptseminar „Es wird um Ruhe gebeten“ ist ein deutlicher Ausdruck seines philiströsen Charakters. Vollendet wird der philiströse Charakter Kress durch seine Abneigung gegen Unpünktlichkeit und seine elitäre Misanthropie.

Wie bei allen Philistern tritt dann Wandel ein, wenn die Liebe in ihr Leben tritt. So auch bei Kress, der sich in die Kommilitonin Madeleine Fischer verliebt, die für ihn unerreichbar bleibt, und dazu noch mit dem Protagonisten um die begehrte Position einer studentischen Hilfskraft bei Herrn Dr. Schleicher konkurriert. Kress wird studentischer Mitarbeiter in der Poststelle, die trotz oder gerade wegen der Dominanz elektronischer Kommunikation einer der zentralen Orte in der Universität ist. Die Leiterin der Poststelle, die permanent über zu wenig Personal für zu viel Arbeit klagt, und über dieser Klage permanent vergisst zu arbeiten, ist eine gelungene Karikatur von Verwaltungsexistenz an der Universität: Die Klage von Verwaltungsexistenzen an der Universität über zu viel Arbeit und zu hohe Belastung steigt umgekehrt proportional zur tatsächlichen Arbeit und der tatsächlichen Belastung. Der Roman verliert mit der Fokussierung auf Kress als Irrenden im Kriegsgebiet der Liebe den Blick für die Universität. Erzählerisch konsequent ist die Wendung sicherlich und dem Funktionieren des Romans als Studentenroman tut dies keinen Abbruch.

Festzuhalten bleibt, dass die Universitätsliteratur durchaus unterhaltsam sein kann. Weitere Überlegungen hätten sich Grundnarrativen der Universitätsdarstellung (entweder der Differenz Massenuniversität/Eliteuniversität) oder aber der Fragestellung zu widmen, als was die Universität heutzutage überhaupt noch adressierbar ist – als betriebswirtschaftliche geführte Organisation, deren Steuerungsparameter Effizienz, Austerität und Output die Differenz zu anderen Formen wirtschaftlicher Organisationen vergessen lassen soll (Ökonomisierung) oder als Institution, die durch Rituale und Riten sich stabilisiert. Da beide Logiken in der Wirklichkeit der Universität permanent aufeinandertreffen oder sich widersprechen, hat Niklas Luhmann die Universität als „organisierte Institution“ bezeichnet. Luhmann beschreibt das Verhältnis von Organisation und Institution in der Universität als „Kräfteverhältnis“, das unterschiedliche Folgen für das Selbstverständnis, die Kommunikationslogiken und Umweltbeziehungen (etwa zur Ministerialbürokratie) der Universität zeitigt. Für Luhmann scheint es eine gewisse Unausweichlichkeit der Organisationswerdung der Universität zu geben, die mit der gestärkten Rolle formaler Organisationen in der modernen Gesellschaft zu tun hat: „Wir müssen mit dieser Gesellschaft nicht zufrieden sein; aber wir können es nicht sein, wenn wir nicht lernen, mit Organisationen auszukommen und sie mit ihren eigenen Mitteln auszutricksen, wenn sich die Mühe lohnt.“

Bibliografie

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Bodenstein, Eckhard: Das Ernie-Prinzip. Ein Campus-Roman. Frankfurt: Eichborn 1999.

Bovenschen, Silvia. Wer weiß was. Eine deutliche Mordgeschichte. Frankfurt/M: S. Fischer, 2009.

Brell, Aljoscha: Kress. Berlin: Ullstein 2015.

Bude, Heinz: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Hanser 2011

Glotz, Peter: Im Kern verrottet? Stuttgart: DVA 1996

Hartung, Manuel J.: Der Uniroman. München: Piper 2007.

Huber, Martin: Wer erzählt die Universität? Warum wir deutsche Campusromane brauchen. In: Forschung und Lehre, 1/2012, S. 46.

Jaeggi, Urs: Brandeis. Luchterhand: Darmstadt-Neuwied 1978.

Jörg Uwe Sauer: Uniklinik. Salzburg, Wien: Residenz 1999. ISBN 3-7017-1135-6

Lodge, David: Kleine Welt. Eine akademische Romanze, aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Zürich: Haffmanns 1996.

Luhmann, Niklas: Die Universität als organisierte Institution. In: ders.: Universität als Milieu. Hg. v. André Kieserling. Bielefeld: Haux 1992, S. 90-100

Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp 2016.

Schwanitz, Dietrich: Der Campus, Frankfurt: Eichborn 1995

Thea Dorn „Berliner Aufklärung“. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995.

Thomé, Stephan: Fliehkräfte. Berlin: Suhrkamp 2012.

Uschmann, Oliver: Voll beschäftigt. Ein Hartmut-und-ich-Roman. Frankfurt/M.: S.Fischer 2005.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen