In den Schicksalsverwaltungszentren der Peripherie

Über Shumona Sinhas Flüchtlingsroman „Erschlagt die Armen!“

Von Anna-Katharina RiesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Katharina Ries

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stellen wir einmal die These auf, dass zwischen Orten und den sich an ihnen befindenden Gebäuden häufig eine gewisse funktionale Ähnlichkeit besteht – man denke an die großen Einkaufszentren am Rande der Stadt auf den so genannten „grünen Wiesen“, die in der Regel nur noch wenig „Grün“, dafür aber eine Menge Raum für Konsum bieten, oder an die kleinen Cafés in den verwinkelten Altstadt-Gassen in den Stadtzentren –, so verwundert es nicht, dass die „blickdichte[n], halb durchsichtige[n]“ und durchfunktionalisierten Bürogebäude, in denen die Entscheidungen über die in den letzten Jahren zahlenmäßig deutlich angestiegenen Anträge von Asylsuchenden getroffen werden, meist in den tristen Randzonen der (Groß)Stadt zu finden sind, in den „noch im Bau befindlichen oder schon aufgegeben Viertel[n]“. Abgesehen von der (nicht belegbaren und womöglich gar als böswillig zu interpretierenden) Unterstellung, dass die Zentren der Städte freigehalten werden sollen von den „Fremden“, bietet die Peripherie mitsamt dieser Nicht-Orten ähnelnden Büros einfach genug Platz, um losgelöst von jedweder kulturell aufgeladenen Geschichte die zahlreichen Geschichten derjenigen zu verhandeln, die neu im Land ankommen. Geschichten, die davon erzählen, was Menschen, deren Gepäck sich anders als bei Touristen nicht an der kostenfreien Gepäckobergrenze der Fluggesellschaften bemisst, sondern an der Menge, die sie über Tage oder Monate über Land- und Meergrenzen hinweg am Leib tragen können, aus ihren Ländern fliehen lässt: Krieg und Verfolgung. Wovon die Geschichten jedoch häufig nicht erzählen, ist ihr Wunsch nach einem besseren Leben im (globalen) Norden, nach einem Leben, wie es die Menschen aus dem (globalen) Süden aus dem Fernsehen und dem Internet (zu) kennen (glauben).

Von diesen Geschichten und Nicht-Geschichten, von den (Nicht-)Orten, an denen sie erzählt, erfunden und verschwiegen werden und von den Menschen, die sie erzählen, von jenen, die in diesem Stimmengewirr übersetzen und wieder anderen, die entscheiden, davon handelt Shumona Sinhas bereits 2011 in Frankreich veröffentlichter und 2015 in deutscher Übersetzung von Lena Müller erschienener Roman Erschlagt die Armen! (Assommons les pauvres!). In diesem Jahr, genauer gesagt am 25. Juni 2016, wurde der Roman mit dem 8. Internationalen Literaturpreis für übersetzte Gegenwartsliteraturen des Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit der Stiftung Elementarteilchen in Berlin ausgezeichnet. Die Jury lobte nicht nur die zeitdiagnostische Kraft von Sinhas Roman, sondern gleichermaßen die „wütende[.] wie poetische[.] und präzise[.] Suada“, den unbändigen in Form eines Monologs auf die Lesenden einprasselnden Wortschwall, der weder an ihnen abprallt, noch an ihnen abgleitet, sondern sich in sie eingräbt mit den sprachlichen „Widerhaken“ der „Sprachgymnastik“, die die Erzählerin vollführt, wenn sie zwischen der „Ghetto-Sprache“ der Antragsteller und der „verglasten“ Bürokratensprache der Entscheider übersetzt. Ihre Übertragung der sprachlichen Bilder in die, wie Lena Müller im Gespräch mit der Rezensentin erklärt, für das Kitschige anfällige deutsche Sprache war ohne Zweifel kein leichtes Unterfangen, das jedoch preiswürdig von ihr gemeistert wurde. Nicht zuletzt ist es Müllers Faszination für dieses unbändige und häufig schonungslose Stück Prosa zu verdanken, dass der Roman überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde, war sie es doch, die auf eigene Faust einen Verlag suchte. Sie fand ihn schließlich mit dem Nautilus Verlag, der sich dem nicht immer ganz unprovokanten Text trotz der durch die große Zahl neu ankommender geflüchteter Menschen medial aufgeheizten Debatte im Jahr 2015 gewachsen fühlte.

Um nun noch einmal auf die (literarischen) Orte zurückzukommen, so zeichnet sich der Roman dadurch aus, dass er zwar nicht ortslos, die Handlung dennoch geografisch nicht so einfach zu verorten ist – insbesondere dann nicht, wenn man weiß, dass die aus Indien stammende Shumona Sinha seit 2001 in Paris lebt und dort wie ihre ebenfalls vom indischen Subkontinent kommende Erzählerin in der Pariser Vorstadt Fontenay-sous-Bois vor einigen Jahren selbst in der französischen Asylbehörde OFPRA, dem Office de Protection des réfugiés et des apatrides, als Dolmetscherin für die aus Bangladesch stammenden Asylbewerber gearbeitet hat. Die autobiografische Lesart liegt nahe und passt zum geopolitischen Urbanismus der Stadt Paris, der bewirkt, dass mit der Entfernung vom Zentrum – wahlweise durch den Tour Eiffel, Notre-Dame oder Sacré Coeur symbolisiert – die Wahrscheinlichkeit steigt, soziale Randfiguren in ihren Verwaltungszentren anzutreffen. So scheint diese Lesart trotz des Fehlens jeglicher Identifikationsmarker sogar derart nahegelegen zu haben, dass Sinha nach Veröffentlichung des Romans ihre Arbeit bei der Asylbehörde verlor – eine für die Autorin mit Blick auf ihren Erfolg sicherlich verschmerzbare, für ihren ehemaligen Arbeitgeber womöglich im Nachhinein zumindest überdenkenswerte Entscheidung. Nun ist es aber auch möglich, sich von dieser auf die Autorperson bezogenen Lesart zu verabschieden und sich auf die Erzählerin als fiktive Figur zu konzentrieren. Nachdem die Erzählung in medias res mit ihrer Verhaftung eingesetzt hat, berichtet diese dem für die Aufklärung der von ihr begangenen Tat zuständigen Polizeibeamten, einem Herrn K., von den (Nicht-)Geschichten, die sich während ihrer täglichen Arbeit als Übersetzerin derart in ihr verhakt zu haben scheinen, dass sie letztlich – man kann es zumindest als deutsche Leserin für einen durchaus ironischen Kniff einer franko-indischen Autorin halten – zur Rotweinflasche greift und ihre Wut und Verzweiflung nicht im Alkohol ertränkt, sondern mithilfe dieser im völlig nüchternen (und ernüchterten) Zustand einem Migranten in der U-Bahn den Kopf einschlägt. Wie es dem Mann, der sie zuvor tiradenhaft ob ihrer vermeintlichen Mitschuld an der Nichtbewilligung seines Asylantrags beschuldigt hat, anschließend geht, bleibt offen. Anders als der vom lyrischen Ich ebenfalls physisch und ohne sich unmittelbar erschließenden Grund zugerichtete Bettler in dem Prosagedicht von Charles Baudelaire, das den Titel für Sinhas Roman liefert, setzt sich der niedergeschlagene Migrant jedoch nicht zur Wehr. So bleibt dem Asylbewerber die Intention des Baudelaireʼschen lyrischen Ich, dem Bettler seinen Stolz und seine Ehre wiederzugeben, schließlich verwehrt. Den Neuankömmlingen ihre Würde zurückzugeben ist in einem entwürdigenden System eben nicht so einfach, da hilft nicht einmal physische Gewalt.

Doch was genau treibt nun die Erzählerin zu einem solchen Gewaltakt, wie er sich, wenn auch vielleicht nicht mit der Rotweinflasche, so doch in anderer übergriffiger Form auf den Straßen, in den U-Bahnen und den Asylbewerberheimen vieler deutscher und auch vermutlich französischer Städte in den letzten Jahren (zu) häufig ereignet hat und traurigerweise wohl auch noch mehrmals ereignen wird? Ihr eine fremdenfeindliche Motivation zu unterstellen wäre zu kurz gegriffen, wenngleich manche Aussagen kontextlos sicherlich so gedeutet werden könnten, wenn die Erzählerin angesichts der sich in der „Lügenfabrik“ wiederholenden immer gleichen Geschichten von Zugehörigkeiten zur falschen Partei oder Religion, Vergewaltigungen und Zwangsehen, die die MigrantInnen in der Hoffnung auf Asyl und in dem Wissen um die Enge des dazugehörigen Gesetzes, erfinden, resümiert: „In meinen Augen rechtfertigte ihr Leid nicht ihre Ungeschicklichkeit und ihre Lügen, ihre Aggressionen und ihre Mittelmäßigkeit“. Dass die Menschen leiden, ganz gleich ob nun unter physischer, ökonomischer oder ökologischer Gewalt, steht auch für die Erzählerin außer Frage. Das, was sie jedoch nicht erträgt, ist die intellektuelle und kulturelle Armut vieler MigrantInnen, die nicht selten Resultat aus den vorangegangenen Gewalten ist, ihr naiver Glaube an ein besseres Leben in einem Europa, das sie entweder bereits an seinen Grenzen im Mittelmeer ertrinken oder in Lastwagen ersticken lässt, oder aber im Zielland angekommen, in einer Art neokolonialem System in den „Mikroökonomien der Großstadt“ gerade so überleben lässt, wie es der „Parasit am Körper des Wirts“ tut. Ihre Anklage richtet sich somit nur vordergründig an diejenigen, die sich aus der Not heraus aufmachen, um hier ein besseres Leben zu finden, an die „Wirtschaftsflüchtlinge“, wie wir sie hierzulande in abgekühltem Behördendeutsch nennen, sondern an diejenigen, die Profit daraus ziehen. Nicht selten sind dies diejenigen, die aus eben derselben Misere geflohen sind, aber auch die PolitikerInnen, die dieses System der gewollten Unsichtbarkeit aufrechterhalten, indem sie die Büros und Gerichte aus dem Stadtinnern hinausverlagern und Menschen mit der Beurteilung des Schicksals der Neuankömmlinge beauftragen, die eine Viertelstunde brauchen, bis sie das Herkunftsland der AntragstellerInnen auf der Karte gefunden haben.

Was neben der wortgewaltigen, teilweise poetisch anmutenden Sprache, die sich selbst ob ihrer Repräsentationsmacht hinterfragt, wenn sie von „Chamäleonwörtern“ oder „einer Spiegelwand aus Wörtern“ spricht, Sinhas größten Verdienst darstellt, ist, dass sie nicht nur das Leiden der Geflüchteten ins Bewusstsein ruft, sondern das Augenmerk gerade auch auf diejenigen richtet, die dieses mehr schlecht als recht funktionierende Schicksalsverwaltungssystem am Leben halten: Die ÜbersetzerInnen und EntscheiderInnen, die RichterInnen und AmtsärztInnen. Dabei kommt der Dolmetscherin in gewisser Weise die größte Macht und zugleich die prekärste Stellung zu: In ihrer Funktion als „Bindestrich“ zwischen den AntragstellerInnen und den EntscheiderInnen, die die übersetzten Geschichten brav in ein durch das Asylgesetz vorgefertigtes Schema eintippen, sitzt sie im wahrsten Sinne des Wortes zwischen allen Stühlen. Misstraut ihr die eine Seite im Verdacht ethnischer Solidarität und damit nicht wahrheitsgetreuer Übersetzungen, verlangt die andere Seite ebendiesen verbrüdernden Akt in Form angepasster Wahrheiten. Um dazwischen nicht aufgerieben und zum Handlager der einen oder anderen Seite zu werden, zieht die Erzählerin die Konsequenz, möglichst wortgetreu zu übersetzen. Da Wahrheit und Lüge jedoch nie trennscharf voneinander unterschieden werden können und der Bindestrich eben nicht nur ein Zeichen, sondern selbst ein Zeichengeflecht aus Identität, Geschichte, Herkunft ist, ist auch dieser Weg zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, bietet er doch noch nicht einmal das wohlige Gefühl des vermeintlichen Solidaritätsakts. Ebenso wenig schützt er vor den Stimmen und Gesichtern, die die Erzählerin des Nachts in ihrer leeren Wohnung, als sei kein Platz für Möbel und Leben neben dieser Tätigkeit, heimsuchen.

Die große Stärke des Romans liegt neben der Wirkmacht seiner Sprache eben genau darin, diesem Stimmengewirr kein Gesicht zu geben. Zwar begegnen wir in der Erzählung verschiedenen Gestalten wie dem leicht machohaften und verblüffend ehrlichen jungen Robin Hood, der in der Vorstadt in einer aufgesägten Tonne Esskastanien röstet, oder aber der versklavten, missbrauchten und verbrannten Glyzinien-Frau, die die Erzählerin wenn nicht zu einer ethnischen, so doch in gewisser Weise zu einer weiblichen Solidarität bewegt. Allerdings bleiben all diese Figuren letzten Endes Stellvertreter, Platzhalter für die endlosen Geschichten und Identitäten, die tagein, tagaus in den Randgebieten unserer Städte aufeinandertreffen.

Titelbild

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Lena Müller.
Edition Nautilus, Hamburg 2015.
127 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783894018207

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