Europa im Spiegel der Liebe

Bernhard Rathmayr zeigt, wie die europäische Auffassung von zwischenmenschlicher Liebe und Geschlechterverhältnissen den Kontinent prägt

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liebe ist die stärkste Zuneigung, die man einem anderen Menschen gegenüber aufbringen kann. Ein Gefühl, das uns übermannt, beherrscht und vollkommen in seinen Besitz nehmen kann. Diese mächtige Kraft sichert uns das Überleben und kann es ebenso gefährden. Ob zwischen Mann und Frau oder gleichgeschlechtlich: Die menschliche Kultur ist voll von Geschichten über und von der Liebe.

Bernhard Rathmayr, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck, hat viele von ihnen gesammelt – und beschreibt in seiner Studie Geschichte der Liebe: Wandlungen der Geschlechterbeziehungen in der abendländischen Kultur mit ihrer Hilfe unterschiedliche Typen von Liebe, die die Geschichte Europas mitbestimmt haben. Die Entstehung und der Wandel der Liebe, beziehungsweise der zwischenmenschlichen Liebesbeziehungen und Geschlechterverhältnisse über die Jahrhunderte hinweg steht im Mittelpunkt dieses Buches. Rathmayrs Ziel ist es, „die grundlegenden Konzeptionen herauszuarbeiten, die die Liebesverhältnisse in den abendländischen Gesellschaften im Laufe der Geschichte angenommen haben, ihre Anfänge, ihre Aufeinanderfolge, ihre Oppositionen und Interferenzen und – nicht zuletzt – die Spuren und Narben, die sie in der Gegenwart hinterlassen.“ 



Dabei identifiziert der Autor zwei Säulen, auf denen sich die Architektur der Liebe stützt: die genealogische Liebe, die auf den Fortbestand der Dynastien und Familien ausgerichtet ist, und die romantische Liebe, die die Intensität der Beziehung in den Vordergrund stellt. Rathmayrs Untersuchung beginnt im Mittelalter und endet im Hier und Jetzt. Alles, was er in dieser Zeit an Ausprägungen von Liebe beschreibt, versteht er als Variation dieser zwei Säulen, die von Religion, Moralvorstellungen und Gewohnheiten modelliert wurden und noch immer werden. Mit präziser und verständlicher Sprache führt er durch die Jahrhunderte. Interessant wird es vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, wenn es zu großen Neuerungen kommt: Frauen fordern leidenschaftliche Liebe ein, setzen in feministischen und sexualreformerischen Bewegungen ihr Recht auf Erotik durch – und beenden letzlich die Herrschaft der Männer auf diesem Gebiet. In der Gegenwart beobachtet Rathmayr ein „Babylon der Liebe“: Die genealogische Liebe ist durch Singles und Monogamien und Kinderlosigkeit bedroht, die romantische Liebe sieht er in Traumwelten medialer Inszenierungen abgewandert. Was bleibt, ist die Suche des Individuums nach Bestätigung durch den beziehungsweise die Andere(n). Rathmayrs Verortung im Hier und Jetzt unterstreicht er durch Verweis auf zahlreiche Artikel aus populären Medienquellen. 


Rathmayr sieht in der Wahl des Begriffs Liebe auch ein Programm: „die Liebe aus der Umklammerung zu befreien, in die sie durch die Verabsolutierung des romantischen Prinzips geraten ist, und sie zu öffnen für alle Traditionen und Sensationen, die es bereits gab und die es noch geben wird.“

Auf den über 300 Seiten seines Buches erweist sich Rathmayr als weiser und unterhaltsamer Erzähler sowie als mutiger Denker. Sein inhaltlicher Ansatz ist eine Bereicherung für die Geschichtsschreibung und ein erfrischender Perspektivwechsel. Zum Lesevergnügen tragen auch die rund 20 Abbildungen aus der europäischen Kunstgeschichte bei.

Titelbild

Bernhard Rathmayr: Geschichte der Liebe. Wandlungen der Geschlechterbeziehungen in der abendländischen Kultur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
317 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560394

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