Auf den Spuren des Spürhunds

Maria Fleischhack taucht in „Die Welt des Sherlock Holmes“ ein

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach allem, was wir über Sherlock Holmes wissen, muss der große Detektiv ein fabelhafter Ignorant gewesen sein – lückenhaft gebildet und zum Teil sehr desinteressiert an tagesaktueller Politik. Holmes hätte vermutlich mit den Schultern gezuckt und darauf verwiesen, dass man nicht alles im Kopf haben muss – sondern in erster Linie wissen sollte, wo man sich weiterbilden kann, wenn es die Situation erfordert. Maria Fleischhacks Einführung in Die Welt des Sherlock Holmes ist vor diesem Hintergrund ein dem Gegenstand adäquates – um mit Holmes zu sprechen: elementares – Buch, der Enthusiasmus der Autorin für ihr Thema spürbar und das versammelte Wissen über Conan Doyles Erzähluniversum imposant. Sicher werden auch Holmes-Enthusiasten hier noch Neues erfahren – nur wenige dürften über japanische Holmes-Adaptionen oder über Arthur Conan Doyles spiritistisches Interesse Bescheid wissen oder gar vom legendären Misserfolg des großen Kino-Holmes Basil Rathbone gehört haben, dessen Theaterversion des Stoffs 1953 nach nur drei Vorstellungen wieder vom Spielplan verschwand. Besonders die letzten beiden Kapitel des Buchs bergen reichlich Wissenswertes aus der multimedialen Karriere des Sherlock Holmes und verraten eingehende Beschäftigung mit dem Gegenstand.

Die Passion für die Ära Holmes deutet sich auch in der Wahl des Mediums an – anno 2016 ist das Projekt, auf fast 300 Seiten grundlegende Informationen über die Genese des Detektivs, seine größten Fälle, sein mediales Nachleben und das Leben seines Schöpfers zu versammeln, schon beinah verdächtig analog. Wer ernstlich der Meinung ist, dass zum Beispiel knapp 80 Seiten Inhaltsnacherzählung aller 60 Holmes-Fälle zwischen zwei Buchdeckel gehören (und nicht beispielsweise bei Wikipedia besser aufgehoben wären, wo es zudem elaboriertere Möglichkeiten der Verlinkung verwandter Themen und Artikel gibt), für den gehört wahrscheinlich auch Downton Abbey schon ins Reich der Science-Fiction. Man sollte das im Internet bereitgestellte Wissen nicht automatisch für überlegen halten, nur weil es auf dem aktuelleren Stand ist, aber gerade in Konkurrenz mit ernstzunehmenden digitalen Nachschlagewerken gibt es für ein solches Buch wenig zu gewinnen, ist es doch beispielsweise als Zusammenstellung von Holmesʼ Adaptionsgeschichte noch vor der Drucklegung fast zwangsläufig schon wieder veraltet. Kaum ein halbes Jahr nach der Publikation hat sich etwa die Ankündigung der nächsten Sherlock-Staffel für Anfang 2016 bereits als falsch erwiesen, und der Wille zur Aktualität ist dem Buch auf den letzten Metern des Lektorats ebenfalls nicht bekommen. Wird an einer Stelle davon gesprochen, dass William Gillettes wiederentdeckter Holmes-Stummfilm von 1916 „derzeit restauriert“ werde, verkündet bereits der nächste Satz, der fertig restaurierte Film sei „im Januar 1915 [sic!] […] erstmals wieder gezeigt“ worden. Dass der Index des Buchs Werktitel, die mit bestimmtem Artikel beginnen, unter dem Buchstaben D einsortiert, taugt auch nicht gerade, um den enzyklopädischen Wert des Buchs zu belegen.

Wer als Holmes-Novize noch nie vom Edinburgher Medizinprofessor Joseph Bell (dem brillant kombinierenden Vorbild für Holmes), vom Strand-Magazin oder vom Hund von Baskerville gehört hat, wird hier insgesamt ordentlich bedient, wiewohl ab und an die Genauigkeit fehlt: Conan Doyles Zeitgenosse Oscar Wilde wird zum „Oskar“ teutonisiert, Christopher Lee an einer Stelle mit seinem Kollegen Peter Cushing verwechselt, und der mit Holmes-Referenzen arbeitende Bestseller-Autor Mark Haddon in Fließtext und Index als „Mark Haddock“ ausgewiesen (angesichts der fischigen Bedeutung des Worts im Englischen vielleicht ein red herring?). Wer das Englische beherrscht, wird da beispielsweise im Sherlock Holmes Handbook von Christopher Redmond (in der aktuellsten Auflage von 2009) akkurater bedient.

Angenehmerweise verheddert sich Fleischhack weder in der kryptischen Prosa, die (nicht ganz zu Unrecht) Autoren mit universitärem Hintergrund häufig nachgesagt wird, noch in der Hermetik ihrer eigenen Gedankengänge. Gelegentlich verrät sich der anglistische Hintergrund der Verfasserin in eigentümlicher Wortwahl sowie einem nach Übersetzung aus dem Englischen klingenden Nominalstil; ein wenig verkrampft kommt auch der journalistische Synonymzwang daher: dutzende Male wird aus Holmes hier der „Meisterdetektiv“, so wie die Sportreporter einst aus Boris Becker in jedem zweiten Satz den „Leimener“ machten. Ins Niemandsland zwischen stilistischer und argumentativer Schwäche fallen auch die im Buch gehäuft vorkommenden Füllsel und Binsenweisheiten: Die Geschichte Die Beryll-Krone „zeigt Sherlock Holmes in seinem Element“, Holmes fällt wiederholt durch „seine ausgezeichnete Beobachtungsgabe“ auf und der Roman Der Hund der Baskervilles zeichnet sich „durch seinen Spannungsbogen aus“. „No shit, Sherlock!“, denkt da der Phrasen-Allergiker. Anstelle einer schlüssigen Conclusio erfährt man mehrfach, „der Weg“ (welcher Weg?) führe „immer wieder zu den Originalgeschichten zurück“, in fast schon biedermeierlicher Behaglichkeit wird Holmesʼ gigantischer Erfolg seiner Eignung als „Gegenentwurf zur Hektik des 20. und 21. Jahrhunderts“ zugeschrieben, die Popularität des Genres dagegen dem „Wunsch des Lesers, das Rätsel selbst zu lösen und die falschen Fährten ohne Hilfe des Detektivs zu erkennen“. Warum das Publikum dann aber über 60 Geschichten hinweg freudig akzeptiert, permanent von einem Übermenschen überflügelt zu werden, ist ein Geheimnis, das noch seiner detektivischen Aufklärung harrt.

Nicht nur deswegen dürften sich fortgeschrittene Sherlockianer ein wenig unterfordert fühlen, zumal die spannenden Themen der Holmes-Forschung größtenteils ausgespart bleiben. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass das Buch keine mit analytischem Tiefenblick vorgehende wissenschaftliche Auseinandersetzung liefern möchte, verwundert es doch, wie wenig hier an der Autorität Conan Doyles gerüttelt wird: kein kritisches Wort über die unverhohlene Xenophobie der Geschichten, ihre queeren Subtexte oder gar die problematischen Aspekte der Figur Holmes. Seine Drogensucht wird unter Berufung auf die Familie Conan Doyle (die solchen Lesarten nicht zustimmt) nivelliert und Holmesʼ Methode durchweg irreführend als „auf Logik beruhende“ Deduktion bezeichnet, so wie sie Conan Doyle in den Geschichten zusammenfantasiert – informative und lesenswerte Studien wie Carlo Ginzburgs erst 2011 neu aufgelegte Spurensicherung oder Nora Hannah Kesslers Untersuchung Dem Spurenlesen auf der Spur (2012) haben das Verfahren längst treffender als spekulative Abduktion charakterisiert, die in Wahrheit sehr wenig mit Logik zu tun hat. In den Augen enthusiastischer Holmes-Anhänger, die sich ganz seiner Unfehlbarkeit verschrieben haben, mag dies freilich auch für das Buch sprechen – vor allem ihnen (und denen, die sich gern zu Holmes-Fans weiterbilden möchten) sei das Buch denn auch als ein informativer Querschnitt durch die Welt des Sherlock Holmes ans Herz gelegt.

Titelbild

Maria Fleischhack: Die Welt des Sherlock Holmes.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2015.
287 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783650400314

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch