Streifzüge durchs (kollektive) Vergessen

Thomas Böhme zeigt, wie persönlich und politisch zeitgenössische Lyrik sein kann

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Leipziger Schriftsteller Thomas Böhme publiziert seit über 30 Jahren Gedichtbände, Erzählungen und Kurzromane, zuerst im Aufbau Verlag, dem legendären Literaturverlag der DDR, seit dem Mauerfall meist in kleinen Leipziger und Berliner Verlagen. Seine Lyrik ist eigenwillig, nicht „sperrig“ im experimentell-avantgardistischen Sinne, dafür ist sie zu konkret, zu realistisch, zu politisch, persönlich und philosophisch. Doch man spürt sofort: Hier schreibt und „dichtet“ einer, dem es nicht um schöne Worte geht, einer, dessen „lyrische Hausapotheke“ kein „Tüchlein mit Häkelkante“ enthält, wenn er beispielsweise über den Tod durch Ersticken spricht.

Dabei ist Böhme durchaus wortverliebt und wortverspielt, immer wieder werden Preziosen, auch fachsprachliche oder archaische Wortschätze gehoben und mit Bedacht oder provozierendem Witz mitten ins zeitgenössisch-alltägliche Wortgetümmel geschickt: „Faulschlamm“, „Kimmung“, „Schindanger“, „Clavichord“, „ausflockendes“ Blut, „versottete Bälge“, „Gaskandelaber“, „Mietdroschke“, „Störschneider“ und so weiter. Auch beim lyrischen Personal begegnen sich alte und neue Welten. Gestalten des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Raabe, Kasper Hauser, Arthur Rimbaud und Louise von Preußen treffen auf Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wie August Stramm, Else Lasker-Schüler, Knut Hamsun und den unheimlichen „Doktor Benn“, aber auch auf Zeitgenossen wie Wolfgang Hilbig, Wolfgang Koeppen oder Patty Smith. Solche vielschichtigen historischen Anklänge erzeugen einen Resonanzraum, der ganz unterschiedliche Tonlagen zulässt: Gedenken, Nachrufe, Anklagen, Trauer, dazwischen Anspielungen an Märchen, surreale Metamorphosen von Tieren und Menschen, fantastische Koppelungen zwischen Zeiten und Welten, die – am Ende des Bandes – auch ganz konkrete Reiseeindrücke aus Paris, Wien, Lissabon, Griechenland, Italien und dem Tessin wiedergeben.

Der Band mit dem anspielungsreichen Titel „Abdruck im Niemandswo“ umfasst Gedichte, die zwischen 2006 und 2015 entstanden sind. Er ist unterteilt in acht thematisch beziehungsweise motivisch homogene Kapitel. Es beginnt mit den „entfärbten“ Landschaften des Ostens, den Industrieruinen und verwahrlosten Schutthalden der ,abgewickelten‘ DDR. Doch Böhme gibt hier keine naturalistische Beschreibung der Ödfelder des einstigen Braunkohle-Tagebaus; im „kartenlosen Raum“ am „Ende der Welt“ sitzen nämlich die alten Geister der Unterwelt: Erlkönige, Menschenfresser, Kobolde und böse Zwerge, Zerberus und Orpheus. Sie alle geleiten den Wanderer als fantastische „Cicerones“ durch die Ödnis des „Niemandswo“ und verweilen dabei immer wieder bei einer ganzen Versammlung an zoologischer Mythologie. In Böhmes „Niemandswo“ wird die Natur selbst zum Mythos, zum Sinnbild einer geisterhaften Vergangenheit: Schwäne, Krähen, Tauben, Pinguine, Kuckucke, Spechte, Feldmäuse, Frösche, Füchse, Igel, Greife, Fledermäuse, Eichhörnchen, Elche und Schlangen, Stierfische und Flamingos, Hähne und Wölfe durchziehen wie magische Zeichen den „preußischblauen Himmel“ oder das im Lichte der Romantik schimmernde „Totholz“. Unterstrichen werden diese Streifzüge – diskret und stets funktional – von klaren rhythmischen und metrischen, bisweilen sogar gereimten Einheiten, die sich durchaus als Verse und Strophen im klassischen Sinne zu erkennen geben. Dass keine dieser Anspielungen pompös oder aufgesetzt wirkt, dafür sorgt die leise Melancholie dieser durch und durch nachdenklichen, dabei ganz unprätentiösen Lyrik.

Bei allen acht Gängen geht es Böhme um die Erkundung einer Art Gegenwelt. Während die „Reality-Shows“ des Mainstream-Alltags den Zurückgebliebenen, das heißt all den „Idioten“, die einen täglich „mit Lichthupe überholen“, nichts als „einen Sommer mit Fußballgöttern“ auf „verfurzten Kanapees“ verheißen, verirrt sich der „Namenlose“ (und mit ihm die Leserin) im Labyrinth der „alten Wörter“ und Böhmes sehr persönlichen Geschichten. Dass man auf dieser Odysee im „Niemandswo“ nicht verloren geht, liegt an der klaren Perspektivierung und Struktur der Gedichte, die auch vor handfester Semantik nicht zurückschrecken.

Böhme ist ein dichtender Archäologe. Unter seinem forschenden Blick öffnet sich der „blank geteerte Todesstreifen“, offenbaren die „gefälschten Gärten“ und „Sperrzonen“ ihre dystopische Wahrheit, zeigen, wo sich „sintemalen“ die Schrecken der Geschichte ereigneten. Um Geschichte im historischen und sozialen Sinne geht es auch, wenn er im zweiten Kapitel sein inneres Kind durch den „Brunnenschacht“ des kollektiven Gedächtnisses schickt. Hier, in den mit ironischer Distanz „Erinnerungsimplantate“ genannten Kindheitsszenen aus den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts eröffnet sich ein ganzes zeitgeschichtliches Panorama. Dazu gehören Petticoat und Charly Parker, der französische Existenzialismus genauso wie der hässliche Blockwart, die Propagandablasen aus den Lautsprechern und das Geflüster über Republikflucht. Was im ersten Kapitel die landschaftliche Ödnis ist, ist hier die kindliche Langeweile, der kleinbürgerliche Mief von „Krautsuppe“, „Rasierseife“ und „schwammigem Fleisch“. Rettung verspricht allein die Welt der Phantasie, wenn sich das Kind mit „Jakob und Wilhelm“ in deren Märchenwald verläuft.

Besonders scharf wird die archäologische Inspizierung im vierten Kapitel. Die hier inszenierte „Öffnung der Almanache“ schaut furchtlos in die Fratzen der Ideologie. Hier hat die Unterwelt politische Bedeutung: Atlantis, Vineta und Thule, die Traumpaläste des Mythus’ des 20. Jahrhunderts öffnen ihre Tore und zeigen das Grauen des Faschismus: als Wirtshausgemütlichkeit, in der Schuberts „Lindenbaum“ vom „Lied von der Reblaus“ übertönt wird, als Bericht von der Front, als Rauch aus den Krematorien, als „Verzeihkabinett“ vor „falschen Richtern“. Böhme geht diesen „Blutspuren in verschlungenen Parabeln“ nach. Alle Gedichte dieses Kapitels drehen sich um Kriegsschuld, Vergessen und (gestundete) Sühne. Die ungestraften Verbrechen des deutschen und italienischen Faschismus’ erscheinen in starken, zum Teil an Filmklassiker wie Luchino Viscontis „Die Verdammten“ angelehnten Bildern. Bisweilen gerät die Metaphorik hier allerdings ein wenig zu pompös, beispielsweise wenn von „abgewelkten Gesichtern“ die Rede ist, „über Händen, die nackt aus der Erde ragen / wie böse Wurzeln, an denen Kristalle verglühen.“ Da hätte man sich einen stilleren Ton gewünscht, der die Empörung und das Entsetzen nicht allzu sehr ans Getöse der Sprache ausliefert.

Doch insgesamt beherrscht Böhme die Kunst der sparsamen, stets treffenden und gedanklich klaren Metapher: Sprachbilder wie „Steine mit Greisengesichtern“, „Äpfel dampfen auf Messer Schneiden“ oder: „Aber wunderbar sind die Glocken / die das Sterben auspendeln lassen“ sind gewiss außergewöhnlich plastische und anschauliche Trouvaillen. Zugleich ist Böhme aber auch ein Meister des surrealen Nonsense, beispielsweise, wenn er in „Ins Netz“ davon berichtet, wie Domestizierungsprozesse enden können: Wer den Griff nach „Seerose“ und „Fliegenpilz“ kleinmütig verbietet, landet nämlich als biedere „Gurke in einem Einmachglas“, oder muss – und da blinzelt der marxistisch geschulte Schalk – die „Tränen der Albatrosse“, die jene über die „Dummheit der Menschen“ weinen, als „Äquivalent bei den Tauschgeschäften“ verschwenden. Stellenweise verdichten sich solche „wundverkrümmten“ Metaphern zu Denkbildern mit geradezu paradoxer Sprengkraft, beispielsweise wenn beim Gang durch die „gefälschten Gärten“ plötzlich der Gesang einer „auf Klingeltöne spezialisierten Amsel“ erklingt. Solche Ironisierungen häufen sich gegen Ende des Bandes, vor allem, wenn Böhme die Dichtkunst selbst ins Visier nimmt und sarkastisch bemerkt, „Fräulein Sappho“ habe heute wohl „ihr Passwort auf den Steiß tätowiert“.

Selbst wenn Böhme in seinem Gedicht „Vor Bethlehem“ behauptet, die zufällig am Boden liegende Feder sei „grau & zerzaust“ und verweise „auf nichts als sie selbst“, weiß die Leserin: Das stimmt nicht! Denn Böhme schreibt keine hermetische Lyrik, ihm geht es um die großen Themen und Fragen, auch wenn er mit sich selbst „stille Post“ spielt. Freilich: der Verlust dieser Feder, der verpasste Einzug in Bethlehem, ist „ohne Belang für das kosmische Gleichgewicht“ und „die Erinnerung ist so löchrig“, dass sich auch daraus kein philosophischer Diskurs zimmern ließe. Doch wer seinen eigenen ungewaschenen Tod nachts neben sich grunzen und furzen hört und trotzdem mit ihm ins Bett geht, weil seine Knochen so „anschmiegsam“ sind, der braucht, wie Böhme in „Minimale Poetik“ klarstellt, beim Dichten weder „Engelszungen“ noch „Donnerhall“. Hoffnung genügt, wie der letzte Vers dieses ganz großartigen Gedichtbandes unterstreicht.

Titelbild

Thomas Böhme: Abdruck im Niemandswo. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2016.
160 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783940691750

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