Wie lässt sich das Verhältnis von Erfahrung, Referenz und Erzählung modellieren?

Ein Sammelband untersucht Relationen zwischen literarischem Schreiben, historischer Referenzialität und multiplen Verfahren ihrer Verknüpfung in narrativen Texten

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis historischer Faktizität und narrativer Fiktionalität ist seit längerer Zeit Gegenstand interdisziplinärer Forschungsanstrengungen von Kultur-, Geschichts- oder Literaturwissenschaften im weitesten Sinne. Im Zentrum stehen Fragen nach den Bezügen von geschichtlichen Fakten und dem davon Erzählten. Paradigmatisch ist in diesem Kontext unter anderem die verkürzende Perspektive auf die vermeintliche ‚Wahrheit‘ als Kriterium größter Wirkungsmacht. Jedoch werden auch andere theoretische Bezugsrahmen diskutiert, welche die Orientierung am linguistic turn zu überwinden trachten, wie dies auch der vorliegende Sammelband intendiert, der sich explizit von Hayden Whites zentraler Studie „Metahistory“ (1973) abgrenzt.

Die Beiträge des Sammelbandes „Erfahrung und Referenz“ untersuchen, wie der Untertitel partiell bereits vorwegnimmt, „Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert“ und im beginnenden 21. Jahrhundert. Dies geschieht in interdisziplinärer Perspektive. Die Texte beruhen auf einer Tagung zum gleichnamigen Thema, die im Herbst 2012 an der Universität Konstanz stattgefunden hat. Die vierzehn Beiträge lassen sich in drei Grundsatz- und elf Einzeltext- beziehungsweise Fallanalysen ordnen. In einem knappen Vorwort zeigen die beiden Herausgeber Axel Rüth und Michael Schwarze die Leitlinien des Projekts auf: Mit einem Abstand von 40 Jahren zu Whites wirkmächtiger Studie „Metahistory“ geht es dem Band in nuce um die Erarbeitung der „Komplementarität eines linguistischen und eines philosophisch-phänomenologisch kodierten Begriffs“ von „Referenz“ und „Erfahrung“. Ein erstes Fazit der Herausgeber verweist auf die Produktivität der Tagung, wenn ein „transversales Verständnis von Referenz“ konstatiert wird, wodurch „ganz unterschiedliche Arten historischen Erzählens“ gekennzeichnet seien. Ein zweites Fazit postuliert eine Diastase von Wirklichkeitserwartung, -wahrnehmung und -erfahrung mit deutlichen Folgen für literarische Geschichtserzählungen. Ferner formulieren die Herausgeber drei Ergebnisperspektiven als „idealtypische Begriffspaare“: „Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit“, „Kontingenz und Kohärenz“ sowie „Konstruktion und Rekonstruktion“. Literarisches Erzählen von Geschichte sei demzufolge durch retrospektive Deutung, Kontingenzgestaltung und (selbst-)reflexive Konstruktionen geprägt.

Ludwig Jäger untersucht im ersten Grundlagenbeitrag den Referenzbegriff und die „in ihn eingeschriebene konzeptionelle Opposition zu Fiktionalität und Narrativität“. Durch fundierte semantische und sprachphilosophische Überlegungen, die Konzepte von Gottlieb Frege intensiv berücksichtigen, ferner poststrukturalistische Aspekte integrieren, geht es Jäger um eine „Copernikanische Drehung“ des Referenzproblems, indem er konstatiert: „Die Semantiken wirklicher und fiktionaler Welten werden im selben semiologisch-epistemologischen Rahmen verhandelt“.

Der zweite Grundlagenbeitrag von Andreas Kablitz formuliert bereits in der Überschrift die Leitthese: „Von der Unmöglichkeit, Erfahrung zu erzählen“. Auf der Grundlage eines differenzierten Erfahrungsbegriffs zeigt er, dass Erfahrungen nicht identisch mit Erlebnissen der Vergangenheit zu sehen und zu interpretieren sind. Stattdessen plädiert er für eine neue Blickweise auf fiktionales historisches Erzählen: Er argumentiert besonders für die Einsicht in die „Unhintergehbarkeit“ der sprachlichen Erkenntnis, „die faktische Existenz dessen zu behaupten, worüber ein Satz eine Aussage macht“, mit der Folgerung, dass auch „der fiktionale Text, wo er von fiktiven Größen handelt, solche Ansprüche“ zu erheben vermag. Konstruktiv liest sich im Kontext des Rahmenthemas der Beitrag von Aleida Assmann, die zunächst zwischen erlebter, erinnerter und erzählter Geschichte differenziert. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist eine konstatierte moderne Erfahrungskrise, die sie in Anlehnung an Odo Marquard mit der „Erfahrungsarmut der Moderne“ assoziiert und daran anknüpfend facettenreich die Formen der Entwertung von Erfahrung reflektiert: Der Niedergang des mündlichen Erzählens, die Traumatisierung durch Gewalt, die beschleunigten (technischen) Wandlungsprozesse der modernen Gesellschaft und eine unbegrenzte „Mediatisierung“ des Lebens führten zu einem Generalverdacht gegenüber der Wertigkeit der Begriffe „Erfahrung“ und „Authentizität“. Dies bleibe nicht folgenlos für die Darstellungsformen von Erfahrung in Geschichte und Literatur, wobei Assmann unter Bezug auf Dipesh Chakrabarty Ansätze eines Nacherlebens von Erfahrungen erkennen kann, die mit der Entstehung „einer neuen Erinnerungskultur“ einhergehen.

Die Fallstudien thematisieren eine Fülle an Texten wie etwa Thomas Manns „Doktor Faustus“, Arthur Schnitzlers Zeitroman „Der Weg ins Freie“, aber auch zeitgenössische Literatur über den Spanischen Bürgerkrieg am Beispiel der Romane „El corazón helado“ von Almudena Grandes und Jorge Semprúns „Veinte años y un día“, ferner Beispiele aus dem italienischen Neorealismus mit Italo Calvinos „Il sentiero dei nidi di ragno“ und Beppe Fenoglios „Una questione privata“. Darüber hinaus werden unter anderem komparatistische Studien zu Kriegsnarrativen am Beispiel des Nouveau Roman zur Weltkriegsproblematik und am Beispiel von Laurent Mauvigniers „Des hommes“ zum Algerienkrieg vorgestellt, des Weiteren der Roman Vincenzo Consolos „Sorriso dell`ignoto marinaio“ als Ausgangspunkt von Überlegungen zur Bildhaftigkeit von Geschichte genutzt. Der literarische Umgang mit dem Thema Terror wird unter anderem am Beispiel von Ian McEwans Roman „Saturday“, Martin Amis’ Erzählung „The Last Days of Muhammad Atta“ und Don DeLillos Roman „Falling Man“ analysiert.

Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Verhältnis von historischen Stoffen und literarischen Gestaltungsweisen bietet der Sammelband mit einer akademisch versierten Fachterminologie und theoretisch gestützten Fundierung zahlreiche beachtenswerte Argumentationslinien. Zugleich zeigt er auf, dass neue Paradigmen die klassische Lesart eines Hayden White abgelöst haben, nicht zuletzt mit Blick auf Darstellungsformen, die neue Relevanz für die Erinnerungskultur besitzen. Dadurch eröffnen sich auch innovative Analyseperspektiven, wie sie beispielsweise Mitherausgeber Axel Rüth in seinem Beitrag über Michel Houellebecqs „Particules élémentaires“ herausstellt: „Ein Autor kann die mit der Fiktionalität einhergehenden Lizenzen dazu nutzen, den fiktionalen Status seines Textes zu labilisieren.“

Titelbild

Axel Rüth / Michael Schwarze (Hg.): Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
270 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557783

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch