Die erste Rektorin einer deutschen Universität

Ein biographischer Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte: Der Physikerin Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. hc. Lieselott Herforth zum 100. Geburtstag

Von Waltraud VossRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waltraud Voss

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Im Jahr 2001 ernannte die in Karlsruhe begründete „Deutsche Gesellschaft für Flüssigszintillationsspektrometrie e. V.“ eine betagte Physikerin in deren Abwesenheit zum Ehrenmitglied, da sie mit ihren frühen Arbeiten zu den Pionieren auf dem Gebiet gehört hatte. Es war die fast 85-jährige Atomphysikerin Lieselott Herforth. Von 1965 bis 1968 stand sie an der Spitze der TU Dresden und war damit die erste Rektorin einer deutschen Universität.

Lieselott Herforth wurde am 13. September 1916 im thüringischen Altenburg geboren. Sie wuchs in einem bürgerlichen, von Literatur und Musik geprägten Elternhaus auf, spielte Klavier und später auch Geige. Zur Schule ging sie in Eydtkuhnen (jetzt Tschernyschewskoje), Marienwerder, Leipzig und Berlin. Von 1936 bis 1940 studierte sie an der TH Berlin-Charlottenburg angewandte Mathematik und technische Physik. Hans Geiger hatte bei der Studentin Herforth früh das Interesse für die Radioaktivität geweckt, bei ihm diplomierte sie. Ihre ersten Arbeitsjahre waren turbulent; sie wechselte von einem kriegszerstörten oder verlagerten Institut an das nächste. Sie arbeitete bei Werner Heisenberg am KWI für Physik Berlin-Dahlem, an den Physikalischen Instituten der Universitäten Leipzig und Freiburg bei Gerhard Hoffmann und Eduard Steinke und dann wieder an der TH Berlin bei Alexander Nikuradse am Laboratorium für Elektronen- und Ionenlehre, Verlagerungsort Schwarzenfeld (Oberpfalz).

Der Krieg nahm ihr den einzigen Bruder und den Bräutigam; dreimal wurde sie ausgebombt, in Berlin, in Leipzig, in Freiburg (Breisgau). Aber sie hatte ein unzerstörbares Pfund, mit dem sich wuchern ließ: Erziehung, Bildung und das nun bereits erprobte Wissen der technischen Physikerin. Nach Berlin zurückgekehrt, war sie – nach kurzer Tätigkeit als Industriephysikerin – Promovendin von Hartmut Kallmann am KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie Berlin-Dahlem. Thema der Dissertation war die „Fluoreszenz organischer Substanzen bei Anregung mit Alpha-, Beta-, Gamma-Strahlung“. Eine der ersten Publikationen über die Anregung der Fluoreszenz von organischen Flüssigkeiten (konkret durch schnelle Elektronen) wurde von Lieselott Herforth und Hartmut Kallmann verfasst.

Am Institut für Medizin und Biologie Berlin-Buch der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW), geleitet von Prof. Dr. Walter Friedrich, konnte sie in der Abteilung Biophysik bald ein Laboratorium aufbauen, das ganz ihren wissenschaftlichen Hauptinteressen entsprach – der Anwendung und Messung von Strahlung und der Entwicklung geeigneter Messgeräte. Im Bucher Institut wurde das interdisziplinäre Arbeiten für sie selbstverständlich, ebenso die Zusammenarbeit mit der Industrie und das verantwortliche Leiten eines Kollektivs. Walter Friedrich, Direktor des Instituts für Strahlenforschung an der Berliner Universität seit langer Zeit und nun ihr Rektor, Gründungsdirektor des Bucher Akademieinstituts und Präsident der DAW, stand auch an der Spitze des Deutschen Friedensrates und war engagiertes Mitglied im Präsidium des Weltfriedensrates. Von ihm hat sie gelernt, dass der verantwortungsbewusste Wissenschaftler fachliches und gesellschaftliches Engagement vereinen kann und muss.

Lieselott Herforth war nach ihrer Habilitation Dozentin für Strahlenphysik an der Universität Leipzig, Leiterin der Abteilung Ausbildung an dem von Carl Friedrich Weiss errichteten Leipziger Akademieinstitut für angewandte Radioaktivität, Professorin für angewandte Radioaktivität an der jungen TH für Chemie Leuna-Merseburg, bevor sie 1960 an die TH Dresden berufen wurde. Seit Frühjahr 1962 war sie hier Direktorin des Instituts für Anwendung radioaktiver Isotope. Schon Mitte der 60er Jahre konnten Lieselott Herforth und ihr Team auch international anerkannte Leistungen vorweisen, insbesondere auf dem Gebiet der Thermolumineszenzdosimetrie.

Für einige Jahre – von 1962 bis 1967 – war die Physikerin Leiterin der Deutschen Delegation der Arbeitsgruppe Isotopenanwendung in der ständigen Kommission des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Sie pflegte mit ihren Mitarbeiter/innen die wissenschaftlichen Kontakte zur Sowjetunion, zu den anderen Staaten des RGW, aber auch zu jungen Nationalstaaten. Ihr gesellschaftspolitisches Engagement nahm seit 1962 zu. Sie stand von 1962 bis 1964 an der Spitze der Universitätsgewerkschaftsleitung, fand – nachdem sie auf der Karriereleiter sehr weit emporgestiegen war – den Weg in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), wurde in die „Kommission zur Gestaltung des künftigen Bildungssystems“ beim Ministerrat berufen und schließlich im Oktober 1963 als Kandidatin des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in die Volkskammer gewählt. Seit November 1963 gehörte sie dem Staatsrat der DDR an.

Sie kümmerte sich mit Nachdruck und Erfolg um die Lösung der Probleme, die in der Abgeordnetensprechstunde an sie herangetragen wurden. Ein wichtiges und sehr ernstes Anliegen war für sie die Förderung von Frauen und insbesondere die stärkere Gewinnung von Mädchen und Frauen für mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Berufe und Studienrichtungen. Im Januar 1966 wurde der Entwurf der „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR“ der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Die „Prinzipien“ lagen der (3.) Hochschulreform von 1968 zugrunde. An der TU Dresden fiel die Vorbereitung und Durchführung der Reform in die Rektoratszeit von Lieselott Herforth.

Das Hochschulwesen der DDR war den Forderungen der Zeit gemäß umzugestalten. Es musste zum einen den Erfordernissen der sich weltweit vollziehenden wissenschaftlich-technischen Revolution Rechnung tragen. Die engen Grenzen der Institute und auch der Fakultäten waren nicht mehr angemessen angesichts vieler Probleme, die nicht disziplinär, sondern interdisziplinär angegangen werden mussten. Zum anderen sollte die Lehre praxisnäher werden und die Forschung, theoretisch auf hohem Niveau, sollte stärker mit den Betrieben kooperieren, um die Überführung ihrer Ergebnisse in die Praxis beschleunigen zu können. Dazu waren neue Ausbildungsprogramme und Studienpläne auszuarbeiten und nach und nach einzuführen. Um die beschränkten Kapazitäten an Personal und anderen Ressourcen möglichst gut zu nutzen, sollten mit der Hochschulreform Forschungen gebündelt werden, anstatt sie flächendeckend an vielen Hochschulen durchzuführen. Für einige Professorinnen und Professoren und für deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war das hart, jeder und jede aber bekam ein dem  Können entsprechendes Angebot, wenn auch nicht unbedingt am gleichen Ort. Entscheidend war: Niemand wurde arbeitslos. Die neue Leitungsstruktur an den Hochschulen sollte eine flachere Hierarchie aufweisen und über Kontroll- und Beratungsorgane verfügen, die die Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung aller Hochschulangehörigen bei Entscheidungsfindungen erhöhten. Der Rektorin Herforth gelang es an der TU Dresden – wenn auch nicht gänzlich ohne Reibungen –, die  Hochschulreform umzusetzen. Mit den akademischen Festtagen am 22./23. Oktober 1968 erfolgte nicht nur die Rektoratsübergabe an ihren Nachfolger, sondern auch die Gründung der Sektionen und die Berufung und Konstituierung des Gesellschaftlichen Rates und des Wissenschaftlichen Rates der TU Dresden. Jeder andere an der Spitze der TU Dresden hätte vor derselben Herausforderung gestanden wie sie, nicht jeder wäre aber mit so guten Voraussetzungen an die Aufgabe gegangen wie Lieselott Herforth, war sie doch seit Jahrzehnten an fachübergreifendes interdisziplinäres Arbeiten, an eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie und an die Organisation fruchtbarer gemeinschaftlicher Arbeit gewöhnt.

Auch Lieselott Herforths bisheriges Institut für Anwendung radioaktiver Isotope bestand seit der Hochschulreform nicht mehr. Die Wissenschaftlerin stand bis zur Emeritierung im Jahre 1977 als ordentliche Professorin an der Spitze eines Wissenschaftsbereichs der Sektion Physik. 1969 wurde sie als Ordentliches Mitglied in die DAW gewählt; 1974 verlieh ihr die TH für Chemie in Veszprém (Ungarn) die Ehrendoktorwürde.

Lieselott Herforth blieb dem späteren Wissenschaftsbereich Strahlenschutzphysik auch nach ihrem Ausscheiden aus der TU eng verbunden. In Volkskammer und Staatsrat arbeitete sie bis 1981 mit. Sie publizierte, begutachtete Dissertationen, pflegte vielerlei Kontakte, insbesondere zu ihren Schülerinnen und Schülern, von denen viele selbst in verantwortlichen Positionen tätig waren. Die Anfänge des „Praktikumsbuches Lieselott Herforth / Hartwig Koch“ gehen auf ihre ersten Praktikumsvorlagen im Leipziger Institut für angewandte Radioaktivität zurück. Das „Praktikumsbuch“ wurde immer wieder auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht, auch in andere Sprachen übersetzt und mehrfach neu aufgelegt. Unter dem Titel „Praktikum der Radioaktivität und Radiochemie“ erschien es im Jahre 1992 im Verlag Johann Ambrosius Barth und später in Nachauflagen. Noch immer stellt es eine wichtige Grundlage in Praktika an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen dar. Lieselott Herforth starb am 30. November 2010 in einem Dresdner Seniorenheim im Alter von 94 Jahren.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf Waltraud Voss: Lieselott Herforth. Die erste Rektorin einer deutschen Universität. Transcript Verlag (Reihe Gender-Studies), Bielefeld 2016.

 

Titelbild

Waltraud Voss: Lieselott Herforth. Die erste Rektorin einer deutschen Universität.
(Reihe Gender Studies).
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
324 Seiten , 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635454

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