Ein Material als Bedeutungsträger

Der von Magdalena Bushart und Henrike Haug herausgegebene Sammelband „Formlos – Formbar“ widmet sich der Bedeutung von Bronze als Werkstoff

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Formlos – Formbar“ erscheint als der zweite Band der „Interdependenzen. Die Künste und ihre Techniken“. Den Auftakt der von Magdalena Bushart und Henrike Haug herausgegebenen Reihe machte ein Band zu technischen Innovationen in der Frühen Neuzeit. Anders als dieser umfasst der zweite Sammelband den Zeitraum vom 11. bis zum 20. Jahrhundert. Thematisch spannt sich der Bogen von liturgischen Geräten des Mittelalters über Henry Moores Beschäftigung mit dem Werkstoff bis hin zum Guss in Verlorener Form im Deutschland der 1960er Jahre. Neben Großbronzen, wie Reiterstandbildern aus Barock und 19. Jahrhundert, finden auch kleinformatige Kunstwerke, unter anderem Tintenfässchen des frühen 16. Jahrhunderts aus der Vischer-Werkstatt in Nürnberg, eine eingehende Betrachtung. Die Beiträge des Bandes gehen auf die Tagung „Interdependenzen. Künste und künstlerische Techniken“ zurück, die im Jahr 2013 in Berlin stattfand. Die Artikel widmen sich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung sowohl dem Entwurfs- als auch dem Werkprozess. Gestellt wurden Fragen zum Verhältnis zwischen Material und Form sowie zwischen Modell und Ausführung. Als gemeinsamer Überbau diente die Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen Diskursen aus Antike, Mittelalter und Moderne, was von den Herausgeberinnen mit „Semantisierung des Materials“ treffend auf den Punkt gebracht wird. Bei jedem Arbeiten mit dem Werkstoff Bronze gehe es epochenunabhängig stets darum, „die Verfestigung und Formwerdung des amorphen, flüssigen Materials zu inszenieren und dem Betrachter im Kunstwerk die Beherrschung der Materie durch technisches Können und (al)chemisches Wissen unmittelbar vor Augen zu führen.“ Ein Konzept, das sich auch im Titel des Bandes wiederspiegelt. Bei der ungewöhnlichen Schreibweise ‚(Al-)Chemie‘ beziehungsweise ‚(al)chemisch‘‘ handelt es sich um eine sorgsam gewählte Begrifflichkeit, die verdeutlichen soll, dass es sich bei den beschriebenen Verfahren nicht um unseriöse Goldmacherei, sondern um „konkretes chemisches Wissen“ handelt, dass es aus seiner Zeit heraus zu begreifen und zu verhandeln gilt, wie Haug – leider nur in einer Anmerkung – betont.

Aufgrund der zeitlichen Diversität der durchweg interessanten Beiträge werden hier exemplarisch zwei herausgegriffen, die sich dem Material Bronze im Mittelalter und der Frühen Neuzeit widmen.

Den Auftakt macht Joanna Olchawa, die sich mit mittelalterlichen Handwaschgefäßen beschäftigt. In ihrer Dissertation, deren Drucklegung sich in Vorbereitung befindet, hat sich die Autorin toreutischen Aquamanilen des 12. und 13. Jahrhunderts gewidmet, womit den Untersuchungen zum Gebrauchskontext der figürlichen Kannen von Michael Hütt aus dem 1993 eine umfangreiche Materialsammlung zur Seite gestellt wird. Zugleich wird mit Olchawas Arbeit ein Zeitraum vorgelegt, der in Ulrich Müllers im Jahr 2006 erschienenen Monographie über mittelalterliches Handwaschgeschirr ausgespart blieb und damit einem Forschungsdesiderat abgeholfen. In ihrem Beitrag zu „Formlos – Formbar“ konzentriert sich die Kunsthistorikerin auf den nord- und mitteldeutschen Raum, in dem ab dem 11. Jahrhundert eine große Anzahl an Bronze- und Messingartefakten entsteht. Zunächst zählt sie die berühmten Großplastiken aus Hildesheim, Braunschweig und Goßlar auf, die sich bereits seit Jahren zahlreicher Untersuchungen erfreuen. Anders hingegen sehe es bei den kleinformatigen Werken aus, den Kruzifixen, Leuchtern, Weihrauchgefäßen und auch den Kannen, so die Autorin. Diese Objekte zögen von Ausstellung zu Ausstellung, stünden jedoch kaum im Fokus der Forschung. Da sich sowohl in den Großplastiken wie auch in den kleineren Bronzen ein „komplexes Zusammenspiel von liturgischen oder politischen Funktionen“ ausmachen lässt, erweist sich eine Beschäftigung mit den Handwaschgefäßen als lohnenswerte Aufgabe. Besonders auffällig ist die große Zahl der erhaltenen Bronzeobjekte aus dem vorgestellten Zeitraum, dem 11. bis 14. Jahrhundert, da sich das Material hervorragend zum Recyceln eignet und Bronze durchweg einen begehrten Werkstoff darstellt.

Zunächst wendet sich Olchawa dem Handwaschritus im Mittelalter zu. Sie beschreibt das Waschen der Hände als Teil der christlichen Liturgie, wenngleich es keine liturgischen Vorschriften zum Ablauf en detail gibt. In jedem Fall diente das Händewaschen als rituelle Reinigung vor dem Gottesdienst und wurde auch vorm Anlegen der liturgischen Gewänder durchgeführt. Die Handwaschung war ein zentrales Ritual innerhalb der Messfeier. Die verwendeten Gefäße hatten deshalb einen hohen Stellenwert. Zurückführen lässt sich der Handwaschritus im christlichen Umfeld auf das Alte Testament, wo auch das sprichwörtlich gewordene „Ich wasche meine Hände in Unschuld“ seinen Ursprung hat. Außerhalb des liturgischen Kontextes nennt Olchawa eine Beschreibung bei Gregor von Tours und weist dem Handwaschritus im weltlichen Bereich eine ähnliche Bedeutung zu wie im sakralen. Daraus folgt die Bewertung des „polaren Unterscheidungsmodell[s] liturgisch/sakral und weltlich/profan“ als ahistorisch, der man uneingeschränkt zustimmen kann. Was allerdings verwundert, ist die Aussage, Waschungen im weltlichen Bereich würden nur selten in schriftlichen Quellen genannt. Literarische Werke werden hier offensichtlich ausgeklammert, denn aus der mittelhochdeutschen Literatur lassen sich zahlreiche Beispiele anführen, die sich auch schon detailliert in den zuvor genannten Monographien von Hütt und Müller finden: Besonders ausführlich geht Müller auf eine Stelle aus dem Nibelungenlied ein, die Verse 606,01-609,03, wo die gegenseitige Treuverpflichtung zwischen Gunther und Siegfried durch eine Handwaschzeremonie vor dem Hochzeitsmahl als performativer Akt visualisiert wird.

Zur Durchführung der Waschung kamen unterschiedliche Gefäße in Frage. Neben der Verwendung von einem Ensemble bestehend aus Becken und Bronzekanne, kamen besonders ab dem 11. Jahrhundert auch paarig flache Schalen in Gebrauch. Im Folgenden widmet sich Olchawa den Aquamanilen. Diese therio- oder anthropomorph gestalteten Bronzekannen dienten ausschließlich zum Waschen der Hände. Etwa 400 Exemplare aus der Zeit vom 12. bis zum 16. Jahrhundert haben sich erhalten. Ihren Ursprung haben die figürlichen Handwaschkannen in der islamischen Hofkultur. Ein Feature, das, wie die Textbeispiele aus der mittelhochdeutschen Literatur zeigen, von den christlichen Höfen gerne aufgenommen wurde, wo der Handwaschritus ebenfalls eine lange Tradition besaß.

Über luzide Erläuterungen zu naturräumlichen Voraussetzungen zur Rohstoffgewinnung und das Herstellungsverfahren der Aquamanilen führt die Autorin die Leser an die dem Material im Mittelalter zugeschriebene Bedeutung heran, die sie durch eine Auswertung von Schriftquellen und Inschriften des 9. und besonders des 12. Jahrhunderts herausgearbeitet hat. Die allegorische Deutung der Bronze sowie die ihr zugedachten Eigenschaften stellen einen Schlüssel für das Verständnis der figürlichen Bronzekannen dar. Mit ihren Überlegungen wird Olchawa dem mittelalterlichen Prinzip der Exegese gerecht, nach dem eine Sache als Sinnträger fungiert und der Sinn wiederum über die dem Material innewohnenden Eigenschaften erschlossen werden kann. Das (früh)mittelalterliche Verständnis von Bronze, für das Isidor von Sevilla und Hrabanus Maurus Gewährsmänner waren, geht zum großen Teil auf Plinius zurück. Im 12. und frühen 13. Jahrhundert lässt sich nach Olchawa eine Veränderung in der Auslegungspraxis feststellen, die sich nun vornehmlich auf die Ausdeutung von Bronzeobjekten aus dem Alten Testament stützt, als deren Vertreter sie unter anderem Rupert von Deutz und Sicardus von Cremona nennt. Durch die Auseinandersetzung mit der Bewertung und der symbolischen Dimension von Bronze leitet der Beitrag direkt über zu Henrike Haugs „Bronzeguss und Metallogenese in der Frühen Neuzeit“, wenngleich die beiden Beiträge im Sammelband nicht direkt aufeinander folgen.

Haug stellt naturphilosophische Überlegungen zum Handwerk vom 12. bis 16. Jahrhundert vor, darunter auch Werkbücher sowie metollogenetische und metallurgische Traktate. Gleich zu Beginn macht sie deutlich, dass sich das Know-How der Meister und Bronzekünstler in Mittelalter und Früher Neuzeit auf allerhöchstem Niveau befand. Das künstlerische Handeln war stets eine Einheit aus Praxis und Theorie, zu der eine spirituelle Komponente hinzutrat. Hierbei spielten Bedeutungszuschreibungen eine grundlegende Rolle. Da Bronze kein natürliches Material ist, sondern eine Legierung, handelt es sich um einen „genuinen Werkstoff“, ein „teleologisches Material“, das dienend und zweckbestimmt ist, zeigt es sich doch in seinem Entstehungszustand als formlos und flüssig und wird erst nach dem Gussprozess beim Erkalten in die ihm zugedachte Form übergeführt.

Ähnliche Beurteilungen des Werkstoffs Metall finden sich auch für andere Zeiten und Kulturen, wie der Religionswissenschaftler Mircea Eliade in „Forgerons et Alchimistes“ beschrieben hat. Der Bronze als Legierung kommt aber stets eine Sonderstellung unter den Metallen zu.

Haugs Beitrag ist zeitlich untergegliedert und beginnt im 12. Jahrhundert mit den Ausführungen zum Handwerk bei Hugo von St. Viktor, der in handwerklichen Produkten eine Imitation der Schöpfung sieht. Nach ihm ist das handwerkliche Arbeiten erst durch die Vertreibung aus dem Paradies notwendig geworden. Sein Zeitgenosse Theophilus Presbyter, Verfasser der bekannten „Schedula diversarum artium“, drückt es hingegen positiv aus, indem er konstatiert, durch die Vertreibung aus dem Paradies sei das Handwerk erst möglich geworden. Er sieht die handwerklichen Tätigkeiten als Teil des Vermögens und des Rechts der Menschen, ihre Kunstfertigkeiten zu verfeinern und auszubauen. Für das 12. Jahrhundert lässt sich nach Haug die Idee einer geordneten göttlichen Schöpfung, die durch das menschliche Vermögen imitiert werden kann, sowohl in der Naturphilosophie wie auch im Umfeld des künstlerisch-kunsthandwerklichen Schaffens feststellen.

Bereits im 12. Jahrhundert ist ein Einfluss aristotelischen Gedankenguts bemerkbar, der wohl durch Übersetzungen im Rahmen der arabischen Aristotelesrezeption Einzug im christlichen Europa hielt, ohne dass jedoch jemals Originalquellen zur Verfügung gestanden hätten. Deshalb hatte sich Albertus Magnus im 13. Jahrhundert zur Aufgabe gesetzt, Aristoteles‘ Werk über die Genese der Metalle kurzerhand selbst zu rekonstruieren. In seinem „Libri cinque de mineralibus et rebus metallicis“ führt er die Metallentstehung auf ein Zusammenspiel der vier Ursachen (materiell, wirksam, formal, final) mit den vier Elementen (Feuer, Wasser, Luft, Erde) zurück. In Anlehnung an Avicenna erläutert Albertus dann die Bildung der sieben bekannten Metalle, die den sieben Planeten zugeordnet sind. Bronze als Legierung aus Kupfer und Zinn fällt nicht darunter.

Es folgt ein Abriss über die metallurgische Traktatliteratur im 15. und 16. Jahrhundert – das 14. Jahrhundert wird kommentarlos übersprungen –, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf dem 16. Jahrhundert liegt. Der zeitliche Sprung erklärt sich dadurch, dass sich die Frühe Neuzeit neben der Beschäftigung mit den antiken Schriften speziell mit Albertus Magnus kritisch auseinandersetzt, allen voran der Humanist Georg Agricola. Haug legt dar, dass die zunehmende Spezialisierung in der Montanindustrie zu einer Aufspaltung innerhalb der Literatur führte. Waren ehedem Praxis und Theorie häufig in einem Werk zu finden, wie beispielsweise bei Theophilus, bilden sich jetzt auf der einen Seite spezielle Fachbücher für bestimmte Verfahren heraus, die besonders „praxistauglich“ sein sollten. Auf der anderen Seite entstanden umfangreiche metallurgische Schriften, denen an einem umfassenden Verständnis gelegen war. Einige Werke der letztgenannten Gruppe werden von der Autorin im Folgenden vorgestellt und Passagen daraus zitiert. Ausführlich werden beispielsweise die montanwissenschaftlichen Schriften des Humanisten Ulrich Rülein von Calw vorgestellt. Der Überblick endet mit dem „Speculum metallorum“ von Martin Stütz, aus dem auch zwei Illuminationen abgebildet sind, eine in schwarz-weiß im Text, die andere im Farbtafelteil. Die Farbabbildung zeigt ein Kruzifix vor den sieben Metallen, die in einzelnen Streifen mit den ihnen zugeordneten Farben wiedergegeben und mit den Symbolen der zugehörigen Planeten versehen sind. Haug schließt in Anlehnung an die Miniaturen mit dem Fazit, dass in den metallurgischen Traktaten der Frühen Neuzeit „Gott als oberste[r] Bau- und Werkmeister […] wie ein Bronzegießer oder Goldschmied in seiner Werkstatt […] die Metalle generiert und zum Abbau und der weiteren Nutzung durch den menschlichen Artifex bereit stellt.“ Welches Material eignete sich da besser als die Bronze, die erst durch den Menschen geschaffen wird? Ihre besonderen Eigenschaften überzeugten schließlich auch Henry Moore, der sich zunächst nur zögerlich an das Material heranwagte, wie Christina Lichtenstern in ihrem Beitrag darlegt. Etwas von seiner Faszination wird dieser Werkstoff, trotz der uns heute zur Verfügung stehenden neuen Legierungen und Materialien, wohl auch in Zukunft behalten. Der Sammelband „Formlos – Formbar“ leistet in jedem Fall einen nicht geringen Beitrag dazu, sie aufrechtzuerhalten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Magdalena Bushart / Henrike Haug (Hg.): Formlos – Formbar. Bronze als künstlerisches Material.
Böhlau Verlag, Köln 2015.
270 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783412501976

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