Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016

Flandern und die Niederlande: Was sie teilen und was sie teilt

Von Heinz EickmansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz Eickmans

Die auf der Website der Frankfurter Buchmesse monatlich erneuerte Übersicht über die bereits erschienenen oder geplanten deutschsprachigen Neuerscheinungen der niederländischen und flämischen Literatur verzeichnet aktuell (Stand: September 2016) über 360 Neuübersetzungen und/oder Neuausgaben, darunter 309 literarische im engeren Sinne – 180 ‚erwachsene‘ Bücher und 129 Werke der Kinder- und Jugendliteratur – sowie 54 literarische Sachbücher. (Nicht enthalten in diesen Zahlen sind die in der Übersicht auch verzeichneten Titel deutscher Verlage über die Niederlande und Flandern zu den Bereichen Geschichte, Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Reise- und Bildbände.)

Der folgende Beitrag verzichtet angesichts dieser Zahlen darauf, einen wie auch immer geordneten Überblick über die Neuerscheinungen geben zu wollen, zumal in den in diesen Tagen und Wochen erscheinenden Buchmessebeilagen, Rezensionen und sonstigen Berichten der alten und neuen Medien eine Vielzahl der Neuerscheinungen vorgestellt werden. Wir wollen uns hier auf einen speziellen Aspekt konzentrieren, der in der allgemeinen Berichterstattung möglicherweise ein wenig zu kurz kommen wird: die Neuübersetzungen bzw. Neuausgaben ‚klassischer‘ AutorInnen, die es deutschen Lesern ermöglichen, Werke des Kanons der niederländischen Literatur neu oder wieder zu entdecken.

Was zum Kanon ihrer gemeinsamen niederländischen Literatur gehört, darüber besteht allerdings zwischen Flamen und Niederländern nur partielle Einigkeit, wie ein Blick auf die einschlägigen Listen offenbart. Dieser Umstand führt uns zunächst zu der Frage, inwieweit Flandern und die Niederlande tatsächlich einen einheitlichen Sprach- und Literaturraum verkörpern, wie sie es im Motto ihrer Buchmessepräsentation „Dies ist, was wir teilen“ zum Ausdruck bringen.

Eine Sprache, zwei Kulturen – und die Literatur?

„Dit is wat we delen“ = „Dies ist, was wir teilen“ lautet das offizielle Motto, unter dem sich in diesem Jahr Flandern und die Niederlande als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse präsentieren. Während normalerweise ein Land Ehrengast der Buchmesse ist wie etwa im vorigen Jahr Indonesien, ist es in diesem Jahr ein Verbund zweier Partner, die sich mit dem Niederländischen eine gemeinsame Schrift- und Kultursprache teilen und diese auch gemeinsam in der bilateralen Organisation der Niederländischen Sprachunion (Nederlandse Taalunie) orthografisch, lexikografisch und grammatisch kodifizieren. Dieser Hinweis zu Beginn ist wichtig, da in Deutschland immer noch falsche Vorstellungen über das Niederländische, zumeist ‚Holländisch‘ genannt, und das Flämische, das man fälschlicherweise für eine eigenständige Sprache hält, weit verbreitet sind.

Es geht aber nicht nur um die Sprache. Hinter dem Motto „Dies ist, was wir teilen“ und hinter der Tatsache, dass sich die beiden Länder als Einheit präsentieren, steckt der weitergehende Anspruch, nicht nur über eine gemeinsame Sprache zu verfügen, sondern auch „auf eine gemeinsame Geschichte zurück[zu]blicken, besonders im Bereich der Kultur und Literatur“, wie es auf der der offiziellen Ehrengast-Homepage heißt.

Kenner der niederländischen Geschichte und Kultur könnten freilich einwenden, dass man die postulierte Gemeinsamkeit für jeden der genannten Bereiche leicht mit einigen grundsätzliche Fragezeichen versehen kann. Statt „Was wir teilen“ könnte man im Verhältnis der Niederlande und Flanderns zueinander den Fokus auch auf die Frage „Was uns teilt“ legen.

Die Gemeinsamkeit der Sprache gilt allenfalls, wie oben gesagt, für die höchste Varietät, die Schrift- und Kultursprache, auf der Ebene der im Alltag häufig dominierenden Substandardvarietäten tut sich eine zunehmende Kluft zwischen beiden Ländern auf, die etwa eine Untertitelung flämischer Fernsehsoaps für niederländische Zuschauer nötig macht.

Eine staatlich-politische Einheit haben die historischen Niederlande, die man in etwa mit den heutigen Benelux-Ländern gleichsetzen kann, nur in zwei kurzen Perioden im 16. und im 19. Jahrhundert gebildet. Im kulturellen Bereich zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen dem Süden, den katholisch geprägten ‚burgundischen Niederlanden‘, wie man Belgien auch heute noch nennen könnte, und dem Norden, den durch den Calvinismus geprägten Niederlanden.

Es verwundert daher nicht, dass Niederländer und Flamen untereinander häufig das Bonmot der „zwei Völker, durch dieselbe Sprache getrennt“ benutzen, das über einen Buchtitel des flämischen Kulturwissenschaftlers Ludo Simons weite Verbreitung fand: „Antwerpen – Den Haag retour: over twee volken gescheiden door dezelfde taal“.

Die seit dem Entstehen des Staates Belgien im Jahr 1830 andauernde Trennung in zwei Staaten, die Unterschiede in Kultur und Mentalität und auch die sprachlichen Divergenzen drängen natürlich auch die Frage auf, wie es mit den Gemeinsamkeiten in der Literatur steht, ob wir es unter den genannten Umständen überhaupt mit einer Literatur zu tun haben (können). Tatsächlich legen beide, Niederländer und Flamen, Wert darauf, von einer Literatur in niederländischer Sprache zu reden, aber schon bei der Frage, was etwa diese Literatur ausmacht, welche Werke zu ihrem Kanon gehören, scheiden sich die Geister.

Der in Utrecht lehrende flämische Literaturwissenschaftler Geert Buelens führt die Unterschiede auf die „unterschiedlichen kulturellen Referenzrahmen“ zurück, die in beiden Ländern gelten und die dazu führen, dass es keinen einheitlichen Kanon der niederländischen Literatur gibt, sondern je einen ‚holländischen‘ und ‚flämischen‘ Kanon der niederländischen Literatur. Wie groß dieser Unterschied ist, mag ein Vergleich zwischen den Ergebnissen zweier Kanon-Umfragen unter den Mitgliedern einer niederländischen (der Maatschappij der Nederlandse Letterkunde in Leiden) und flämischen Gelehrtengesellschaft (der Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde in Gent) zeigen. Von den ersten 50 Titeln des niederländischen Kanons finden sich nur 24 in der vergleichbaren Liste aus Flandern. Das heißt, dass die Übereinstimmung in der Frage, was den Kanon der Literatur in niederländischer Sprache bei weniger als der Hälfte liegt. Dieser Befund bestätigt eindrucksvoll den von Buelens konstatierten unterschiedlichen kulturellen Referenzrahmen, der in beiden Ländern gilt.

Dennoch: Ungeachtet dieser starken Unterschiede halten beide Seiten an der Vorstellung einer gemeinsamen Literatur in niederländischer Sprache fest. Man lese hierzu etwa auf der Ehrengastwebsite den Essay von Pieter Steinz, der bewusst das oben zitierte Motto konterkariert, indem er seinem Beitrag den Titel „Zwei Länder, vereinigt durch eine Sprache“ gibt. Der von den flämischen und niederländischen Ehrengastlandpräsentatoren formulierte Anspruch, über eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Kultur und Literatur zu verfügen, ist sicherlich gerade in der Außenpräsentation ein kluger Ansatz, der die Kräfte eines kleinen Sprachgebiets, das sich über zwei Staaten erstreckt, bündelt und die ja auch vorhandenen substantiellen Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt.

Mit dieser Strategie hatten beide Länder ja auch schon vor fast einem Vierteljahrhundert – damals hießen die Ehrengäste noch ‚Schwerpunktländer‘ – überaus großen Erfolg, als sie sich 1993 in ihrem gemeinsamen Messeauftritt unter dem Motto „Flandern und die Niederlande weltoffen“ präsentiert haben. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass dieser Messeschwerpunkt 1993 der Durchbruch für die niederländischsprachige Literatur in Deutschland war und – vermittelt durch den Erfolg und die zahlreichen Übersetzungen in Deutschland – auch die übrige literarische Welt auf die rege Literaturlandschaft an der Nordsee aufmerksam gemacht hat. Seit 1993 gibt es eine ununterbrochene Präsenz zahlreicher niederländischer Autorinnen und Autoren auf dem deutschen Buchmarkt. Zu nennen wären hier Namen wie Margriet de Moor, Connie Palmen, Cees Nooteboom, Maarten’t Hart, Leon de Winter oder Arnon Grünberg, und auch in jüngerer Zeit sind Erfolgsautoren wie Gerbrand Bakker oder Herman Koch hinzugekommen. Unsere Aufmerksamkeit soll im Folgenden aber, wie eingangs erwähnt, den im Messekontext erscheinenden Ausgaben von ‚Klassikern‘ der niederländischen und flämischen Literatur gelten.

Den Kanon der niederländischen Literatur neu oder wieder entdecken

Zu den positiven Seiten eines Ehrengastauftritts bei der Frankfurter Buchmesse gehört auch die Aufmerksamkeit, die einige Verlage älteren, klassischen Werken einer Literatur widmen, die teils überhaupt erstmals ins Deutsche übersetzt werden, teils in Neuübersetzungen oder Neuausgaben erstmals seit langem wieder auf dem deutschen Buchmarkt verfügbar werden. Die folgende, chronologisch gegliederte Übersicht umfasst alle Ausgaben kanonisierter AutorInnen bzw. Werke, die sich auf den beiden oben genannten Kanonlisten aus Flandern bzw. den Niederlanden finden. Neben bereits erschienenen Ausgaben werden auch Bücher genannt, deren Erscheinen erst für die nächsten Wochen angekündigt ist.

Neuübersetzungen bzw. Neuausgaben von Klassikern des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts

Den chronologischen Anfang macht der 1782 erschienene erste Briefroman der niederländischen Literatur Sara Burgerhart der beiden Autorinnen Aagje Deken und Betje Wolff (nl. De historie van mejuffrouw Sara Burgerhart), den der Verlag 28 Eichen in Barnstorf in einer Neuübersetzung von Nadine Erler herausgebracht hat. Entgegen der Verlagsangabe handelt es sich allerdings nicht um eine deutsche Erstausgabe. Bereits 1796 war eine deutsche Übersetzung dieses den Gedanken der Aufklärung verpflichteten Romans unter dem Titel Sara Reinert. Eine Geschichte in Briefen, dem schönen Geschlechte in Deutschland gewidmet in einer Übersetzung von Johann Gottwerth Müller erschienen.

Ähnlich irreführend bzw. falsch sind die editorischen Angaben zu vier Ausgaben flämischer Klassiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in kleineren, auf Nachdrucke spezialisierten Verlagen angekündigt sind. Gleich zwei Verlage bringen Nachdrucke (Severus Verlag) bzw. „sprachlich neu bearbeitete“ (Kuebler Verlag) Ausgaben von Hendrik Consciences historischem Roman Der Löwe von Flandern (nl. De leeuw van Vlaanderen, 1838), einer Art Nationalepos der Flamen. Der Severus-Verlag nennt seine Ausgabe unsinnigerweise einen „Nachdruck der Originalausgabe von 1912“, wodurch der unbedarfte Leser irrigerweise der Ansicht sein könnte, einen Nachdruck der deutschen Erstausgabe in Händen zu haben. Tatsächlich aber sind vom „Löwen von Flandern“, dem am häufigsten ins Deutsche übersetzen Buch der niederländischen Literatur, zahlreiche deutsche Übersetzungen, Ausgaben und Auflagen seit den 1840er Jahren erschienen. Die hier nachgedruckte Ausgabe der Übersetzung von Severin Rüttgers stammt im Übrigen nicht von 1912 sondern von 1916, d.h. sie ist im Zusammenhang mit der literarischen Flamenpolitik des Insel-Verlags im 1. Weltkrieg zu sehen.

Ein anderer Klassiker der flämischen Literatur ist der zwischen 1916 und 1918 in Deutschland erfolgreiche naturalistische Erzähler Cyriel Buysse, von dem ebenfalls im Hamburger Severus Verlag zwei Nachdrucke erscheinen: Arme Leute. Geschichten aus Flandern (München 1918; nl. Van arme mensen, 1901) und die Erzählsammlung Flämische Dorfgeschichten (München 1916).

Interessanter als Nachdrucke alter Übersetzungen ist natürlich eine Neuübersetzung klassischer Werke, wie sie uns der Züricher Manesse-Verlag etwa bei dem Roman des niederländischen Naturalisten Marcellus Emants Ein nachgelassenes Bekenntnis (Een nagelaten bekentenis, 1894) bietet, der von Gregor Seferens neu übersetzt wurde. Eine erste Übersetzung von R. Sternberg war bereits 1906 in Berlin erschienen.

Neuübersetzungen bzw. Neuausgaben von modernen Klassikern nach 1945

Dem eben genannten Emants-Übersetzer Gregor Seferens kommt schon seit längerem das Verdienst zu, durch Erst- oder Neuübersetzungen von Klassikern wesentliche Werke des Kanons der niederländischen Literatur für heutige Leser neu zugänglich gemacht zu haben. Dies gilt auch aktuell für zwei Nachkriegsklassiker, die zur Buchmesse in einer Neuübersetzung aus seiner Hand erscheinen: Hella S. Haasses indonesisches Kolonialdrama Der Schwarze See (Lilienfeld Verlag; nl. Oeroeg, 1948), dessen erste Übersetzung von Maria Csollány erst 1994 bei Rowohl erschienen war, und Harry Mulischs früher Roman Schwarzes Licht (Wagenbach, nl. Het zwarte licht, 1956), dessen deutsche Erstübersetzung von Bruno Loets 1962 im Nannen Verlag herauskam.

Der im niederländischen Kanon höchstplatzierte Autor der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der in Deutschland lange Zeit verkannte Willem Frederik Hermans. Von seinem bedeutendsten Roman Die Dunkelkammer des Damokles über Schuld und Verstrickung im 2. Weltkrieg, (nl. De donkere Kamer van Damocles, 1959) bringt der Aufbau Verlag einer neue Hardcoverausgabe der Übersetzung von Waltraud Hüsmert, die erstmals 2001 bei Kiepenheuer in Leipzig erschienen war.

Abschließend ist auf drei klassische flämische Autoren der Nachkriegszeit hinzuweisen. Ebenfalls im Aufbau Verlag erschien eine Neuausgabe der vor einigen Jahren durch eine Empfehlung Elke Heidenreichs zum Sensationsbestseller gewordenen Buches Käse von Willem Elsschot (nl. Kaas, 1946), aus dem Niederländischen von Agnes Kalmann-Matter und Gerd Busse, der auch ein Nachwort beigesteuert hat.

Die deutsche Erstübersetzung eines kanonisierten Autors legt der Übersetzer Ilja Braun mit Louis Paul Boons parodistisch-pornographischer Erzählung Mieke Maaikes obszöne Jugend (Alexander Verlag; nl. Mieke Maaike’s obscene jeugd, 1972) vor, einem nicht kanonisierten Werk im Gegensatz zu seinem Autor, der mit mehreren Werken, vor allem aber mit seinem mehrfach auch ins Deutsche übersetzten Roman De kapellekensbaan (dt. zuletzt Der Kapellekensweg, Luchterhand, 2002, übersetzt von Gregor Seferens) fester Bestandteil aller Kanonkataloge der niederländischen Literatur ist.

Dies gilt selbstverständlich auch für die letzte hier anzuzeigende Neuausgabe, die der Verlag Klett-Cotta als seinen Beitrag zum Ehrengastprogramm vorlegt: Hugo Claus‘ inzwischen auch international zum modernen Klassiker gewordener Roman Der Kummer von Belgien, der vielen als bedeutendstes Werk der niederländischen Literatur der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt (in Waltraud Hüsmerts zuerst 2008 im selben Verlag erschienenen Übersetzung; nl. Het verdriet van België, 1983).

Bleibt zu hoffen, dass nicht nur die aktuellen Neuübersetzungen im Rahmen des Ehrengastauftritts der Niederlande und Flanderns die verdiente Aufmerksamkeit beim deutschen Lesepublikum finden, sondern auch die hier vorgestellten klassischen Werke, die allesamt zu dem großen literarischen Erbe gehören, das Flandern und die Niederlande teilen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen