Ideale werden mitgebaut

Arbeiterwohnen im Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule

Von Kim KannlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Kannler

Erleuchtet in der Vitrine des Wohnungsbaumuseums „Het Schip“ in Amsterdam steht eine niederländische Übersetzung des Buches von Walter Crane, reich verziert in Schwarz und Gold, sein Titel: Kunst und Gesellschaft (1903). Illustrator und Autor Crane rückt darin um die Jahrhundertwende und als Reaktion auf die sich ausbreitende Massenproduktion die Verflechtung von Kunst, Design und Wohnen buchstäblich ins Licht und betont die Rolle des (Kunst-)Handwerks als Mittler, so als ahne er die Situation im folgenden Jahrhundert: Bei Design und Wohnen denkt man heutzutage zunächst an Ikea und die schicken Möbeleinrichtungs- und Designläden, die zuhauf in sogenannten ‚Einkaufsstädten‘ zu finden sind. Je nach Geschmack und Budget lässt sich die Inneneinrichtung der Wohnung oder des Hauses gestalten und damit individuelle Charakterzüge und Anschauungen nach außen tragen – frei nach dem Motto „Zeig mir deine Wohnung und ich sag‘ dir, wer du bist“. Abgesehen davon, dass diesbezüglich Cranes Ansichten und die der Gegenwart gegenläufig sind, soll im Folgenden der Verbindung dieser Gedanken nachgegangen werden, die sich bei näherer Betrachtung des niederländischen Buchtitels kunst en samenleving ergeben. Denn „Samenleving“ bedeutet „Gesellschaft“, oder wortwörtlicher übersetzt „Zusammenleben“. Auf den Kontext des Buchinhalts bezogen lässt sich dann der Schwerpunkt der Beziehungen von Kunst und Wohnen im gesellschaftlichen Zusammenleben sehen. Demnach sind nicht nur die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten in ihren unendlichen Kombinationen von Bedeutung, sondern auch, wie sie ihre Platzierung in einer sozialen Gemeinschaft finden und wiederum auf diese zurückwirken.

Im Gegensatz zu der Wechselwirkung von Einrichtungsdesign und Bewohnern, werden nur wenige Gedanken dazu angestellt, wie bestimmte Architekturstile und stadtplanerische Entscheidungen die Bewohner und ihr Wohnen innerhalb der urbanen Gemeinschaft beeinflussen. Denkt man beispielsweise an die typischen schmalen Häuser in Amsterdam entlang der Innenstadtgrachten und an ihre großen unverstellten Fenster, durch die Touristen im Vorbeigehen gerne einen Blick auf die Wohnzimmer erhaschen, dann folgt darauf oft die Beobachtung, wie gelassen, offen und lebensfroh die Amsterdamer doch sind. Überspitzt formuliert könnte das heißen: Offene, große Fenster (als Gestaltungsentscheidung) suggerieren Freundlichkeit und Offenheit. In einem Gedankenexperiment kann man die Leute nun durch ein weniger attraktives Viertel mit dunklen schmalen Gassen laufen lassen. Würden sie den gleichen Eindruck haben? Natürlich lässt sich diese Kausalität auch umdrehen: Nach bestimmten Bedürfnissen und Vorlieben der Bewohner werden Häuser lichtdurchflutet und weiträumig gebaut. Der städtebauliche Prozess ist – idealerweise – immer eine Aushandlung zwischen Bürgern und Planungsorganen der Stadt (oder Privatakteuren). Je nach Situation richtet sich das Bauprojekt vermehrt nach den Bedürfnissen der Bürger oder, und das ist weit häufiger der Fall, nach stadtpolitischen Interessen.Zentral wird dabei die Frage, wer als Bürger, mithin als der Mitsprache berechtigt definiert wird, und welche Handlungsmöglichkeiten ihm/ihr dabei zugetragen werden.

Deutlich wird das vor allem im historischen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts, als die Stadt stark anhand von Gesellschaftsschichten gegliedert war und Mitbestimmung und Bürgerinitiativen noch in den Kinderschuhen steckten.[1] Ein wichtiges Beispiel dieser Aushandlungsprozesse stellt das Wohnungsbauprojekt „Het Schip“ (niederl. für „das Schiff“) in Amsterdam dar. Realisiert durch den Geschäftsmann und Politiker der SDAP (Sozial-Demokratische Arbeiterpartei) Floor Wibaut sowie den Architekten Michel de Klerk sollte „Het Schip“ ein Wohnblock werden, der Arbeitern ein Recht auf „gutes Wohnen“ einräumt und im Vergleich zu den oft als ‚Slums‘ bezeichneten, zu kleinen und schlecht angebundenen Arbeiterwohnungen eine deutliche Verbesserung der Wohnqualität darstellt. Doch die Siedlung unterscheidet sich in einem weiteren Punkt von anderen Arbeitervierteln seiner Zeit, wie beispielsweise „de Pijp“ und „Staatsliedenbuurt“. Die Besonderheit von „Het Schip“ ist, dass Wibaut damit seine Vision verfolgte, Arbeitern nicht nur qualitativ guten, sondern auch ästhetischen Wohnraum zu ermöglichen. Mit Blick auf die heutige Zeit ist es selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht üblich, einfache und notwendigerweise auch günstige Wohnquartiere mit bekannten Architekten oder nach einem ausgearbeiteten künstlerischen Anspruch zu bauen. Umso mehr musste das Projekt für Wibauts politische Zeitgenossen als ein sehr außergewöhnliches Unterfangen erscheinen, wenn sie kommentierten: „Müssen Arbeiter so luxuriös wohnen?“.[2] Diese Frage sagt bereits viel über die damalige Charakterisierung und die Position der Arbeiterschaft aus: zweckdienlich, untergeben und nicht gebildet genug, das Schöne und Luxuriöse anzuerkennen. Dem standen die Pläne für „Het Schip“ entgegen.

Im Nord-Westen Amsterdams zwischen dem Gewässer Ij und der ehemaligen Gasfabrik wurde „Het Schip“ als dritter und letzter Wohnblock der Spaarndammer Nachbarschaft von Michel de Klerk 1920 entworfen und ist im Stil der experimentierfreudigste. Der Bau wird oft als Höhepunkt der zweiten Phase der Amsterdamer Schule, eines niederländischen Architekturstils, gesehen, in der sich de Klerk in seiner Formsprache vom Traditionalismus Hendrik Berlages absetzt. Seinen Namen verdankt der fächerartige Gebäudekomplex der langgestreckten, horizontalen Linienführung seiner Klinkerfassade, auf der zwei Türme thronen, wie Schornsteine auf dem Rumpf eines Schiffes. Die abgerundeten Kanten und schwungvollen Erker bilden ein abwechslungsreiches Gesamtbild und tragen zur organischen Dynamik entsprechend des expressionistischen Baustils bei. An vielen Stellen der Fassade finden sich kleine Steinskulpturen von Hildo Krop, einem bekannten bildenden Künstler, dessen figurale Ornamente mit zumeist sozialistischer Symbolik sich durch ganz Amsterdam ziehen. Krops Überzeugung war es, Kunst für Jedermann mit einer einfach verständlichen Symbolsprache zu produzieren. Es war daher nur konsequent seine Skulpturen in das Wohnquartier aufzunehmen, sollte es nach Wibaut doch selbst eine Art Kunstwerk für alle – einen „Arbeiterpalast“ – darstellen.

Die besondere Plastizität des Gebäudes, die sich vor allem an künstlerische Einflüsse der Bildhauerei anlehnt, hebt die Verwendung seiner Materialien und den handwerklichen Prozess hervor. Eine zunächst paradox anmutende Ästhetik, in der zum einen das Handwerk des Arbeiters erhoben, aber zum anderen der Arbeiter selbst als mehr als nur eine Produktionsmaschine gesehen wird, indem man ihm eine ästhetische Seite zugesteht. Wie eng hier Ästhetik und ideologische Vorstellungen verwoben sind, wird deutlich, wenn Wibaut seine Hoffnungen bezüglich des Wohnungsprojektes formuliert, dass „schönes Wohnen“ auch den „guten Menschen“ hervorruft. Damit meint er den gebildeten mündigen Bürger, der schließlich in der Lage ist, gegen die Privatinteressen der Unternehmer und der konfessionellen Politik aufzubegehren. Diese Intention findet sich auch in einigen funktionalen Eigenschaften des Gebäudes wieder. So wurden ebenfalls eine Schule und eine Post mit Telefonzelle in den Wohnkomplex integriert. Postgebäude waren noch nicht für jeden zugänglich und sehr elitär, daher stellte der plötzliche Zugang zu Kommunikationstechniken einen bedeutenden Fortschritt für viele Leute dar. Weiterhin trugen einfache, aber essentielle Neuerungen wie Elektrizität in Haushalten dazu bei, dass Bewohner sich durch Lesen weiterbilden konnten. So zumindest die Idee. Die mit Abstand meiste Zeit ging wahrscheinlich für den Erwerb und der Sicherstellung des finanziellen Überlebens der Familie verloren.

Abgesehen vom oft erwähnten philanthropischen Zug Wibauts war „Het Schip“ Schauplatz für einen politischen Ideenkampf, der sich gegen das bürgerliche Wohnen der Kaiserzeit und damit verbundene gesellschaftliche Anschauungen richtete. Die raue Ziegelsteinfassade, die um den Innenhof und die Gärten herum nach sozialistischem Gedanken zu einer horizontalen Einheit verläuft, steht im starken Kontrast zu den individuellen Häusern des 19. Jahrhunderts. Wie bereits erwähnt stießen Wibaut und de Klerks Bebauungspläne auf den Widerwillen der anderen Politiker. Obwohl gesetzliche Bestimmungen Zuschüsse für Wohnungsbauten vorsahen (neue Wohnflächen waren durch die fortschreitende Industrialisierung und den Zuzug in die Städte dringend benötigt), war „Het Schip“ durch seine architektonische Extravaganz ein teures Unterfangen, das auf die großzügige Spende des Unternehmers Wibaut angewiesen war. In dieser Hinsicht zeigen sich Parallelen zu anderen Unternehmern, wie z.B. der Krupp-Familie in Essen, die eigene Arbeitersiedlungen bauten und damit einem kleinen Teil der Arbeiterschaft bessere Lebensbedingungen ermöglichten, als in den anderen, überbelegten Armensiedlungen gegeben waren. Doch während die Kruppsiedlungen unter dem Zeichen der Kontrolle ihrer Arbeiterschaft gebaut wurden, war de Klerks „Gesamtkunstwerk“ als Ermächtigung dergleichen gedacht. Es handelte sich nicht nur um eine ästhetische Entscheidung, sondern mit ihr auch um eine Aushandlung über die gesellschaftliche Verortung der Arbeiter als einigermaßen gleichberechtigte Bürger der Stadt.

Es sind grundlegende Fragen, die Wibauts und de Klerks Wohnungsprojekt (beabsichtigt oder nicht) zu beantworten suchte: Wer sind ‚die Arbeiter‘? Was brauchen sie? Was sind ihre Geschmäcker und Vorlieben? Sind sie soziale Wesen und brauchen daher Innenhöfe, um miteinander zu kommunizieren? Die Antworten wurden dann in Form von Bedeutungszuweisungen und Rahmungen in das Stadtleben miteingebaut. Auch wenn die Siedlung letzten Endes nicht zur erwünschten gesellschaftlichen Anerkennung der Arbeiter führte, war sie damit dennoch ein wichtiger Impuls für die weitere Planung von Stadtvierteln und die Sichtbarkeit ihrer Bewohner. Auf eine gesellschaftlich vorherrschende Position folgte Wibauts Gegenposition und, um den Gedanken weiterzuspinnen, eventuell sogar die eigene Position und Mitsprache der Bewohner.

[1] Auch wenn diese Situation durch Wahlen und Bürgerinitiativen heutzutage demokratischer geworden ist, für einige Gruppen in der Bevölkerung, wie Migranten, Flüchtlinge und Obdachlose, ist die Verortung in der Stadt immer noch mit zentralen Fragen der (nicht vorhandenen) Mitbestimmung verbunden.

[2] Dokumentarfilm „Wie bouwt? Wibaut!“ der Geschichtsreihe „Andere Tijden“, Koproduktion von VPRO und NPS, 2009.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen