Das Vermächtnis

Noam Chomsky holt aus zum nächsten großen Wurf und verbindet in „Was für Lebewesen sind wir?“ seine Sprachtheorie mit biologischen Erkenntnissen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man ein einflussreiches Werk geschaffen hat, Begründer der modernen Linguistik und einer der Gründerväter der Kognitionswissenschaften ist, könnte man sich im hohen Alter in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehen und dem Nachwuchs das Feld überlassen. Nicht so Noam Chomsky. Der 87-jährige ist ein unermüdlicher Denker, Kämpfer und Antreiber, der unbequem ist, sich einmischt und Fragen stellt.

Mit „Was für Lebewesen sind wir?“ legt er nun eine Art Vermächtnis vor. Dabei handelt es sich um einen Essay, in dem er alle seine großen Themen zusammenführt. Der Klappentext bezeichnet es als „die philosophische Summe seines Lebens“ – und hat insofern Recht, als dass Chomsky hier seine Sprachtheorie in Verbindung setzt mit Fragen der Biologie und sich so auf die Suche nach dem Wesen des Menschen macht.

Welche Herausforderungen dahinterstecken, skizziert der Sprachphilosoph Akeel Bilgrami ausführlicher. Ausgangspunkt von Chomskys eigenen Überlegungen ist – natürlich – die Sprache. Ein nach Chomsky angeborener Mechanismus des Menschen, der unser Denken bestimmt. Chomsky fragt aber auch nach den – durch Sprache gesetzten – Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Der Mensch kann nur denken, was ihm die menschliche Sprache zu denken erlaubt. Dass uns aufgrund ihrer endlichen Fertigkeiten auch einige Geheimnisse der Natur verborgen bleiben, arbeitet Chomsky in diesem Essay ebenso heraus wie die kreative Freiheit der Sprache, die – gepaart mit dem menschlichen Freiheitsinstinkt und seinem Hang zum Aufbegehren gegen Herrschaften – ein Instrument zur ständigen Entfaltung ist. Insofern steht Chomsky Ansatz hier in der libertären Tradition von etwa John Stuart Mill, Alexander von Humboldt und Rudolf Rocker, die den Menschen ebenfalls als anarchisches Lebewesen begreifen.

Chomskys Bestreben, die Fragen, die ihn ein Leben lang beschäftigt haben, in Bezug zueinander zu setzen und ihnen dadurch Legitimität zu verleihen, ist ein fruchtbarer Nährboden für große Gedanken. Wie Chomsky die Auswirkungen der eigenen wissenschaftlichen Errungenschaften verwebt mit Lehren der Wissenschaftsphilosophie, Metaphysik, Erkenntnistheorie, politischer Philosophie und Moralphilosophie ist verblüffend und überaus lehrreich. Seine Überlegungen, die natürlich sprachlich nachvollziehbar und gedanklich lückenlos vorgetragen werden, formen ein stimmiges Bild des Menschen als ein durch Sprache mit seiner Umwelt verbundenes soziales Lebewesen.

Mit umfassendem disziplinübergreifendem Allgemeinwissen und einer spielerischen Leichtigkeit in der Formulierung seiner Gedanken ist Chomsky ein vielschichtiges, zugleich äußerst unterhaltsames Buch gelungen. Kleine Anekdoten unterbrechen die großen Theoriekonstrukte. Förmlich spürt man bei aller Seriosität seine diebische Freude über das Gelingen der Kontextualisierung seiner eigenen Wissenschaft. Der Autor räumt zwar ein, nicht „verblendet genug“ zu sein, um „eine befriedigende Antwort“ auf die Frage im Buchtitel geben zu können. Sein Ansatz ist es vielmehr, einige neue Erkenntnisse anzuführen, durch die sich „Hürden aus dem Weg“ räumen lassen, die die Forschung behindern. Das ist sympathische Bescheidenheit, aber weit gefehlt. Die New York Times trifft es schon genauer, wenn sie schreibt, dieses Werk sei „der Meistervortrag eines Meisters“.

Titelbild

Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Schiffmann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
249 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586945

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