Ein funkelndes Sammelsurium

Charles Dantzigs meisterliches Werk über „Das Meisterwerk“

Von Wolfgang HerbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Herbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gracq ist ein Mann, der nachdachte, bevor er schrieb, oder während er schrieb, was bei Weitem nicht gang und gäbe ist.“ Dieses Attest stellt Dantzig dem Schriftsteller und Essayisten Julien Gracq aus. Und dieses Prädikat wollen wir Dantzig selbst angesichts des vorliegenden Werks verleihen. Es ist ein hochreflektiertes, geistig stimulierendes und vergnügliches Buch – kein Meisterwerk wohl, aber ein meisterlich komponiertes und handwerklich brillantes Werk. Es braucht ein wenig Courage, um über Meisterwerke zu sprechen; in Zeiten, in denen flugs mit dem Etikett „elitär“ gewisse Kunstbegriffe desavouiert werden, aber ephemere, hingefetzte Graffiti als Kunstwerke oder Eintragungen in Internet-Blogs als Literatur figurieren dürfen. Der Onus, die Auszeichnung „Meisterwerk“ rechtfertigen zu müssen, überschattet stellenweise dieses Werk, aber nicht in nachteiliger Weise. Es ist keine Verteidigungsschrift, sondern eine Hymne.

Vorab: Das Buch bietet keine literaturwissenschaftliche Analyse und weist daher keinen Namensindex oder Literaturverzeichnis auf, obgleich es im Text eine Myriade von Anspielungen und Evaluierungen von Schriftstellern und ihren Werken gibt. Dabei gibt es eine leichte Lastigkeit Richtung französischer und englischer, notabene britischer Literatur, wenngleich der Autor immer wieder globale Bögen spannt. Dem Meisterwerk nähert sich Dantzig nicht mit dem chirurgischen Besteck eines Wissenschaftlers, sondern mit Intuition, Einfallsreichtum, Enthusiasmus und ja: Liebe. Aber auch mit großem Wissen um die Literaturgeschichte, in der er dem Begriff „Meisterwerk“ historisch und linguistisch nachspürt, von Homer über Petrarca bis in die Gegenwart.

Das Buch kulminiert gar in einem Versuch einer Definition des Begriffs „Meisterwerk“, Destillat dieses funkelnden Sammelsuriums an Einfällen, Einkreisungen und Abgrenzungen. So wie man jedoch den Schluss eines guten Films schon in der Vorschau nicht verraten sollte, bleibt die Definition hier verschwiegen. Apropos Film: wenngleich im Wesentlichen dem Meisterwerk in der Literatur nachgegangen wird, gibt es Ausflüge ins Theater, ins Kino (Quentin Tarantino, Orson Welles und Walt Disney!) und in die Malerei (Francisco Zurbarán). Nicht immer will man allen Propositionen des Autors folgen. Mit Louis-Ferdinand Céline oder James Joyce etwa wird hart ins Gericht gegangen – zum Trost all jener wiederum, die deren Werke einfach nicht zu Ende lesen konnten.

In 72 Kurzkapiteln, Kolumnen oder Pirschgängen umkreist er virtuos den Begriff oder das Ideal eines Meisterwerks. Und in jedem dieser Abschnitte unterschiedlicher Länge erwartet den Leser ein Geistesblitz oder ein Bonmot. Ihre Überschriften sind bereits Verheißungen und zuweilen schon inhaltliche Kondensate. Da gibt es beispielsweise folgende: „Es gibt einen Kanon“, „Kriterien für ein Meisterwerk“, „Meisterwerke stehen nur für sich“, „Meisterwerke, die verkannt bleiben sollten“, „Es gibt keine Abschweifungen“, „Das unlesbare Meisterwerk“, „Meisterwerke als Schulstoff“, „Auch Meisterwerke vergehen“. Damit dürfte die Neugier wohl geweckt sein und diese anhand dieses wohlfeil gebundenen Buches zu stillen, rentiert vorbehaltlos.

Nicht weniger apodiktisch klingen manche Sätze, mit denen das Meisterwerk charakterisiert wird: „Meisterwerken haftet immer etwas von einem Wunder an“, „Die Leser sind die Hüter der Meisterwerke“, „Ein Meisterwerk ist die Verkörperung des Absoluten“, „Ein Meisterwerk ist ein Anarchist, der eine Bombe gegen die Faulheit legt“, „Meisterwerke schleichen sich von hinten an“, „Ein Meisterwerk ist immer neu. Es entspringt keiner Mode, es kreiert sie“, „Meisterwerke retten die Menschheit davor, im Morast des Stumpfsinns zu versinken“, „Meisterwerke machen Mut“ oder: „Ein Meisterwerk weckt die Liebe zum Leben“. Auch Banalitäten finden sich wie: „Ein Meisterwerk bezwingt die Zeit“ oder: „Meisterwerke regen die Phantasie an“. Das hingegen leistet vorliegendes Buch ebenfalls. Die darin dargebotenen Ideen wiederholen sich zuweilen, aber das ist verzeihlich, wenn man das Werk als Etüdensammlung, Fingerübung oder als Variationen über sein Hauptthema und Leitmotiv versteht. Elegant improvisieren kann der Autor allemal.

„Apropos Meisterwerk“ wäre wohl die Übersetzung des französischen Originaltitels (Á propos des chefs-œuvre) und passender gewesen als der deutsche Schlag mit der Faust auf den Tisch: „Das Meisterwerk!“ Apropos: damit leitet man ja gerne Sätze ein, mit denen man einen eben aufgeblitzten Einfall loswerden will. Und assoziativ, kapriziös und misstrauisch umzingelt der Autor „das Meisterwerk“, bis eine Girlande an Parerga und Paralipomena entsteht. Es erweckt den Eindruck, als ob er über eine lange Weile Notizen für feuilletonistische Anmerkungen gesammelt und diese nun in diesem Konvolut zusammengestellt hat. Daher kann man allerdings die einzelnen Kurzkapitel querfeldein und je nach Laune in beliebiger Reihenfolge goutieren.  

Die kurzweilige und intellektuell appetitanregende Lektüre macht Lust darauf, ein Meisterwerk, wenn schon nicht zu schreiben, so doch: zu lesen. Wohlan!

Titelbild

Charles Dantzig: Das Meisterwerk.
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869309545

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