Ein Gespenst nicht nur in Europa

Peter Alter erklärt „Nationalismus“ von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Essay von Peter Alter ist ein düsteres Krisen- und Aufklärungsbuch mit traurigen Untertönen. Der Autor selbst erläutert dies insofern, als er eine Krise Europas angesichts des um sich greifenden Nationalismus und erfolgreicher populistischer Bewegungen diagnostiziert. Zugleich möchte er sein Werk auch als ein mahnendes Instrument zur Aufklärung verstanden und gelesen wissen: Der Leser soll daran erinnert werden, welche Verbrechen im Namen des Nationalismus geschehen sind, damit diese Untaten keine Chance erhalten, sich zu wiederholen.

Alter ist ein ausgewiesener Kenner der Materie, der sich jahrzehntelang um das Verstehen des Phänomens „Nationalismus“ verdient gemacht hat. Die umfangreichen Kenntnisse merkt man nicht nur dem Anmerkungsapparat oder dem Schriftenverzeichnis an, sondern wird bereits im Inhaltsverzeichnis deutlich und schließlich beim Lesen am souveränen Stil. H ervorzuheben ist die sprachliche Eleganz seiner Darstellung, die eines Essays würdig und ein intellektuelles Vergnügen ist.

Der Autor teilt seinen Text in insgesamt sechs Kapitel: auf die ausführliche Darstellung des „Kult[es] der Nation“ folgt ein kurzer Abschnitt über Nationalbewusstsein und Nationsbildung. Im dritten Kapitel untersucht Alter die historischen Formen des Nationalismus, um diese anschließend in ihrer konkreten Ausprägung wie etwa Denkmälern zu erläutern. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts führt Alter als den Triumph des Nationalstaates an, um im letzten Kapitel auf die Phänomene „Nation und Nationalismus in Nachkriegseuropa“ einzugehen.

Der Vorzug von Alters Darstellung ist seine Sensibilität für die Vielfalt und Gegensätzlichkeit des untersuchten Phänomens sowie des Umgangs mit ihm. So bemerkt er am Anfang völlig zu Recht die Wirkmächtigkeit des Nationalismus und seine Durchschlagskraft, die ihn wie ein Glaubenssystem erscheinen lässt, während zugleich seine „intellektuelle Dürre“ auffällt, da er keine großen Denker ausweisen kann, die ein ausgeklügeltes Denkgebäude des Nationalismus aufgestellt hätten. Alter kennt natürlich die moderne Nationalismusforschung (Anderson, Gellner, Hobsbawm), geht aber in seinen Thesen nicht so weit wie die erwähnten Autoren. So betont er zwar wiederholt den modernen Charakter des Nationalismus und spricht durchaus von der Nation als einem Konstrukt. Andererseits macht er sich aber für die mittelalterlichen Wurzeln der Nation stark und verkneift sich auch so manche Seitenhiebe nicht, wenn er etwa die Thesen Andersons als eine „extreme Position“ beiseiteschiebt.

Den Nationalismus kennzeichnet er einerseits als eine progressive Ideologie der Befreiung, Emanzipation und Integration, andererseits gehörten zu ihm aber auch Unterdrückung und Verbrechen an (ethnischen und religiösen) Minderheiten. Es gibt nicht den Nationalismus als einheitliche Lehre, sondern Nationalismen bzw. unterschiedliche Erscheinungsformen. Dabei überdecken diese häufig die politischen und sozialen Probleme eines Landes und übernehmen unterschiedliche Funktionen im Dienste der Machteliten. Weil der Nationalismus dabei diskreditiert worden sei und das Adjektiv „nationalistisch“ eine eindeutig negative Konnotation erfahren habe, benutze man neuerdings den Begriff „Patriotismus“, um eine „zulässige Vaterlandsliebe“ zu legitimieren.

Alter stellt vor allem zwei Formen des Nationalismus gegenüber, die sich auf gegensätzliche Nationsbegriffe zurückführen lassen: einen voluntaristischen, liberaldemokratischen Nationsbegriff und einen deterministischen, undemokratischen und irrationalen. Aus diesen Spielarten resultierten die liberale und die extreme Form des Nationalismus, die durch Nationalbewegungen in den Nationalstaaten zum Durchbruch und an die Macht gelangten.

Beeindruckend an der Darstellung Alters sind in diesem Zusammenhang die Verweise auf Zahlen: Während es zwischen 1870 und 1914 weltweit etwa 50 souveräne Staaten gegeben hat (davon 16 in Europa), hat der Völkerbund bei seiner Gründung im Jahre 1920 41 Mitglieder gezählt. Den Vereinten Nationen gehörten 1960 dagegen 82 Staaten an, 1984 bereits 161 und 2015 schließlich 193 Staaten. Als Grund hierfür nennt Alter die den ihrer eigenen Identität bewussten Ethnien innewohnende Tendenz, für sich einen Nationalstaat zu beanspruchen und zu erkämpfen. Deshalb sei auch in Europa mit weiteren Staaten zu rechnen, wenn man etwa an Katalanen oder Schotten denkt. Zuzustimmen ist freilich Alters Bedenken hinsichtlich der tatsächlichen Realisierung von Nationalstaaten. Der Nationalstaat sei eher Wunsch und Utopie, weil es den „reinen“ und homogenen Nationalstaat nicht geben könne.

Auf den letzten Seiten schlägt Alter den Bogen zurück zum Anfang seines Essays, wo er von der Krise Europas angesichts der Nationalismen spricht. Ganz offenbar sei es den allermeisten Menschen nicht zuzumuten, nicht in den Kategorien eines (National-)Staats und in Nationen zu denken. Obwohl die modernen Medien den Abstand zwischen den Menschen verringert haben, seien der eigene Staat und damit auch die eigene Nation weiterhin der Bezugsrahmen geblieben, der Sicherheit und Orientierung gebe.

Dabei dürften die Deutschen, zitiert Alter eine Mahnung Thomas Nipperdeys aus dem Jahre 1990, nicht die anderen Nationen, „die ach so Rückständigen mit unserem Nicht-Nationalbewußtsein […] belehren. Am fortschrittlichsten und besseren, am postnationalen Wesen soll offenbar wieder einmal die Welt genesen, und man spürt die Arroganz der scheinbar so edlen Absagen an das Nationale. Wir sollten uns nicht erheben“. Denn im Gegensatz zu Deutschland bestimmten in anderen Ländern weiterhin nationale Werte, Errungenschaften und Vorstellungen nationaler Zusammengehörigkeit die gesellschaftlichen und politischen Diskurse. In vielen Staaten sei der Umgang mit dem Nationalen aus historischen Gründen viel offener und unverkrampfter. Solange man sich jedoch auf Werte einigen könne, die man als allgemeingültig ansehe, brauche man keine Angst vor nationalen, nationalistischen oder auch populistischen Bewegungen zu haben, die in den letzten Jahren immer größere Wahlerfolge verzeichneten, meint Alter.

Der Essay von Peter Alter ist belehrend im besten Sinne des Wortes: Er bietet Experten wie auch Studenten einen kurzweiligen, hervorragend strukturierten und beispielgesättigten Überblick über Geschichte und Formen des Nationalismus. Die Darstellung überzeugt durch seine passenden Zitate und besticht durch die Vielzahl der Verweise auf unterschiedliche Nationalbewegungen in West-, Mittel- und Osteuropa. Dass dabei manches zu kurz kommt oder nur angerissen wird, ist verständlich und nachvollziehbar, das Schriftenverzeichnis bietet dazu weiterführende Literatur. Somit ist der Essay uneingeschränkt zu empfehlen.

Titelbild

Peter Alter: Nationalismus. Ein Essay über Europa.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2016.
190 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783520713018

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