Am Reißbrett entworfen

Joel Dicker erzählt in seinem dritten Roman vom Zerfall einer Familie

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Joel Dicker vor drei Jahren seinen zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert vorlegte, war der weltweite Erfolg eigentlich schon vorprogrammiert. Alles an diesem Buch wirkte kalkuliert: Da schreibt ein Autor aus der Schweiz auf Französisch ein Buch, das sich las wie ein Produkt aus einem amerikanischen Creative-Writing-Kurs. Der Sprachduktus imitierte in fast schon genialer Weise Vorbilder von Paul Auster bis Jonathan Safran Foer. Der Handlungsort war, selbstredend, die amerikanische Ostküste, auch das Romanpersonal stammte von dort. Der Handlungsaufbau gehorchte der alten Paul Auster-Schule und präsentierte den bewährten Mix aus Kriminalgeschichte und Autorfiktion – ein bißchen Raymond Chandler, ein bißchen Roland Barthes. Fertig war das objektiv betrachtet nicht einmal so schlechte, wenn auch ungemein artifizielle Endergebnis: Ein spannendes Buch, das – auch hier dem zeitgenössischen amerikanischen Ostküsten-Roman nicht unähnlich – mehr versprach als es letztlich hielt. Bis zum Schluss wartete der kundige Leser auf einen Twist in Bezug auf die Autorfiktion, eine unerwartete Wendung, die das Gelesene ähnlich Austers New York Trilogy plötzlich in ein Barthes’sches Universum transportieren würde, in dem der Autor längst tot war und niemand so genau sagen konnte, wer die Rolle des Schreibers eingenommen hat. Leider war dem nicht so. Und gerade deswegen wurde das Buch, vor allem in Deutschland, zu solch einem großen Erfolg. 

In Die Geschichte der Baltimores, im Original auf Französisch erschienen, setzt Dicker auf Bewährtes, wagt aber, einen Schritt weiter zu gehen. Zwar emanzipiert er sich keineswegs von der sanften Creative-Writing-Ästhetik, aber er rückt das Thriller-Element in den Hintergrund und unternimmt den Versuch, eine Familiensaga um Betrug, Lügen und dem Zerbrechen von Lebensträumen zu schreiben, wie man sie in den vergangenen Jahren etwa von Jonathan Franzen mehrfach serviert bekommen hat. Erzählt wird die Geschichte des Goldman-Clans, der sich einst in eine Montclair- und eine Baltimore-Fraktion getrennt hat. Die Montclair-Goldmans, deren Spross der Erzähler des Romans ist, gehören zur unteren Mittelklasse, kommen eher schlecht als recht zurecht und leben ein ereignisloses, aber solides Leben. Die Baltimore-Goldmans hingegen schwelgen im Luxus; der Familienvater ein landesweit renommierter Rechtsanwalt, die Mutter eine prominente Ärztin, der Sohn ein Wunderkind und das aufgenommene Pflegekind Woody ein werdender Footballstar. Marcus, der mittlerweile rund 40-jährige Erzähler, ist in seiner Kindheit und Jugend neidisch auf den Glanz der ‚Baltimores’, wie er sie nennt, er verbringt all seine Ferien mit den Cousins und deren immer hilfsbereiten, netten, vollkommen uneitlen Eltern. Er schämt sich für sein ärmliches, unspektakuläres Elternhaus. Doch als die drei aufs College gehen, beginnt die Fassade der ‚Baltimores’ zu bröckeln und schreckliche Dinge werden passieren, von denen der Leser in diesem kunstvoll konstruierten Spannungsbogen erst nach und nach erfährt. 

Der Roman ist ungemein spannend, rasant geschrieben, ein wahrer ‚Page-Turner’, ohne jemals flach oder oberflächlich zu wirken; im Gegenteil, die Geschichte um Aufstieg und Fall hat fast mythische Dimensionen und bedient sich frei an zahlreichen Stoffen und Motiven der Weltliteratur. Was stört also an dem Buch? Vielleicht ist es die Tatsache, dass nichts an Die Geschichte der Baltimores originell ist, dass es sich liest, als sei es am Reißbrett entworfen worden. Mehr noch: Man gewinnt den Eindruck, als sei hier kalkuliert ein Buch ‚produziert’ worden, das einer Computerarithmetik folgt, die besagt, welche Komponenten ein Bestseller benötigt, um nicht nur viele Exemplare an Bahnhofsbuchhandlungen zu verkaufen (und so vielleicht im Meer der Thriller untergeht), sondern auch das Crossover ins seriöse Feuilleton zu schaffen vermag. Es ist erschreckend, wie perfekt dieses Vorhaben funktioniert: Wie schon beim Vorgängerroman weiß der Leser zu jeder Zeit, wohin sich die Geschichte entwickeln wird, und trotzdem keimt in ihm immer wieder die Hoffnung auf, man möge es doch mit einem postmodernen Vexierspiel zu tun haben. Denn auch Marcus ist natürlich Schriftsteller und das vorliegende Buch ist die Entstehungsgeschichte seines eigenen Buchs über die Goldmans, das wiederum seinen Erstlingsroman über jene Goldmans, bei dessen Entstehung er noch nicht wusste, welch dunkles Geheimnis sie verbergen, ablösen soll. Doch zu keinem Zeitpunkt wird diese narrative Möglichkeit tatsächlich ausgekostet, etwa die Möglichkeit eines unzuverlässigen Erzählers suggeriert. So tummeln sich die allseits bekannten Figuren aus Auster-, Safran Foer- oder Franzen-Romanen auch in Die Geschichte der Baltimores. Alles ist kalkuliert und steril. So fragt man sich anfangs, warum er den Roman nicht einfach Die Geschichte der Goldmans genannt hat und warum deren reiche Fraktion gerade in der gefährlichsten Stadt Amerikas und nicht im mondänen New York wohnen müssen, bis es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Natürlich, Baltimore gilt in der amerikanischen Gegenwartskultur neben Detroit als Symbol für urbanen Verfall und den moralischen Untergang der USA, ist aber aufgrund der epischen TV-Serie The Wire europäischen Lesern präsenter als die Autostadt in Michigan. 

Wer sich unterhalten möchte und die Zähne zusammenbeißen kann, kann diesem Buch durchaus eine Chance geben. Im Grunde bleibt aufgrund des höchst artifiziellen Charakters des Erzählten und der nicht vorhandenen Originalität allerdings ein eher betrübliches Fazit. Und das Erstaunen darüber, dass ein Autor damit durchkommt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores. Roman.
Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große und Andrea Alvermann.
Piper Verlag, München 2016.
512 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057646

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